Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

5.2. Problematik der Untersuchungsmethodologie

Ein zentraler Ansatzpunkt zur Entscheidung für die Vorgehensweise ergibt sich aus dem Modell der Tätigkeitstheorie, auf das bei der Entwicklung der Hypothese Bezug genommen wurde. Die Hypothese beinhaltet die Notwendigkeit einer Untersuchung der aktuellen Lebenslage auf dem Hintergrund der biografischen Entwicklung. Dabei gilt es, diejenigen Bedeutungssysteme bzw. -räume zu ermitteln und zu identifizieren, die in den einzelnen lebensgeschichtlichen Phasen für den persönlichen Sinnbezug auf Motive der Tätigkeit von zentraler Bedeutung waren. Desweiteren gilt es, diejenigen Prozesse der Tätigkeit zu ermitteln, in denen die Beziehung des persönlichen Sinns auf die Bedeutungen eine kontinuierliche bzw. schlagartige Veränderung erfahren hat. Diese Prozesse der Veränderung der Sinn-Bedeutungsbeziehung sind vor allem in den Bereichen Arbeit, Einkommen, soziale Beziehungen, Institutionen usw., also den zentralen Dimensionen des tätigen, alltagspraktischen Lebensvollzugs der Subjekte zu suchen.

"Die Handlung ist die klarste Enthüllung des Individuums, in Betreff seiner Gesinnung sowohl, als auch seiner Zwecke."
(HEGEL 1937, S. 297).

Die Notwendigkeit der Erfassung des tätigen Lebensvollzugs der Subjekte umfaßt dabei auch - und das ist entscheidend für die biografische Dimension - die Ebene der sprachlichen Handlungen im Sinne lebensgeschichtlicher Erzählungen.

Bezugnehmend auf die These vom "Bedeutungsüberschuß des gelebten Lebens" (NIETHAMMER 1989) ist davon auszugehen, daß lebensgeschichtliche Erzählung ein wichtiges individuelles Bedürfnis darstellt, und daß im Rahmen lebensgeschichtlicher Erzählung thematisiert wird, was lebensgeschichtlich bedeutsam erscheint. Dabei ist die biografische Erzählung selbst Tätigkeit (KRUSE 1985) und beinhaltet damit alle Elemente - Handlungen und Operationen - dieser inneren Tätigkeit: Lebensgeschichte wird rationalisiert, umgeordnet, gewichtet, verdrängt, verschoben, gefärbt, Elemente werden ausgelassen usw. (KUCKHERMANN/ WIGGER-KöSTERS 1986). Trotz aller dieser Einschränkungen gegenüber erzählter Lebensgeschichte, die mit dem Widerspruch "erzähltes Leben ist nicht gelebtes Leben" zu benennen sind, ist dennoch das gelebte Leben der Bezugspunkt erzählter Lebensgeschichte. Unter Berufung auf diese These wird - durch die erzählte Lebensgeschichte hindurch - das gelebte Leben sichtbar.

Damit ergibt sich aber auch folgende methodologische Schwierigkeit: Das üblicherweise bei der Prüfung von Hypothesen anzuwendende Verfahren, nämlich die Hypothese(n) soweit zu operationalisieren, daß einzelne, aus der Hypothese zwingend ableitbare Untersuchungsgegenstände im Sinne einwandfrei bestimmbarer Tatbestände einer quantitativen Untersuchung und damit einer einwandfreien Meßbarkeit zugeführt werden können, kann aus mindestens zwei Gründen nicht zur Anwendung kommen.

Zum einen bezieht sich die Hypothese, die hier untersucht werden soll, auf einen sozialen Problemkontext, zu dem bislang so gut wie kein empirisches Material vorliegt. Es ist von daher gar nicht möglich, die Hypothese in operativen Verfahren soweit zu zerlegen, bis daß eine (zur Überprüfung) ausreichende Menge methodisch kontrollierbarer Untersuchungsfragen vorliegt, weil überhaupt erst einmal ermittelt werden muß, ob und in welchen empirischen und damit operationalisierbaren Dimensionen sich das in der Hypothese formulierte Phänomen konkretisiert.

Daraus folgt, daß es vielmehr zunächst nur darum gehen kann, die Hypothese im Prozeß einer empirischen Annäherung überhaupt erst einmal soweit in den sozialen Problemkontext einzubringen, um eine Operationalisierung überhaupt in Reichweite kommen zu lassen. Anders gesagt: Angesichts der beschriebenen Ausgangslage können quantitative Methoden noch gar nicht zur Anwendung kommen. In der methodologischen Reflexion zu solcherart Forschungsproblem wird dann auch das Verhältnis qualitativer bzw. explorativer Untersuchungsansätze gegenüber quantitativen Verfahren kritisch diskutiert, insbesondere der Anspruch der Exploration als eigenständige Methode der Erkenntnisgewinnung ist umstritten (vgl. dazu beispielsweise WEBER 1984; eine Diskussion, auf die ich hier im Einzelnen nicht eingehen will), dennoch kann mit LEWIN (1963) festgehalten werden, daß im forschungslogischen Vorgehen qualitative Methoden den quantitativen eindeutig vorgeordnet sind.

Zweitens kommt hinzu, daß die Hypothese sich auf eine Personengruppe bezieht, zu der Außenstehende ohne weiteres keinen (über zufällige Begegnungen im Alltag hinausgehenden) unmittelbaren Zugang, geschweige denn einen persönlichen Kontakt haben. Daraus folgt, daß eine Entscheidung getroffen werden muß für eine Methode, die den direkten Zugang zu diesen Menschen sucht. Das bedeutet, daß der methodisch erste Schritt der Versuch einer Annäherung zu eben dieser Personengruppe Wohnungsloser sein muß, um überhaupt eine interaktive und kommunikative Basis der Verständigung mit dem zu untersuchenden Personenkreis herstellen zu können.

Damit bietet sich als methodischer Zugang eine explorative, mithin qualitative Vorgehensweise an, die insbesondere dann angezeigt ist, wenn zunächst nicht genügend Wissen aus erster Hand über den zu untersuchenden Problemkontext vorliegt. Der Zweck einer explorativen Studie läßt sich ganz allgemein dahingehend abgrenzen, daß damit die relevanten Zusammenhänge in einem Forschungsbereich möglichst vollständig erfaßt werden sollen, um sie in nachfolgenden Untersuchungen angemessen repräsentieren zu können. Also auch hier das Argument, daß der Anspruch eines standardisierten qualitativen Forschungsansatzes zunächst zu Gunsten einer qualitativen Vorgehensweise mit explorativem Charakter zurückgestellt werden muß.

So kann zusammenfassend festgestellt werden: Die methodologische Prüfung der Umsetzbarkeit der Hypothese in den Kontext des konkreten Forschungsanliegens zeigt, daß es zunächst einmal nur darum gehen kann und muß, die Hypothese hinreichend zu plausibilisieren. Der Sinn und Zweck dieses Vorgehens besteht vordringlich - auch in Hinblick auf nachfolgende Untersuchungen - darin, zum einen den Nachweis und eine Einschätzbarkeit der Reichweite und Tragfähigkeit der Hypothese erbringen zu können und zum anderen damit die Grundlagen sowie die Voraussetzungen für ihre nachhaltigere und weitergehende Überprüfbarkeit zu schaffen. Zur Lösung dieses Anliegens, die vorliegende Hypothese zu plausibilisieren und zu konkretisieren, stellen sich zwei Probleme der explorativen Vorgehensweise, die sich aufeinander forschungslogisch beziehen: Zum einen muß überhaupt erst einmal ein Zugang zur Untersuchungsgruppe gefunden werden, zum anderen gilt es zu klären, in welcher Form relevante Daten in Hinblick auf eine Plausibilisierung der Hypothese gewonnen werden können.

Zunächst also gehe ich auf die Frage nach dem methodischen Zugang zur Untersuchungsgruppe ein, um dann eine Begründung für den vor mir gewählten Narrativ-(dialogischen) Interviewansatz zu liefern.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97