Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

7. Praktische Umsetzung

7.1. Zugang zum Feld (Einstieg)

Aus einem vorhergehenden Praktikum im Rahmen meiner Diplomarbeit (vgl. SCHNEIDER 1990) kenne ich bereits den Warmen Otto, eine Wärmestube in Moabit, einige der Besucher dieser Einrichtung und die nähere Umgebung (Markthalle, Turmstraße). Trotzdem wieder:

Ein neues und ungewohntes Feld, neue Personen, neue Situationen. Es gibt keine von vorneherein festgelegte Position, kein fest gelegtes "setting" wie in Tests und experimentellen Situationen, auch meine Kenntnisse des Feldes stammen kaum aus dem eigenen Erfahrungsbereich. Mein Handlungsrepertoire ist für diese neue Situation nicht trainiert. DEVEREUX 1976 vertritt in seinem Buch "Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften" die These, daß Felderfahrungen Ängste auslösen und diese die Beziehungen des Forschers zur Zielgruppe beeinflussen. Insofern erlebe ich mich auch zunächst angewiesen auf das Wohlwollen der Wohnungslosen, eine objektiv bestehende und von mir subjektiv empfundene Abhängigkeit von denen, über die ich etwas erfahren möchte. In dem Maße, wie ich versuche, diese Ängste zur Kenntnis zu nehmen, zu akzeptieren und mich auf sie einzulassen, komme ich mehr und mehr mit Wohnungslosen in Kontakt. Der Kontakt entwickelt sich im Laufe der Zeit. Bei mir entwickelt sich eine immer größer werdende Selbstverständlichkeit, mit der ich mich im Feld bewege, aus der heraus ich Kontakte herstelle und gelassener beobachte. Eine große Unterstützung in dieser Zeit ist das immer wieder signalisierte Interesse von wichtigen Bezugspersonen an meinen Beobachtungen, Erlebnissen und Reflexionen und überhaupt die Möglichkeit, jederzeit wieder an die Uni bzw. nach Hause zurückkehren zu können und und dort aufgefangen zu werden. Das hilft mir, gibt mir Mut und zwingt mich gleichzeitig, mich zu artikulieren, vorläufige Strukturierungen meiner Beobachtungen vorzunehmen. Widersprüche, Ungereimtheiten, offene Fragen bezüglich meiner teilnehmenden Beobachtungen werden so deutlicher, treten offener zutage.

Je weiter ich mich auf die Dynamik des Feldes, den Alltag der Wohnungslosen einlasse, desto mehr erfaßt dies auch mich selbst, meine Position. In der einen Situation bin ich teilnehmender Beobachter, in der anderen Situation beobachtender Teilnehmer des sozialen Geschehens usw. Im Laufe der Zeit knüpfe ich echte, freundschaftliche Beziehungen zu einigen Wohnungslosen, freue mich schon vorher, sie zu sehen, mache mir Sorgen, wenn ich sie nicht treffe, erkundige mich nach ihnen. Es fällt mir bisweilen schwer, das Ziel der Untersuchung und die eigene Untersucherposition nicht aus den Augen zu verlieren, mich immer wieder aus den praktischen, konkreten gelebten Beziehungen herauszulösen und weiterhin Teile meiner Anwesenheit zur Beobachtung zu verwenden. Auf der anderen Seite erlebe ich trotz dieser Nähe ein Getrenntsein. Es ist nicht nur, daß ich am Leben der Wohnungslosen nur in Ausschnitten teilnehme, sondern noch etwas anderes: Ich versuche zu erfassen, zu re-konstruieren, wie es sein kann, wie es ist, ohne Wohnung, ohne eigene Wohnung - in welcher Form auch immer - zu leben, und es geht dabei immer um das Leben und Überleben dieser Menschen, die mir hier und jetzt so nahe sind. Und ich weiß genau, die warme Wohnung, zu der ich fahren kann, wenn ich mich von ihnen verabschiede, mein Zuhause, worauf ich mich durchaus freue in der kalten Jahreszeit, diese Tatsache trennt uns real voneinander. Angesichts dieser Tatsache ist alles Erleben ein Erleben aus zweiter Hand. Eben aufgrund dieses trennenden Umstands ist selbst in Anbetracht der Qualität der Selbstversuche von Forschern, etwa von HENKE/ ROHRMANN 1981 oder HOLZACH 1983, keine größere Annäherung möglich. Ich bin der Überzeugung, daß dieser Einwand bezüglich der Möglichkeit der "Teilnahme" am Leben anderer Menschen - und sei es, um etwas über sie zu erfahren mehr ist als nur eine rein moralische Kategorie. Es ist ein realer, objektiver, erfaßbarer Umstand. Es ist nicht so, daß ich gleichgültig nach Hause gehe und mich freue über das, was ich heute wieder erforschen konnte. Im Gegenteil: Einmal mehr beschäftigt mich die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten in der bestehenden gesellschaftlichen Realität, meine eigenen Handlungsmöglichkeiten wie auch die der Wohnungslosen, mit denen ich Tag für Tag konfrontiert bin. Ein Konflikt, mit dem ich leben muß. Ich kann das Forschungsinteresse nicht trennen von den Situationen und Fragen, die mich über den konkreten Zusammenhang hinaus noch berühren und bewegen. Ich habe im Moment darauf keine fertige Antwort. Hier ist auch nicht der Ort darauf weiter einzugehen. Andererseits hoffe ich, daß diese Arbeit ein Beitrag dazu leistet, etwas von den Bedingungen, Mechanismen, Funktionen und Interessen offenzulegen, die die individuellen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen bestimmen. Daß diese Arbeit ein Schritt weiter voran ist... (Ich komme beim Uberarbeiten immer wieder an dieser Stelle zum Stocken, weil das, was ich hier auszudrücken versuche, mich in der Tat bewegt. Ich werte das für mich als ein gutes Zeichen. Ich bin sicher, daß ich weiterkommen werde, um wieder anhalten zu müssen...) Doch zurück zum "objektiven Verlauf" meines Handelns im Feld:

Zu Beginn meiner Feldforschung im Herbst 1990 verfolge ich eine Doppelstrategie. Ich versuche zum einen, an die bestehenden Kontakte anzuknüpfen, und zum anderen, mir völlig neue Kontakte zu erschließen. Zweiteres gelingt mir zunächst an der Markthalle in Moabit, in unmittelbarer Nähe des 'Warmen Otto', und am Hansaplatz, Neubaugebiet und U-Bahnstation zwischen Moabit und Zoo. Ziel der Fortführung der bestehenden, und neu hergestellten Kontakte ist es, zum einen durch die Entwicklung gemeinsamer Aktivitäten diese Kontakte und Beziehungen zu konsolidieren, aber auch, um mir darüber einen Zugang zu weiteren Personen der Untersuchungsgruppe zu erarbeiten.

Später spreche ich auch im Rahmen der Ausweitung meiner Aktivitäten innerhalb des Feldes, insbesondere entlang der U-Bahnlinie 9, die Moabit mit dem Bahnhof Zoo verbindet, sowie in der Gegend um den Bahnhof Zoo und dem Hardenbergplatz, Personen an, stelle mich vor, erkläre mein Untersuchungsinteresse. Die Reaktionen der Personen, die ich neu anspreche, sind durchaus geteilt: Einige erklären, sie seien für mich nicht die richtigen Ansprechpartner, einige der von mir angesprochene Einzelpersonen reagieren nicht bzw. brechen den Kontakt nach kurzer Zeit ab, indem sie sich von mir verabschieden oder einfach weggehen, andere verhalten und äußern sich - nach anfänglicher Skepsis und Mißtrauen, verschiedenen Nachfragen zu mir und zu meiner Arbeit - positiv gegenüber den Zielen, Absichten und Intentionen der Untersuchung, sind zur Mitarbeit bereit, dies äußert sich in ausführlichen Diskussionen, Hinweisen, Tips, persönlichen Erzählungen. Zu diesen Personen gilt es, eine Kontinuität in den Beziehungen herzustellen.

Eine Kontinuität versuche ich meinerseits zunächst dadurch herzustellen, indem ich diese Orte, von denen ich nach ersten Gesprächen wußte, daß ich diese Personen dort auffinden würde, regelmäßig in meine Feldbegehungen miteinbeziehe. Hier gelingt es mir insbesondere, dauerhafte Kontakte zu einen Netz von Personen herzustellen, die am Zoo verkehren, sich aber zunehmend in Richtung Wilmersdorf davon zurückziehen und die teilweise in Moabit wohnen bzw. übernachten.

Im Verlauf der Ausweitung der Untersuchungsgruppe fällt mir auf, daß zwischen dem Personenkreis, zu dem ich den bestehenden Kontakt ausbaue und dem Kreis an Personen, den ich auf diese Weise mit neu erschließe, einige Überschneidungen sowie Querverbindungen zu konstatieren sind. Das bezieht sich sowohl auf die Beziehungen der Personen untereinander sowie hinsichtlich frequentierter Orte und Einrichtungen.

Meine o.g. Aktivitäten (das Anknüpfen und Erweitern bestehender Beziehungen, das Herstellen und Konsolidieren neuer Beziehungen, die Ausweitung des Feldes, Vertiefung und Erweiterung der Beziehungen durch gemeinsame Aktivitäten) führt dazu, daß ich die Untersuchungsgruppe allmählich weiter ausweiten kann.

Im Verlauf der Feldforschung ist das - beispielsweise von FUCHS (1984, S. 227) sehr anschaulich beschriebene - "Schneeballverfahren" ständig von Bedeutung: Wenn ich bei meinen regelmäßigen Begehungen im Feld auf Bekannte treffe, oder später im Rahmen gemeinsamer Aktivitäten beispielsweise weitere Einrichtungen besuche oder mich dort verabrede, kann ich in der Regel davon ausgehen, daß ich - über kurz oder lang - auf Bekannte meiner Kontaktpersonen treffen würde, die ich mit in meine Untersuchungsgruppe einbeziehen kann. Von dieser Möglichkeit mache ich aktiv Gebrauch.

Nicht zuletzt aufgrund von teilweise umfangreichen Beziehungen zu Kontaktpersonen kann ich so einen heterogenen Personenkreis für meine Untersuchungsgruppe kennenlernen und Verbindung aufbauen. Nach einigen Monaten durchgeführter Feldforschung kristallisiert sich etwa zum Zeitpunkt Ende Mai/ Anfang Juni 1991 ein Netz von "Schlüsselpersonen" heraus, welches ich bis zum Ende der Feldforschung im Januar 1992 weiter ausbauen kann. GIRTLER 1988 beschreibt die Bedeutung von "Schlüsselpersonen" für den Einstieg in das Feld:

"Nachdem ich nun einmal wußte, wo sich Sandler treffen, stand ich vor der Frage: wie gewinne ich unter diesen Leuten einen Freund oder eine 'Schlüsselperson', die mich in diese Subkultur einführen kann."
(GIRTLER 1988, S. 81).

Für mich haben die "Schlüsselpersonen" die erweiterte Funktion, mir wesentliche Bereiche des Spektrums von Wohnungslosigkeit gezielt zu eröffnen. Es sind Personen, zu denen ich im Verlauf der Feldforschung ein besonderes Vertrauensverhältnis entwickeln kann. Sie sind"Informanten", geben mir verschiedentlich Hinweise und Ratschläge, vermitteln mir auf Nachfrage gezielt weitere Kontakte, geben mir "Referenzen" bzw. ich kann mich auf diese Personen beziehen/berufen, mit ihnen kann ich meine Erfahrungen und Beobachtungen aus der Feldarbeit intensiv diskutieren.

Insbesondere in der letzten Phase der Feldforschung, in der ich im Rahmen der Erhebung von Untersuchungsmaterial Interviewgespräche führe, kann ich immer wieder, wenn ich auf der Suche nach Gesprächspartnern war, auf dieses Netz von "Schlüsselpersonen" zurückgreifen.

Ein wichtiger Faktor im Zusammenhang der Ausweitung der Untersuchungsgruppe ist sicher auch die - für die Personen aus der Untersuchungsgruppe durchaus konstatierbare - Kontinuität und Beharrlichkeit meines Vorgehens im der Feldforschung über einen - zusammengenommen - vergleichsweise langen Zeitraum.

Praktisch geht es für mich in dieser Zeit der Feldforschung darum, die Balance herzustellen und zu halten zwischen einem behutsamen Vorgehen und Entwicklung von bedürfnis- und interessenorientierten Aktivitäten mit den Wohnungslosen im Feld in filigraner Kleinarbeit einerseits und der Umsetzung meiner Erkenntnis- und Untersuchungsinteressen als Forscher im Feld andererseits. Besonders hilfreich erweist sich hier die systematische Vorbereitung, Begleitung und Aufarbeitung der Aktivitäten durch die Supervision, sowie die Kooperation mit der Beratungsstelle.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97