Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
 

HERBERT

Perspektiven

Aber nach Kreuzberg will ich nicht. In Kreuzberg habe ich letzte Nacht geschlafen, auch bei einem Kumpel, den ich aus dem Knast kenne. Wenn ich gerade einen Kumpel treffe so, und der sagt: "Herbert, komm mit, wir nehmen einen!", dann bleibe ich auch gleich da, ist ja logisch. Dann gehe ich ja nicht extra auf Platte. Dann fahre ich ja nicht nachts da extra hin. Aber das ist mir zu heiß da oben. Da haben wir auch nur gesoffen, und dann ist er ins Kaufhaus gegangen, hat eine Flasche hochgezogen, geklaut. Versucht, ich mußte natürlich wieder mit. Naja, was kam? Die Bullen haben den erwischt. Waren noch zwei Kripos durch Zufall da im Laden, zivile, die haben ihn natürlich festgehalten, weil er da türmen wollte mit der Pulle. Und ich stehe daneben!

Pläne habe ich im Moment gar keine. Ich muß durchhalten auf Platte mit Sicherheit bis zum 29. November. Vorher kann ich mir keine Wohnung suchen, sonst ist es zu heiß. Naja, wegen Unterhalt. Dann ist der Unterhalt abgelaufen, dann brauche ich keine Angst haben wegen Knast und alles das. Dann können sie mich höchstens pfänden, wenn ich arbeite, aber solange ich vom Sozialamt kriege, kann mir nichts passieren, das ist ja das beste Aushängeschild. Dann kann ich mir 'ne Wohnung suchen, dann kann ich ein bißchen von vorne anfangen. Das wird ja kälter noch, das bleibt ja nicht immer so. Ich meine, das ist nicht der einzige Winter, den ich durchhalte. Aber man wird ja auch nicht jünger. Und ich bin ja anspruchslos. Ich brauche doch bloß ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl und einen Kühlschrank voll, Fernseher, dann ist gut. Nach Möglichkeit in Moabit.

Mensch, ist die Zeit vergangen. Da haben wir ganz schön geplauscht. Naja, ich hab' doch nichts zu versäumen, ich habe doch Zeit! Und an was ich nicht sterben kann ist an Aterienverkalkung, das weiß ich mit Sicherheit. Irgendwas fällt mir schon immer ein. Ich werde zu W.B. raufgehen, der ist aber schon Frührentner, aber er geht immer noch arbeiten. Und von dem kriege ich immer Geld. Letztens kam er: "Hier, Herbert, ich geb dir!" Der wußte das ja, ich brauche gar nichts mehr sagen. Da werde ich gleich mal fragen, ob ich ihm noch was zu bezahlen habe oder nicht. Bloß wenn seine geschiedene Frau da ist, dann ist das immer Scheiße. Dann kann er mich nicht reinlassen dann, das geht dann ja nicht. Meistens kommt sie ja sonntags. Und E. kommt heute Abend ja sowieso auf Platte. Und wenn er nicht kommt, wenn er im Heim bleibt, dann ist auch egal. Dann habe ich eine Decke mehr, du mußt ja praktisch denken.

ENDE

Weiter zur Interpretation (= Linear Lesen)

Zurück zur Homepage dieser Arbeit

© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97