Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

3. Präzisierung der Hypothese

Bezogen auf die Fragestellung nach der individuellen Orientierung und dem persönlichen Sinn in der biografischen Entwicklung hat dies zur Folge, daß die verschiedenen theoretischen Annahmen, die sich auf die Verursachung von Wohnungslosigkeit beziehen, als Problem der Nichtübereinstimmung bzw. des Widerspruchs von persönlichem Sinn und objektiver Bedeutung im Kontext individueller Motiv- und Tätigkeitsentwicklung diskutiert werden müssen: Zentrale Themen, in deren Rahmen Ursachen für Wohnungslosigkeit diskutiert werden, sind die Bereiche Arbeit, Einkommen, Wohnen, soziale Beziehungen, Institutionen. Verschiedenste Faktoren bzw. Elemente aus diesen zentralen Bereichen werden im Zusammenhang mit möglicher späterer Wohnungslosigkeit diskutiert. Häufig wird auch eine Kombination bzw. Wechselwirkung der einzelnen Faktoren angenommen, die zur Wohnungslosigkeit führen. Wohnungslosigkeit kann demnach durch ein einzelnes eintretendes Ereignis entstanden sein ("Katastrophe"), kann aber auch Resultat einer ganzen Reihe von Entwicklungen ("sozialer Abstieg") sein. Empirische Belege finden sich für sowohl für das eine, als auch für das andere Extrem-Szenario.

Im Unterschied dazu kann unter Bezugnahme auf das o.g. theoretische Modell, formuliert werden: Ausschlaggebend für die spätere Wohnungslosigkeit ist vielmehr das Auseinanderfallen von Sinn und Bedeutung im Verlauf der individuellen biografischen Motiv- und Tätigkeitsentwicklung. Entscheidend ist demnach nicht die Art des Ereignisses (Kündigung des Arbeitsplatzes, Verlust einer zentralen Bezugsperson usw.), ihre eventuelle Verkettung (als sozialer Abstieg: Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme, zunehmende Verschuldung, drohende Räumung usw.) oder aber ihre besondere Intensität und Unvorhersehbarkeit, sondern vielmehr die Frage, inwiefern hiervon Motive individueller Tätigkeit berührt und damit einhergehend der Zusammenhang des persönlichen Sinns gegenüber der gesellschaftlichen Bedeutungen weiter verändert, aufgebrochen, zerstört usw. wird. Erscheint alles andere als sinnlos, zerbricht ein Sinnsystem, muß die in der Tätigkeit zum Ausdruck kommende Motivstruktur umorganisiert werden? Und sind die Beziehungen zum gesellschaftlichen Bedeutungssystem ohnehin schon brüchig, kann der Bezug auf diese Bedeutungen, auf das Motiv der Tätigkeit schließlich vollends seinen Sinn verlieren.

Gleichzeitig bieten sich mit dem Eintreten der Wohnungslosigkeit - also mit dem Zusammenbruch bestehender Bedeutungssysteme oder der zunehmenden Entfremdung davon - mögliche neue Bedeutungssysteme an: Dies kann das Bedeutungssystem der Hilfeinstitutionen sein, dies kann das Bedeutungssystem der Bezugnahme auf andere Wohnungslose (Szene) sein. (Oder aber, um der Begrifflichkeit Erika STEINERTs zu folgen: Orientierung auf die Institutionen bzw. auf die Szene). Die Bedeutungen repräsentieren in ideeller, geistiger Form die Wirklichkeit der gegenständlichen Welt - ihre Eigenschaften, Zusammenhänge und Beziehungen; für die wohnungslos gewordenen Menschen geht es dabei um nicht nicht mehr und nicht weniger, als sich in der neuen Realität der Wohnungslosigkeit zurechtzufinden - der Bezug und die Orientierung auf vorfindbare Bedeutungen ist eine Strategie des Überlebens im Rahmen der gegebenen und/oder vorfindbaren Bedingungen. Möglich und wahrscheinlich ist, daß ein zerbrechendes altes Bedeutungssystem abgelöst wird durch ein neues. Dabei kann es durchaus sein, daß die Bedeutungssysteme - obwohl sie sich widersprechen - nebeneinander existieren.

Daraus ergibt sich für die Erforschung der biografischen Entwicklung die Notwendigkeit, diejenigen Bedeutungssysteme bzw. -räume zu ermitteln und zu identifizieren, die in den einzelnen lebensgeschichtlichen Phasen für den persönlichen Sinnbezug auf Motive der Tätigkeit von zentraler Bedeutung waren sowie desweiteren diejenigen Prozesse zu ermitteln, in denen diese Beziehung der persönlichen Sinns auf die Bedeutungen in der Tätigkeit eine kontinuierliche bzw. schlagartige Veränderung erfahren hat. Diese Prozesse der Veränderung der Sinn-Bedeutungsbeziehung sind in den Themen zu suchen, die im Zusammenhang mit dem vorliegenden Wissen bezüglich der Verursachung von Wohnungslosigkeit diskutiert werden: Die Bedeutungsräume Arbeit, Einkommen, Wohnen, soziale Beziehungen, Institutionen usw. - eben zentrale Dimensionen des tätigen, alltagspraktischen Lebensvollzugs der Subjekte.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97