Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

Bilanz

In einer Bilanz der Erörterung der theoretischen Modelle ist festzuhalten, daß ein angemessenes Verständnis der Problematik Wohnungslosigkeit einseitig weder nach der Seite allein sozio-ökonomischer Erklärungsmodelle - "Problem struktureller Armut" -, noch nach der Seite allein persönlichkeitsorientierter Erklärungsversuche - "Problem individueller Defizite"- schlüssig aufzulösen ist. Ebenso widersprüchlich erweisen sich die Erklärungsansätze bezüglich der Ursachen für die Distanz zur Wohnungslosenhilfe und bezüglich der Ursachen des "Wohnungslos-Bleibens" als möglichem Ausdruck eines gewollten Verbleibs in der Wohnungslosigkeit. Gleichwohl sind in der theoretischen Diskussion Ansätze identifizierbar, Wohnungslose nicht länger als KlientInnen (d.h. als Objekte gesellschaftlicher Defizite oder defizitäre Persönlichkeiten) zu betrachten und entsprechend zu behandeln, sondern vielmehr als Subjekte ihrer eigenen Lebenslage anzunehmen, entsprechend mit ihnen umzugehen und eine soziale Arbeit an ihren Interessen und Möglichkeiten zu orientieren. Ein solches Problemverständnis Wohnungsloser als Subjekte ihrer Tätigkeit umfaßt notwendig auch die Dimension der individuellen Gewordenheit: Wohnungslosigkeit wäre demnach das Ergebnis eines komplexen, vielschichtigen Prozesses von tätiger individueller Auseinandersetzung mit konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, ein Prozeß, der weit vor dem äußeren Ereignis der Wohnungsverlustes beginnt und mit diesem noch lange nicht abgeschlossen ist.

In diese Richtung wird zwar diskutiert, gleichwohl fehlt es aber bislang an empirischem Material, um dieses Ansatz hinreichend belegen zu können. Und fänden sich tatsächlich Belege für die These, daß Wohnungslosigkeit in diesem Sinne als Ergebnis einer biografischen Entwicklung verstanden werden kann, so ergibt sich daraus ein neues Ziel der sozialarbeiterischer Intervention: Die Erforschung und Erarbeitung der individuellen Biografie als ersten Schritt und grundlegende Voraussetzung für einen pädagogisch-psychologisch fundierten Beitrag zur Umkehrung dieser Entwicklung. Mit anderen Worten: Nicht nur das fehlende empirische Material, die einander widersprechenden und letztlich unbefriedigenden theoretischen Modelle, sondern auch der daraus resultierende praktische Nutzen für die Soziale Arbeit mit und für die Wohnungslosen plausibilisiert die Notwendigkeit einer eigenen Untersuchung.

Im folgenden Kapitel wird zunächst die zentrale Hypothese, die auf den inneren Zusammenhang von biografischer Entwicklung und Lebenslage(bewältigung) zielt, herausgearbeitet, erläutert und begründet. Daraus ergeben sich zum einen konkrete Fragen und Zielsetzungen für eine eigene Untersuchung, sowie zum anderen methodologische Folgerungen für die praktische Forschung im Feld und deren Auswertung; die verwendeten methodischen Elemente werden im einzelnen vorgestellt. Es folgt die Bestimmung des Untersuchungsfeldes in Verbindung einer kurzen, exemplarischen Charakterisierung des Stadtteils Moabit als dem zentralen Ausgangs- und Bezugspunkt der berlinweiten Forschungen. Der letzte Abschnitt bezieht sich auf die praktische Organisation der Untersuchung, die im wesentlichen aus drei Schritten besteht: Der Zugang zum Feld, die Erhebung von Untersuchungsmaterial (vor allem: Interviewgespräche) und die Auswertung.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97