Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

5. Erklärungsmodelle
zu den Ursachen für die Distanz zur Wohnungslosenhilfe

Auffällig ist, daß die theoretischen Modelle zur Verursachung von Wohnungslosigkeit keine Aussagen darüber enthalten, die sich explizit auf den Zusammenhang des Auftretens von Wohnungslosigkeit und der Inanspruchnahme der Wohnungslosenhilfe beziehen.[57] Im folgenden referiere ich die im theoretischen Diskurs enthaltenen zentralen Positionen zu dieser Frage und fasse die Ergebnisse anschließend zusammen:

RUHSTRAT 1991 gibt an, daß bei drohender Wohnungslosigkeit sowie beim Auftritt von Wohnunglosigkeit ein Teil der Betroffenen sich an das Hilfeangebot wendet, ein anderer nicht. Später findet dann ein Wechsel statt: Diejenigen, die zunächst nicht die Wohnungslosenhilfe in Anspruch nehmen, kommen in einer späteren Phase zu diesen Einrichtungen und Angeboten der Hilfe, diejenigen, die sich zunächst an die Wohnungslosenhilfeeinrichtungen wenden, versuchen es dann in einer späteren Phase ihrer Wohnungslosigkeit zeitweilig auf eigene Faust, um dann wieder zur Wohnungslosenhilfe zurückzukehren. Eine genaue Ursache für dieses Phänomen wird nicht angegeben. Wenn im Verlauf jahrelanger Wohnungslosigkeit ein Teil der Wohnungslosen keinen Bezug mehr zu Hilfeeinrichtungen hat, ist dies nach RUHSTRAT 1991 eine Folge der Auseinandersetzung Wohnungsloser mit dem Hilfesystem und seiner Mangelhaftigkeit. Weshalb aber ein Teil der Wohnungslosen in dieser Phase langzeitiger Wohnungslosigkeit den Bezug zum Hilfesystem aufgibt, ein anderer Teil hingegen weiterhin innerhalb der Hilfeeinrichtungen (ver-)bleibt, wird nicht weiter problematisiert.

SCHMID 1990 hält die Frage nach der Verursachung von Wohnungslosigkeit für noch nicht genügend geklärt. Sie nimmt aber an, daß die Ursachen der Wohnungslosigkeit sowohl bei der Gruppe derer, die eher innerhalb der Hilfeeinrichtungen lebt, als auch bei der Gruppe, die eher in Distanz zu den Hilfeangeboten steht, weitgehend identisch sind. Die Trennung in diese beiden Gruppen vollzieht sich erst nach dem Auftritt von Wohnungslosigkeit. Ursachen werden dafür nicht angegeben.

HOLTMANNSPÖTTER 1980 und HOLTMANNSPÖTTER 1982 führt das Phänomen, daß ein Teil der Nichtseßhaften sich in den Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe aufhält, während ein anderer Teil sich in dauerhafter Mobilität befindet, auf die Struktur des Hilfesystems selbst zurück. Das Phänomen der Stadt- bzw. Landstreicher ist für ihn eine mögliche Folge des dauerhaften Verbleibs in den Einrichtungen der Nichtseßhaftenhilfe (sekundäre Devianz).

GIRTLER 1980 befaßt sich in seiner Untersuchung mit der Gruppe derjenigen Wohnungslosen ("Sandler"), die weitgehend außerhalb der Hilfeeinrichtungen lebt. Im Unterschied dazu ist der Aufenthalt in Obdachlosenheimen, also die Lebensweise der anderen - untergebrachten - Wohnungslosen für GIRTLER die "letzte Phase des Sandlerlebens" und "durch alkoholische Tendenzen ... geprägt" (GIRTLER 1980, S. 127). Eine ähnliche Interpretation legen auch Aussagen von SCHMID 1990 und KRULL 1990 nahe.

WEBER 1984 erklärt die Existenz dieser besonderer Gruppe der Wohnungslosen, die in Distanz zur Wohnungslosenhilfe leben, als spezifische Folge der Auseinandersetzung mit der Wohnungslosenhilfe entsprechend seiner theoretischen Annahmen zur Verursachung von Wohnungslosigkeit (gesellschaftliche Situationsdefinitionen, abweichendes Verhalten).

STEINERT 1990 und STEINERT 1990a nimmt an, daß bei den Wohnungslosen unterschiedliche Orientierungen zu konstatieren sind. Demzufolge ist ein Teil der Wohnungslosen auf einen Verbleib im Hilfesystem ("Institutionsorientierung"), ein anderer Teil auf die Aufrechterhaltung von Szenekontakten ("Szeneorientierung") orientiert. Dieses Modell bezieht sich in erster Linie auf wohnungslose Frauen, Ergebnisse zur Genese der individuellen Orientierungen liegen bislang nicht vor.

In einer ersten Zwischenbilanz kann deshalb festgehalten werden: Die vorliegenden Ansätze, die Distanz Wohnungsloser zu den Einrichtungen und Angeboten der Wohnungslosenhilfe zu erklären, sind im höchsten Maße widersprüchlich: Für die einen ist die Distanz eine (mögliche) Folge dauerhafter Wohnungslosigkeit und der Auseinandersetzung mit dem Hilfeangebot, für die anderen ist diese Distanz schon bei drohender bzw. auftretender Wohnungslosigkeit konstatierbar, für GIRTLER dagegen ist der Bezug zum Hilfe in Form einer Unterbringung in einer Obdachloseneinrichtung mögliche Folge dauerhafter Wohnungslosigkeit.

Damit ist die Frage nach der Distanz zum Hilfeangebot eines Teils der Wohnungslosen ist alles andere als befriedigend geklärt. Die theoretischen Modelle in Sachen Wohnungslosigkeit zielen in erster Linie auf die Fragen der Ursachen, auf die Erklärung der Entstehung von Wohnungslosigkeit überhaupt. Auf die Frage, ob sich schon im Zusammenhang der Entstehung von Wohnungslosigkeit Anhaltspunkte dafür finden lassen, die eine spätere Distanz eines Teils der Wohnungslosen gegenüber den Hilfeeinrichtungen erklärbar machen, geben die vorliegenden Ansätze keine Antwort. Die erste Andeutung für einen solchen Ansatz findet sich bei STEINERT 1990 und 1990a, die die Frage nach der Orientierung Wohnungsloser (Frauen) in die Diskussion einbringt:

Ihr geht es gar nicht darum, die Distanz einer bestimmten Gruppe Wohnungsloser zur institutionalisierten Wohnungslosenhilfe als objektive Größe zu ermitteln und ihren qualitativen Umfang zu bestimmen, vielmehr vertritt sie die Position, daß zunehmend subjekttheoretische Überlegungen (Identität, Orientierung) Berücksichtigung finden müssen, um die besondere Situation Wohnungsloser erklären zu können und führt das subjektive Kriterium der Orientierung Wohnungsloser ein.

"Wohnungslose Frauen waren bisher in Untersuchungen über Wohnungslose weitgehend ausgeklammert. Dem innovativen Charakter des Untersuchungsansatzes haben wird mit einem qualitativen Untersuchungsansatz Rechnung getragen. Er ist als Suchbewegung, als ein gedankliches Experimentieren mit vorhandenen Theorien, Begriffen, empirischen Materialien und Praxiseindrücken, als relativ offenen Erhebungsstrategie angelegt (...)
Erhebungsinstrumente waren: Teilnehmende Beobachtung und narrativ orientierte Interviews bei und mit wohnungslosen Frauen im Straßenmilieu, in Heimen und anderen betreuten Einrichtungen, in Beratungsstellen, Billighotels und in innovativen Projekten, weiterhin stärker strukturierte Interviews mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern der Nichtseßhaftenhilfe und der angrenzenden Einrichtungen.
Die Erhebungen sind nun abgeschlossen und es geht darum, vielfältige Eindrücke, ein umfangreiches Erhebungsmaterial auszuwerten, zu strukturieren und im Hinblick auf anwendungsorientierte Aspekte zu reflektieren."
(STEINERT 1990, S. 2).

Soziale Orientierung wird dabei näher bestimmt als Bezug zu einem sozialen Ort, zu dem eine innere Nähe besteht, der eine relevante soziale Ressource darstellt und der motiviert, sich Ziele zu setzen und zu verfolgen. Demnach wird differenziert in:

Damit wird ein ganz anderes Problem aufgeworfen, das aber mit der Frage nach dem Verhältnis Wohnungsloser zu den Hilfeangeboten in Bezug steht. Das wird deutlich in einer Gegenüberstellung dieser Position mit den Annahmen von RUHSTRAT: Eine Normalitätsorientierung Wohnungsloser ist in RUHSTRATS Theorieentwurf ein feststehender, unhinterfragter Tatbestand - ohne daß dieser genauer qualifiziert wird. Allen Wohnungslosen wird unhinterfragt eine Normalitätsorientierung unterstellt. Mit der Einführung von Orientierung als subjektives Kriterium durch STEINERT wird diese Position grundlegend in Frage gestellt. Ihre Differenzierung in Normalitätsorientierung, Institutionsorientierung und Szeneorientierung impliziert - begründet durch ihr empirisches Material - im Grunde folgende Behauptung:

Um einordnen zu können, welche Bedeutung der Einführung einer solchen Differenzierung zukommt, muß der Kontext gesehen werden: Die Frage zu stellen, ob es den Wohnungslose gibt, die wohnungslos sein und bleiben wollen, war in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre genaugenommen ein Tabuthema. Mit ein Grund dafür war sicherlich, daß diese Position mit theoretischen Annahmen und Positionen verbunden war ("Wandertrieb"), die heute als überholt gelten. Dennoch wird diese Position nach wie vor auch in neuesten Arbeiten kritisiert. Mit der Frage nach der Orientierung Wohnungsloser greift STEINERT dieses Problem wieder auf. Dabei ist auffällig, daß die Frage nach der Orientierung Wohnungsloser und die nach der Distanz zum Hilfeangebot nicht in eins fallen. Dabei zerfällt das Problem der Distanz zur Wohnungslosenhilfe in zwei Fragen: Zum einen in die objektive Frage nach dem Bezug zu den Einrichtungen und Angeboten der Wohnungslosenhilfe, zum anderen in die subjektive Frage der Orientierung. Damit wird aber zugleich auch ein erster Schritt hin zu der von TREUBERG 1989 geforderten Subjektorientierung von Wissenschaft und Forschung zum Problem Wohnungslosigkeit vollzogen.

In der theoretischen Begründung ihres Ansatzes argumentiert STEINERT:

"Das Armutstheorem alleine kann (...) meiner Meinung nach die Entstehung von Wohnungslosigkeit bei Frauen, und sicherlich auch beim Männern, nicht erklären. Wohnungslosigkeit entsteht auf dem Hintergrund von Armut, aber es spricht vieles für eine differenziertere Betrachtungsweise, die unter anderem auch Identitätsaspekte berücksichtigt. (...) Biographische Wendepunkte, Veränderungen lebensweltlicher Gegebenheiten (sowohl subjektiver als auch objektiver Natur) können die Veränderung von Identität notwendig machen, so daß bisherige Wert- und Verhaltensmuster, die Bedeutung sozialer Beziehungen, die Ausgestaltung des Selbstbildes, ja sogar das Lebenskonzept überdacht werden müssen. Wie auf solche Identitätserschütterungen im Rahmen der je individuell zur Verfügung stehenden ökonomischen und sozialen Möglichkeiten reagiert wird, ist von entscheidender Bedeutung für den weiteren Biographieverlauf."
(STEINERT 1990a, S. 21f).

Mit anderen Worten, zurückgewiesen wird, daß die Situation Wohnungsloser allein aus armutstheoretischen Überlegungen heraus erklärbar ist. Verstehbar wird, laut STEINERT, die besondere Situation sowie die individuelle Orientierung Wohnungsloser erst auf dem Hintergrund des Verständnisses biografischen Gewordenheit.[58] Grundsätzlich ist aber festzuhalten, daß die Frage nach den Ursachen für die Distanz zur Wohnungslosenhilfe bislang theoretisch nicht hinreichend geklärt ist. In einem nächsten Schritt ist zu fragen, wie denn auf der Ebene der bereits eingetretenen Wohnungslosigkeit die Frage nach dem Verbleib Wohnungsloser in ihrer Situation, m.a.W. das Phänomen des "Wohnungslos-Bleibens", theoretisch behandelt wird und welche Erklärungsmodelle dazu vorliegen.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97