Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

4. Mangel der Hilfe für Wohnungslose?

Eine erste und naheliegende Hypothese zur Erklärung des Tatbestandes, weshalb ein erheblicher Teil von Wohnungslosen die Einrichtungen und Angebote der Hilfe nicht in Anspruch nimmt, ist, darin einen Mangel im Hilfesystem, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht zu sehen.

Zunächst muß aber festgehalten werden: Insbesondere die letzten 15 Jahre haben einen erheblichen Ausbau der Angebote der ambulanten Hilfe für Wohnungslose mit sich gebracht. Während die Zahl der Wohnungslosen nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in den Jahren 1980 bis 1990 um mindestens 50% von 80.000 auf 120.000 zugenommen hat, hat sich allein im Zeitraum der Jahre 1985 bis 1990 die Anzahl der ambulanten Beratungsstellen um fast 100% von 64 auf 120 erhöht. Im Jahr 1993 existieren bundesweit 169 Beratungsstellen. Das Angebot der ambulanten Hilfe ist damit in erheblichem Maßen weiter ausgebaut und zugleich weiter dezentralisiert worden. Darüber hinaus sind gerade in den letzten Jahren eine Fülle weiterer ambulanter Einrichtungen, wie Wärme- und Teestuben, Suppenküchen, aber auch sonstige Projekte entstanden,[7] auch das ist ein Hinweis dafür, daß die Hilfe immer stärker dort angesiedelt wird, wo das Problem der Wohnungslosigkeit präsent ist. Mit dem Ausbau des ambulanten Teils der Hilfe für Wohnungslose werden auch "niedrigschwellige" oder sogar "niedrigstschwellige" Angebote, wie zum Beispiel eben Wärmestuben, eingerichtet mit dem Ziel, so Wohnungslose ansprechen zu können, die andere Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe - Beratungsstellen, Unterkunftseinrichtungen, kommunale Behörden - nicht in Anspruch nehmen. Damit wird institutionell auf den Tatbestand reagiert, daß ein zunehmender Teil der Wohnungslosen auf der Straße lebt und wohnungslos bleibt - einmal unabhängig von der Frage, ob die Betreffenden es so wollen oder - in Ermangelung geeigneter Unterbringungsangebote durch die Wohnungslosenhilfe - so müssen.

Ein weiteres Strukturprinzip der ambulanten Hilfe ist "streetwork": Hier werden Wohnungslose gezielt auf der Straße aufgesucht. Mit diesen Maßnahmen werden die Grenzen der Hilfeangebote verschoben, die Wohnungslosenhilfe wendet sich - aus einer eigenen Bewegung heraus - verstärkt den Wohnungslosen zu. Damit wird die Grenze zwischen Wohnungslosen, die Kontakt zur Wohnungslosenhilfe haben, und Wohnungslosen, die diesen Kontakt nicht haben - oder nicht haben wollen, ständig weiter in Richtung auf die potentiellen Adressaten der Hilfe hin verschoben. So beschreibt dann auch Friedrich GERSTENBERGER in einer lexikalischen Definition das "Hilfesystem" als

"Gesamtheit von Organisationen, Einrichtungen, gesetzlichen und sonstigen Regelungen, Maßnahmen und Leistungen sowie formellen und informellen Beziehungen, welche unter die Zielvorgabe, Hilfe zu leisten bzw. im Sinne von Hilfeangeboten soziale Dienstleistungen gewähren, einem bestimmten, durch systematische Zuordnung relativ homogenen Personenkreis 'einschließen' (und zwar durchaus auch im übertragenen Sinn von 'fürsorglicher Belagerung'). Hilfesysteme sind zwar nicht eindeutig abgrenzbar und weisen (bspw. örtliche) Besonderheiten auf, sie sind jedoch relativ geschlossen, war zur Folge hat, daß die Adressaten/ Klienten eines Hilfesystems aus diesem i.d.R. nicht zu 'entweichen' vermögen. Zugleich kommt dem Hilfesystem die Bedeutung zu, Klienten von dem einen auf ein anderes 'abzuschieben' oder sie im "Labyrinth" verschiedener Hilfesysteme leerlaufen zu lassen." (GERSTENBERGER 1992, S. 943).

Ein solcher Definitionsversuch ließe sich im Sinne unserer Fragestellung auch so interpretieren: Zunehmend umstellt von den Hilfeangeboten werden die Wohnungslosen - die diese Hilfe eigentlich gar nicht wollen - weiter in die Defensive gedrängt und gezwungen, Strategien zu entwickeln, dieser "fürsorglichen Belagerung" zu entgehen.

Auf der anderen Seite zeigt eine Gegenüberstellung der Anzahl der bundesweit vorhandenen Unterbringungsplätze und der Zahl der bundesweit geschätzten Wohnungslosen jedoch ein deutliches Mißverhältnis auf. Insgesamt stehen in der Bundesrepublik im Jahr 1993 in der stationären Wohnungslosenhilfe etwa 15.500 Plätze zur Verfügung, demgegenüber wird die Zahl der Wohnungslosen zu diesem Zeitpunkt auf das Zehnfache, auf eine Größe von über 150.000 Personen geschätzt.[8] Zudem kommt die Tendenz, daß für einen Teil der Wohnungslosen insbesondere die stationären Unterbringungsformen zu einer dauerhaften Ersatzlösung[9] werden. Mit anderen Worten, selbst wenn die Wohnungslosenhilfe es wollte, sie wäre gar nicht dazu in der Lage, allen Wohnungslosen eine Unterkunft sicherzustellen. Gegen solche Überlegungen ist zudem kritisch einzuwenden: Es kann auch nicht das Anliegen der Hilfe sein, permanente Provisorien zu einzurichten. Die Unterbringung in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe würde dann eine reale Alternative zur Miete einer Wohnung darstellen. ROHRMANN 1987 und PREUSSER 1989 arbeiten dieses Problem analog bezogen auf des System der Sozialen Sicherung heraus. Insbesondere dann, wenn die Wohnungslosenhilfe in dem Sinne perfektioniert wäre, daß für alle Wohnungslosen eine ausreichende dauerhafte Unterbringung zur Verfügung gestellt würde, stellt es eine Einladung da, wohnungslos zu bleiben. Damit wäre der Wohnungsmarkt grundsätzlich in Frage gestellt, gerade das wird nicht intendiert. In ähnlicher Weise gilt dies für den sozial geförderten Wohnungsbau bzw. für das Wohngeld.

Es ist nicht die Intention dieser Arbeit und würde auch ihren Rahmen sprengen, die Wohnungslosenhilfe an sich einer kritischen Analyse zu unterziehen. Mit Bezug auf die bundesweit geführte Fachdiskussion um die Wohnungslosenhilfe[10] bleibt dennoch festzuhalten: Die Absicht der Wohnungslosenhilfe, die Wohnungslosen in eine Normalität des Wohnens zu integrieren, wird, wie oben angedeutet, von einer Reihe quantitativer und qualitativer Mängel der Hilfeinstitutionen selbst konterkariert. Hinzu kommen die Probleme, die außerhalb der Wohnungslosenhilfe angesiedelt sind, beispielsweise die zunehmende Verschlechterung der Situation auf dem Wohnungsmarkt. Dennoch ist der Anteil derer, die trotz dieser wenig aussichtsreichen Perspektiven und trotzdem sie von den Hilfeeinrichtungen nicht dauerhaft untergebracht sind, nach wie vor im Kontakt zu Angeboten der Wohnungslosenhilfe stehen, relativ hoch. Ein bedeutender Teil der Wohnungslosen ist gezwungen, weiterhin auf der Straße zu überleben, begibt sich aber trotzdem in den Kontakt zu Hilfsangeboten.

Für unseren Zusammenhang aber noch wichtiger ist: Obwohl der Ausbau der ambulanten Hilfeangebote durchaus mit der Zunahme der Gesamtzahl Wohnungslosen korrespondiert und obwohl sich die Wohnungslosenhilfe mit ihren Angeboten immer weiter "auf die Straße begibt", gibt es - trotz der nach wie vor weiterbestehenden quantitativen und qualitativen Mängel der Wohnungslosenhilfe - keine gesicherten Anhaltspunkte dafür, daß die Zahl derer, die überhaupt keine Hilfeangebote in Anspruch nehmen, maßgeblich gesunken ist. Die Angaben der Münchener Studie (GREIFENHAGEN et al 1990) legen eher das Gegenteil nahe: Demzufolge wäre zu erklären, warum trotz Ausbau und Entwicklung der Hilfeeinrichtungen ein gleichbleibender oder sogar zunehmender Anteil von Wohnungslosen diese Hilfeangebote nicht oder trotzdem nicht bzw. nicht mehr in Anspruch nimmt. Offenbar handelt es sich um eine Distanz trotz Hilfe. Es ist nicht ohne weiteres einsichtig, weshalb ein Teil der Wohnungslosen nicht einmal ambulante oder sogar aufsuchende Hilfen in Anspruch nimmt, die erstens Hilfen zum Überleben - zur Bewältigung der besonderen Lebenslage - in der Wohnungslosigkeit und zum zweiten eine Grundlage zur Überwindung der Wohnungslosigkeit darstellen.

Zusammenfassend gesagt: Eben weil die Wohnungslosenhilfe durchaus auch

kann es allein an ihr - das sollte deutlich geworden sein - nicht liegen, wenn Wohnungslose in Distanz zu ihr blieben.

Eine solche Aussage aber hat weitreichende Konsequenzen. Wenn das in dieser Deutlichkeit so gesagt werden kann, dann bedeutet das letzten Endes, daß unsere bisherigen theoretischen Modelle zur Bestimmung des Problems nicht ausreichen. Die Überprüfung des Forschungsstands muß sich dann auf die Frage konzentrieren, ob es Erklärungsansätze gibt, die hinreichend plausibel machen, weshalb eine nicht unerhebliche Zahl an Wohnungslosen in Distanz zu den eigens für sie gedachten Hilfeangeboten lebt.

Eine kurze Rezeption der internationalen Diskussion zu Wohnungslosigkeit - insbesondere auf der Ebene der UNO und der EU - verdeutlicht den globalen Kontext der Problematik. Die darin immanenten spezifischen Forschungsprobleme zwingen aber aus pragmatischen Erwägungen dazu, die weitergehende Auseinandersetzung mit dem Stand der Forschung vorrangig auf den deutschen Sprachraum zu konzentrieren. Allein schon bei der Frage nach der Zielgruppendefinition sind dabei etliche Problematiken der besonderen deutschen Sprachregelung (Nichtseßhafte? Obdachlose? Wohnungslose?) zu behandeln. Nach einem kurzen Gang durch die bisher vorliegenden empirischen Forschungsergebnisse kommt dann die Theorie ins Zentrum der Überlegungen. Untersucht werden zuerst die gängigen Erklärungsmodelle zur Verursachung von Wohnungslosigkeit. Der Stand der Theoriebildung wird dann explizit analysiert in Hinblick auf Erklärungsmodelle zu den Ursachen für die Distanz Wohnungsloser zu den Einrichtungen und Angeboten der Hilfe. Und in diesem Kontext wird schließlich auch noch gefragt nach Erklärungsmodellen des "Wohnungslos-Bleibens", also dem Problem dauerhafter bzw. langzeitiger Wohnungslosigkeit und ihren Ursachen.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97