Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

1. Tage und Nächte im Dezember 1990
- eine neue Qualität wird sichtbar

Arme Menschen und insbesondere Wohnungslose besitzen kaum mehr als das, was sie am Leib tragen und haben selten genug Gelegenheit, etwas Bleibendes zu produzieren; allzuhäufig stellt sich stattdessen Schwund ein, das meiste geht irgendwo verloren auf den vielen kleinen und großen Fluchten. Die ausgewiesenen Wegstrecken zwischen Wärmestube und Notübernachtung, Weihnachtsfeier und Kleiderausgabestelle, ALDI und Sozialamt, ambulanter medizinischer Notversorgung und Suppenküche erfordern Kondition, gutes Schuhwerk, profunde Fahrplankenntnisse und vor allem: permanente Mobilität. Alle sind willkommen, aber nur wenig wird geboten: fade Suppen, ein paar Socken oder Unterhosen, ab und an ein Päckchen Tabak oder für ein paar Tage ein Bett (Variationen zum Thema: "Läusepensionen"), manchmal ein bißchen Ansprache, Beratung oder gar: Unterhaltungsprogramm. Wenn es mit der Kälte ganz schlimm kommt, werden Bunker oder U-Bahnhöfe aufgemacht - oder auch nicht. Zum dauerhaften Verweilen lädt diese Art der Hilfen wahrlich nicht ein - und ist meistens auch nicht so gemeint. Armen Leuten bleibt in der Regel keine andere Wahl. Doch ganz umsonst ist der ganze Zauber trotzdem nicht zu haben: Wer nicht rechtzeitig kommt und gehörig drängelt, ist doppelt angeschmiert, bleibt außen vor und darf zusehen, wie er die Kurve kriegt: vielleicht noch irgendwo ein paar Mark erbetteln und dann rauf auf die S-Bahn-Rutsche Richtung Erkner, um bis zum nächsten Morgen noch zwei, drei Stunden Schlaf zu erwischen.

Ein Leben draußen in der ständigen Gefahr, beraubt, überfallen oder angefakkelt zu werden. Wer Glück hat, darf es am nächsten Tag noch einmal versuchen. Derart durch die Mangel gedreht und schon bald völlig auf den Hund gekommen, haben Wohnungslose kaum eine andere Chance, als ungewollt das Vorurteil zu bestätigen, sie seien letztendlich selbst schuld, ihnen sei nicht zu helfen und sie hätten es nicht besser verdient. Und kommen Wohnungslose schließlich auf die naheliegende Idee, sich in leerstehenden Häusern, Wagendörfern oder sonstwo auf Dauer häuslich einrichten zu wollen: geräumt und vertrieben wird unter Garantie, früher oder später, denn nur im Vorbeirauschen darf Not sichtbar werden. Die sogenannte Winterhilfe für Wohnungslose: ein anderes Wort für einen kostensparend organisierten Kältetod auf Raten. Wenn nicht in diesem, dann im nächsten Winter. Und der kommt bestimmt.

Der Dezember des Jahres 1990 begann ungemütlich. Obwohl es zunächst tagsüber relativ freundlich war, heiter bis wolkig und mit Sonnenschein, fiel in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember Regen und Schnee, es wehte ein frischer Wind. In der darauffolgenden Nacht vom 5. auf den 6. Dezember sanken die Temperaturen bis 5deg. Celsius unter den Gefrierpunkt und erreichten am darauffolgenden 6. Dezember nur Tageshöchstwerte von plus 1deg. Celsius - aber der Wind nahm langsam ab. Eine solche Wetterlage war für die WetterbeobachterInnen am Metereologischen Institut nichts Außergewöhnliches, aber die Wohnungslosen, die irgendwo im Freien übernachteten, befanden sich in einer durchaus gefährlichen, kritischen Situation: Sich irgendwo im Freien, an einem ungeschützen Ort schlafen zu legen, war verbunden mit dem Risiko, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. An jenem Donnerstag, dem 6. Dezember 1990, lud das Diakonische Werk Berlin, einer der großen Träger von Angeboten für Wohnungslose, zu einer Pressekonferenz im Übernachtungsheim Franklinstr. 27 in Berlin-Charlottenburg ein. Am nächsten Tag berichtet Thomas KUPPINGER in der Tageszeitung Berlin:

"Pünktlich mit dem Winter zeichnet sich nun im Bereich der Hilfsangebote schon vor dem ersten Schnee ein totales Chaos ab:

Nichts spricht dafür, daß es nicht noch schlimmer kommt." (KUPPINGER 1990; fett im Original.). Der Beitrag erscheint unter der Schlagzeile: "Berlin: Hauptstadt der Obdachlosen. Diakonisches Werk meldet 16.000 bis 20.000 Obdachlose. Mehr als ein Drittel lebt ganz auf der Straße. Völliger Zusammenbruch der Sozialeinrichtungen im Winter wird erwartet. 250.000 DM Nothilfe vom Senat gefordert." (KUPPINGER 1990).

Die Proklamation Berlins als "Hauptstadt der Obdachlosen" an diesem 6. Dezember 1990, lange Zeit vor dem eigentlichen Hauptstadtbeschluß, verdeutlicht: Das Problem Wohnungslosigkeit erhält nicht nur, wie bisher auch schon, mit dem Beginn der kalten Jahreszeit eine besondere Dringlichkeit, sondern wird im Zuge aktueller Entwicklungen der deutschen Einheit möglicherweise eine der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen der 90er Jahre.

Wie auch immer, bei der Auseinandersetzung um das Ausmaß des Problems und seine Ursachen, zu Umfang und Konzeption der notwendigen Hilfeleistungen, und der öffentlichen Diskussion über die allgemeine Wohnungsnot in Berlin und der Bundesrepublik gerät die konkrete Situation der von Wohnungslosigkeit "Betroffenen" schnell an den Rand der Aufmerksamkeit - und wird, wenn überhaupt, nur verzerrt transportiert: In der öffentlichen Darstellung ihrer Not werden Wohnungslose häufig reduziert auf Einzelschicksale, individuelle Probleme, Katastrophen oder defizitäre Persönlichkeitsprofile. Solche fragmentarischen journalistischen Fallskizzen und Biografie-Stenogramme enthalten die Gefahr, eher zur Bestätigung denn zum Abbau vorhandener Vorurteile und Klischees beizutragen. In einer weiteren Variante wird das Unbegriffene wohnungsloser (Über-)lebensweise schnell zum Gegenstand romantischer Projektionen, zum Abbild unerfüllter Bedürfnisse. Die soziale Realität eines Lebens ohne Wohnung, mit dem Übernachtungs-, Straßen- und Bahnhofsselend, der Diskriminierung durch Behörden und Polizeivertreibung, dem beschränkten Handlungsraum überhaupt wird mißinterpretiert als Subkultur, umgedeutet als Ausdruck eines selbstgewählten Lebensstils. Die Suche nach Zigarettenkippen auf den Bahnhöfen, das Umherstehen mit der Schnapspulle, das abgerissene Outfit, das Fischen nach Eßbarem aus Mülltonnen, das Schnorren um ein bißchen Kleingeld wären demnach Merkmale für ein Leben in Freiheit und Sorglosigkeit, Unabhängigkeit und Ungebundenheit, einfach (!) so in den Tag hinein. Aber auch gängige verallgemeinernde Abstraktionen zur Kennzeichnung sozialer Lagen (arbeitslos - mittellos - wohnungslos - stigmatisiert - ausgegrenzt usw.) können die wirklichen Lebensverhältnisse und beschränkten Handlungsmöglichkeiten, subjektiven Wahrnehmungen und Deutungsmuster oft nicht adäquat fassen. Und schließlich: Eine Sichtweise, die Wohnungslose einzig als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse begreift, läuft Gefahr, sie zu Objekten des Hilfehandelns zu degradieren, ihnen Probleme extern zuzuschreiben und sie mit ihrer Not durch karitativ-sozialpädagogisch-normative Hilfestrukturen (z.B. Aufenthalt gegen Nüchternheit, Hilfe gegen Wohlverhalten, Wohnung gegen Therapie usw.) zu erpressen. Meistens resultieren daraus entsprechende Mechanismen der Ablehnung und Verweigerung ("Drehtüreffekt").

Dagegen ist das Wissen um die aktuelle Lebenslage Wohnungsloser, um den individuell-biografischen Prozeß im gesellschaftlichen Kontext, der in diese Lebenslage führte und das Wissen um die Formen der Bewältigung und Verarbeitung von Wohnungslosigkeit unabdingbare Voraussetzung für eine (soziale, sozialpolitisch engagierte) Arbeit mit dem Ziel, dem Tatbestand Wohnungslosigkeit in unserer Gesellschaft adäquat zu begegnen. Eben dieses Wissen ist, besonders in Bezug auf die Stadt Berlin und die aktuellen Entwicklungen, nicht vorhanden. Dieses Defizit aufzulösen, dazu will ich mit dieser Arbeit einen Beitrag leisten.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97