Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

IV Durchführung der Untersuchung

1. Hypothesenentwicklung

Ansatzpunkt für die Formulierung einer Hypothese zum Problem bietet die in der theoretischen Diskussion zu Wohnungslosigkeit neuerdings des öfteren vertretene Position, daß zunehmend subjekttheoretische Überlegungen (Identität, Orientierung) zu berücksichtigen seien, um die besondere Situation Wohnungsloser erklären zu können. Anders gesagt: "Normalität" sowie eine "Normalitätsorientierung" Wohnungsloser bzw. deren Abweichung davon war bisher das dominierende Paradigma der diskutierten Theorieentwürfe, ohne daß der theoretische Bezugsrahmen dieses Paradigmas explizit ausgewiesen wurde.[1] Demgegenüber wird in der aktuellen soziologischen Diskussion bereits seit Jahren verhandelt, wie das Ende, oder vorsichtiger ausgedrückt, die zunehmende Auflösung gesellschaftlicher und damit auch individueller "Normalität" begrifflich zu fassen sei und was an dessen Stelle tritt: Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile (BERGER/ HRADIL 1990), zunehmende Individualisierung der Individuen (BECK 1986) bis "zur Individualität ohne Ende" (BROSE/ HILDENBRAND 1988):

Normalität als gesellschaftlicher Tatbestand - im Sinne eines geregelten bzw. geordneten Lebens (mit gesichertem Lohnarbeitsplatz, dauerhafter Miete einer Wohnung und stabilen Familienverhältnissen als ihre herausragenden Kennzeichen) - befindet sich in zunehmender Auflösung, erweist sich immer mehr als Fiktion. Normalität und die individuelle Orientierung darauf, und in Verbindung damit ein Herausfallen aus einer solchen Normalität wird in den Biografien immer weniger aufzufinden sein. Und dennoch ist jede Person in seinem Leben mit gesellschaftlicher Realität konfrontiert, sei es in Fragen individiduellen Reproduktion über Lohnarbeit, anderer irgendwie bezahlter Tätigkeit, über das System der Sozialen Sicherung oder alternativer Finanzierungsquellen, sei es in Fragen des Wohnens oder anderweitiger Unterkunft oder Behausung, sei es fin Fragen von sozialen und partnerschaftlichen oder wie auch immer gearteteten Beziehungen. Vorzufinden sind jeweils besondere, individuell höchst unterschiedliche Formen der Aneignung, des Umgangs, Bezugs und der Verarbeitung von gesellschaftlicher Realität in der biografischen Entwicklung.

Bezogen auf das spezifische Problem von Wohnungslosigkeit kann eine Hypothese demnach folgendermaßen formuliert werden:

Verständlich wird das Verhältnis Wohnungsloser zur Hilfe (und damit auch zur Gesellschaft) auf dem Hintergrund ihrer biografischen Entwicklung. Nicht die Normalitätsorientierung ist normal, sondern eine "gebrochene" Einstellung zur Normalität, die im Verhältnis zu den Einrichtungen und Angeboten der Wohnungslosenhilfe (und damit zur Gesellschaft überhaupt) ihre Fortsetzung finden kann.

In Fortsetzung dieser Hypothese wären demnach bereits für den Zeitraum vor dem Auftritt der Wohnungslosigkeit Hinweise dahingehend ermittelbar, daß die (späteren) Wohnungslosen eben nicht - oder nicht nur oder nur 'gebrochen', d.h. widersprüchlicher Form - "normalitätsorientiert" waren. In ähnlicher Weise gilt dies auch für den Beginn der Wohnungslosigkeit. Demnach wäre auch die Phase oder der Prozeß des Auftritts von Wohnungslosigkeit in der tätigen Auseinandersetzung der Subjekts mit der gesellschaftlichen Realität zu verstehen. Was also in oberflächlicher Betrachtung zunächst als mehr oder weniger bedeutungsvolle - und subjektneutrale - "Schlüsselsituation" auf dem Weg in die Wohnungslosigkeit erscheinen mag - Beginn der Arbeitslosigkeit, Mietschulden, Unfälle, Unzulänglichkeiten von Institutionen usw. - wäre ebenfalls nur verständlich und plausibel erklärbar auf dem Hintergrund des konkreten Handelns der Personen auf Grundlage ihrer bisherigen biografischen Entwicklung.

Für das Verhältnis Wohnungsloser zur Hilfe hieße dies: Wohnungslose leben in relativer Distanz zum Hilfeangebot, weil sie lebensgeschichtlich keinen - oder nur noch einen 'gebrochenen', höchst widersprüchlichen - Bezug zur sog. gesellschaftlichen Normalität haben, in die sie das Hilfeangebot (angeblich) integrieren will. Wohnungslose gehen in relative Distanz zum Hilfeangebot, weil sie - in lebensgeschichtlicher Kontinuität - ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit bewahren wollen - und diese im Hilfeangebot nicht gewährleistet sehen. Wohnungslose bleiben in relativer Distanz zu den Hilfeinstitutionen, weil sie Hilfe nicht zum Preis der Aufgabe gewachsener Beziehungen zur Szene annehmen wollen. Sie beiben in Distanz, weil die Rückkehr in die (Restbestände gesellschaftlicher) Normalität in aller Regel mit Auflagen (Haftstrafe abbüßen, Unterhaltsverpflichtungen zahlen, Schulden tilgen, Therapie absolvieren, Berufs- oder Ausbildungsanforderungen bewältigen, eigene Wohnung einrichten und unterhalten, Behördengänge tätigen, Konto führen, Rücksicht auf die Nachbarn nehmen etc. etc. etc.) verbunden ist, die sich im Vergleich zur gegenwärtigen Situation häufig als unerträglich oder nicht attraktiv darstellen, einmal ganz abgesehen von der Frage, ob eine Rückkehr in die sog. gesellschaftliche "Normalität" überhaupt als begehrenswertes Ziel wahrgenommen werden kann. Warum auch sollte dies ein erreichenswertes Ziel sein, wenn es - aus der subjektiven Wahrnehmung heraus - plausible Alternativen dazu gibt? Eine solche Situation und Wahrnehmung schließt extreme individuelle Konsequenzen ein:

"Wenn die Bezugnahme auf die Gesellschaft keinen Sinn verspricht, ist der einzelne zu ihrer Benutzung befreit und auf seine Bestände verwiesen."
(NIETHAMMER 1989, S. 35).

Hinsichtlich der "Distanz" als zentralem Begriff der Hypothese ist damit eine Unterscheidung zu treffen: Zum einen meint "Distanz" ein objektives Kriterium, das sich darin ausdrückt, daß das Hilfeangebot nicht in Anspruch genommen wird, und zum anderen meint "Distanz" das subjektive Kriterium, welches in der individuellen Orientierung zum Ausdruck kommt. Beide Kriterien sind nicht deckungsgleich: Eine objektive Distanz zum Hilfesystem - die Möglichkeiten und Angebote der Wohnungslosenhilfe werden nicht in Anspruch genommen - kann Hinweis auf eine "Szeneorientierung" Wohnungloser sein, kann aber auch Hinweis darauf sein, daß eine Normalitätsorientierung bei gleichzeitigem Verzicht der Leistungen der Hilfeinstitutionen vorliegt: Jemand versucht "auf eigene Faust", wieder eine Wohnung und/oder eine Arbeit zu finden. Auf der anderen Seite kann es bei Personen, die szeneorientiert sind, durchaus sein, daß sie das Hilfeangebot zeitweilig "instrumentell" (STEINERT) in Anspruch nehmen.

"Der tatsächliche Aufenthaltsort als Zuordnungskriterium ist hierbei von untergeordneter Bedeutung, denn dieser kann ja lediglich instrumentell genutzt werden, während sich sinnstiftend das soziale Leben an einem anderen Ort ereignet." (STEINERT 1990a, S. 23).

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97