Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

FRANK

Interpretation

Eine Konfliktlage mit seinen Eltern - beides exzessive Alkoholtrinker, die jeden Abend Theater machen - ist für FRANK Anlaß, seinen Eltern den Rücken zu kehren. Er besorgt sich eine Wohnung, arbeitet in seinem gelernten Beruf, zieht mit seiner Verlobten zusammen. Die Wende stellt FRANK vor erhebliche Probleme: Beruflich droht ihm die Arbeitslosigkeit, durch eine Sanierung verteuert sich die Miete innerhalb kurzer Zeit erheblich. In dieser Situation geht er auf das Angebot seines Schwiegervaters ein, der ihm und seiner Tochter aufgrund seiner alten Seilschaftsbeziehungen eine billige Wohnung beschaffen kann. Beruflich macht FRANK eine Umschulung zum Finanzkaufmann, arbeitet später auch nicht erfolglos in dieser Branche. Bis hierher - im Frühjahr 1991 hat FRANKS Biografie nichts mit dem Problem der Wohnungslosigkeit zu tun, im Gegenteil, er ist überaus flexibel in der Lage, veränderte Situation zu seinem Vorteil zu nutzen.

Als seine Verlobte die auf Druck ihres Vaters begonnene Ausbildung bei der Konsum-Ladenkette (von der Treuhand abgewickelt?) beendet, um in FRANKS Firma anzufangen, reagiert ihr Vater in maßloser Härte gegenüber FRANK. Er schmeißt ihn aus der Wohnung - FRANK hat mit diesem Fall nicht gerechnet und sein Wohnverhältnis nicht durch einen Untermietvertrag o.ä. abgesichert - und verleumdet ihm bei seinen Kunden, daß er gezwungenermaßen seine Arbeit kündigen muß. Innerhalb einer Woche verliert FRANK Wohnung und Arbeit. FRANK hat keine rechtlichen Mittel in der Hand, dagegen vorzugehen, allein sein Eigentum kann er schützen, was ihm in dieser Situation auch nicht hilft. Seine Bemühungen, auf dem Wohnungsamt sich wieder eine Wohnung zu beschaffen, scheitern ebenso wie der Versuch, vom Sozialamt Leistungen einzufordern. Hier hätte FRANKS Vater die Leistungen zu erbringen, FRANK schreckt davor zurück, weil er Angst vor seinem Vater hat und sich überdies die Chance für eine Besserung der Beziehung aufrechterhalten möchte. Er erfährt, daß sein Schwiegervater seine Verlobte gezwungen hat, ihr Kind abtreiben zu lassen. In dieser Situation, in der alles, was FRANK wichtig war, zerstört ist, ist er völlig am Boden und unternimmt insgesamt drei Selbsttötungsversuche, mit der Folge, daß er jedesmal in die Psychiatrie eingewiesen wird. Bilanzierend entdeckt er: "Das Leben zu nehmen hat keinen Sinn mehr, versuche dich durchzuschlagen!"

In seinen Ausführungen zur aktuellen Situation berichtet er immer wieder von Abstempelungen durch seine Umgebung, schwer verständlich bleibt, warum er im Gegensatz zu den meisten anderen so wenig über Angebote und Einrichtungen des Hilfesystems von Wohnungslosen weiß. Er beschreibt eine Entwicklung: Als Obdachloser wird er und fühlt er sich im Krankenhaus schlechter behandelt als er erwarten kann, das Übernachten und Leben im Freien stellt den Organismus vor unvorstellbare Belastungen, der ohnehin durch schlechte und einseitige Ernährung zusätzlich geschwächt wird. Um sich von Pommes und Currywurst und mal einem Bier mehr schlecht als recht auf der Straße ernähren zu können, muß er den ganzen Tag Passanten ansprechen, Pöbeleien, dumme Sprüche ertragen und sich Prügel androhen lassen, dutzende und aberdutzende von Passanten erfolglos ansprechen, den ganzen Tag auf den Beinen oder stundenlang mit Schild und Becher regungslos auf kalten Pflastersteinen verharren. Dabei ist diese Situation schon um ein vielfaches günstiger als in Ost-Berlin, wo er sich einer noch restriktiveren Polizei gegenübersieht und so gut wie kein Geld zu erwarten hat. Selbst mehrere Schichten Kleidung können den Körper nicht vor kriechender, dauerhafte Kälte schützen, der ständig unterbrochene Schlaf belastet zusätzlich den Körper , der nie richtig zu Ruhe kommt. Die psychischen Auseinandersetzungen mit Polizisten, Ladeninhabern, Hausbewohnern und Passanten kommen überdies hinzu, wenn im Winter im Schlaf die Decke gestohlen wird, ist sein Leben unmittelbar durch erfrieren bedroht. Den Konflikt mit der Polizei in Kauf nehmen, auch Schläge in Kauf nehmen, um wenigstens mal eine Nacht im Polizeigewahrsam auf der Holzpritsche schlafen zu können, die Übernachtung im drei Tage im Monat offenstehende Asyl muß in praktischer Risikokalkulation so lange als möglich hinausgezögert zu werden. Wie es ihm wirklich geht, was er wirklich braucht, interessiert von den Hunderten, die täglich an ihm vorübergehen, letztlich keinen. Auch von den anderen, die wie er auf der Straße leben, kann er keine Unterstützung erwarten, vielleicht einmal einen Schluck aus der Flasche, vielleicht mal eine Tablette zum einschmeißen, aber es könnten auch diejenigen sein, die durch Suff und Dreck einen Schlafplatz kaputtmachen, die ihn beklauen könnten. Wenn er in dieser Situation sich wünscht, breit zu sein, dann um einmal für eine Weile von dieser Situation abzuschalten. Die einzige Art Urlaub und Entspannung, die für ihn in greifbarer Nähe ist.

Ein Vergleich beider Phase läßt fast nichts an lebensgeschichtlicher Kontinuität entdecken. Das Leben vor der Wohnungslosigkeit und in seiner aktuellen Situation stehen beinahe fremd nebeneinander. FRANK macht den Eindruck einer zerstörten Persönlichkeit. Entsprechend konfus seine Zukunftsperspektiven, die darauf hinweisen, daß er im Kopf seine Situation keineswegs angemessen verarbeitet hat. Er hält sich die Option der Selbsttötung offen, er hat die Spritze für eine tötliche Luftinjektion bei sich, hofft gleichzeitig auf ein Wunder, daß ihn jemand auf der Straße anspricht und ihm eine Wohnung und eine Arbeit gibt, er wünscht sich ein normales Leben zu führen, will erstmal nur überleben und weiß gar nicht, was er eigentlich falsch gemacht hat.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97