Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung
 

SIEGFRIED

SIEGFRIED ist 46 Jahre alt, kommt aus Hoyerswerder in der ehemaligen DDR. Dort hat er Kraftfahrer gelernt. Mit 18 wird er aufgrund eines Fluchtversuchs zehn Jahre in Bautzen inhaftiert. Danach kommt er nach Westberlin, wohnt in Moabit, heiratet, arbeitet zwölf Jahre lang bei einer Spedition als Fernfahrer. Seine Frau stirbt 1989. Nach ihrem Tod braucht er seine Ersparnisse in Höhe von 35.000 DM bald auf.

Biografie

Ich war ein Mensch, ich habe auch rausgeschmissen. Ich habe mit dem Geld rumgeschmissen wie eine Sau. Wenn ich mal nach Norwegen gefahren bin, oder in die Türkei runter gefahren bin, ich habe nur von den Spesen gelebt. Meine Frau hat über 3000 Mark verdient bei Siemens. Ich knapp fünf. Und mit den Spesen, das kommt darauf an, wo du bist. Wenn du fährst von hier nach Duisburg und bringst Ladung zurück, also 320 Mark hast du auf jeden Fall Spesen. Ich brauchte kein Geld ausgeben, brauchte ich nicht. Ich habe alles auf Konto.

Als ich noch Fernfahrer war, gab es keinen Alkohol bei mir, absolut nicht. Und ich habe zu meinem Chef gesagt: "Herrmann, ich muß Pause machen dann, wegen meiner Frau!" - "Ist gut", sagt der, "ist in Ordnung, du kannst jederzeit bei mir wieder anfangen." Ich habe ihn jetzt am Ku-Damm mal getroffen, der hat mich gesehen: "Was ist mit dir los?", sagt der, "Du warst gut, warst ehrlich." Ich sage: "Ich kann momentan nicht!" Würde ich gar nicht mehr durchstehen. Würde ich nicht mehr schaffen! Der Druck ist zu groß, wenn du auf der Straße bist, und der ganze Streß. Ich würd's nicht mehr schaffen. Zwölf Jahre habe ich gemacht. Nie ein Unfall, immer ehrlich gewesen. Ich habe auch mal ein paar Jungs von derStraße mitgenommen, die sind so rumgelaufen wie ich heute. Ich dachte mir: "Mein Gott, was sind das für welche?" Ich konnte mir's nie vorstellen, ich dachte, das ist Abschaum. Und jetzt bin ich selber so. Aber ich betrachte mich so: Nicht als Penner, ich bin Berber geworden, und dazwischen ist ein himmelweiter Unterschied. Ein Penner schmeißt sich hier irgendwo hin, pennt da und fertig. Zum Beispiel die vom Zoo. Das sind Ratten. Ich bin Berber, er ist Berber. Das sind Penner. Die beklauen sich gegenseitig! Mit denen will ich gar nichts zu tun haben. "Guten Tag, guten Weg!", okay. Wenn die hier kommen, dann weg, tschüß, fertig!

Ich versuche mein Geld noch zu machen. Das ist der Unterschied. Und ich kann mein Herz zeigen, ich habe noch Herz. Ich wünsche es dir nicht, daß du so landest. Das ist schwer. Ich war ja vorher auch schon auf der Straße, gut, da habe ich was unterm Arsch gehabt, habe meine Koje gehabt. Aber das Straßenleben, wenn du überall rumgekommen bist, das formt irgendwie. Da darfst du keine Angst haben und Angst zeigen sowieso nicht. Wenn du Angst zeigst, ist aus!

Ich habe gute Kumpels unter den Zuhältern und zu den Bordellkönigen. Wenn ich hinkomme, ich sage: "Wie sieht's aus, du siehst, wie ich rumlaufe, wie eine Karre Mist!" - "Komm, setz dich hin, Junge, hier hast du 100 Mark!", in Ordnung. Früher war ich ja mal ganz gut drauf. Ich habe viel mitgenommen für die Jungs, harte Drogen, wie ich gefahren bin. Wenn sie mich da erwischt hätten, wäre natürlich aus. Habe ich gemacht, und das zahlt sich immer wieder aus, immer wieder. Der Name D.H., den mußt du dir mal merken, das ist einer der größten, der hier rumläuft. Genau wie ich jetzt im Knast war, wegen dem Totschlag, ich treffe den: "Siegfried, was ist los, mein Junge?" Sage ich: "Zwei Tage vor meinem Geburtstag hänge ich in der Scheiße!" - "Kein Problem", sagt der, "was willst du trinken, Whisky oder was?" Hat alles gehabt im Knast.

Ich habe einen aus der S-Bahn rausgeschmissen. Der hat ein blindes Mädchen vergewaltigt. Der Termin steht noch aus, ich schätze, fünf bis sieben Jahre. Und da muß ich leben damit. Weil, ich habe zehn Jahre Bautzen abgebrummt, und da schaff ich die fünf Jahre hier nun auch noch. Kein Problem, damals wegen Flucht. Ich war deswegen sechs Wochen im Knast, die haben mich auf Haftprüfung rausgelassen. Da wirst du nochmal abgecheckt, und da mußt du dich alle zwei Tage melden bei den Bullen da irgendwo. Mach ich ja nicht. Mein Anwalt weiß, wo ich bin, der war gestern erst hier. Der sagt zu mir, ich muß versuchen, eine Anmeldung für mich zu kriegen. Daß ich mir melden kann, daß ich weiß, wann der Termin läuft. Sonst muß er für mich dastehen. Wenn er mich vertreten will, und ich tanze nicht an, muß er für mich dastehen. Und er fängt dann das Urteil ein, und sagt: "Junge, jetzt mußt du rein." Aber das ist ein guter Anwalt, der hat mich schon mal rausgehauen, der weiß, daß ich hier verkehre. Der könnt auch die Bullen anrufen, macht der nicht.

Hilfesystem

Das ist plus minus null. Ich könnte aufs Sozi gehen, ich gehe nicht hin. Ich geh nicht hin, laß die ihre Scheiße behalten. Ich will nicht. Die checken mich durch, weil ich ohne Ausweis bin. Da wird durchgecheckt: Aha, M., festhalten! Guck mal, ich habe noch zwei Schlüssel hier, ich kann schlafen in so einem Heim da, ich will nicht. Ich habe meine Tasche, meine Papiere sind da! Habe ich vom Sozi gekriegt, kann da pennen. Ich will nicht. Liegt mir nicht. Naja, vier Mann und ich, ist schon Scheiße. Lieber haue mich irgendwo in die Ecke in meinen Schlafsack rein, meist hier unten unterm Container oder drüben an der Kirche. Hier habe ich Freunde gefunden, zufrieden bin ich nicht, aber man schlägt sich so durch. Ist nicht einfach, es ist hart. Und wer das nicht durchmachen kann, der soll's bleiben lassen. Gartenbau haben sie mir hier vom Sozi mal gegeben: Habe ich gesagt: "Ist gut." Habe ich einen Monat gemacht. Denk ich: Für das stehe ich gar nicht mehr auf. Da kriege ich auf der Straße mehr. Da habe ich mehr auf der Straße.

Selbsttötungsversuch

Auf eine Art macht es Freude, dieses Scheißleben hier, aber auf der anderen Seite,... ich habe zweimal vor der U-Bahn gesessen, unten auf den Gleisen war schon. Ich hab' mich einfach unten hingesetzt: "Laß ihn reinknallen, der Dampfer ist aus, fertig, hast Ruhe!" Mich haben sie aber rausgeholt. Einmal soll ich 3000 Mark bezahlen und einmal 1700, weil ich den Verkehr unterbrochen habe. Da habe ich gesagt: "Ihr könnt mir am Arsch lecken, ich hab' keinen Ausweis, bin wohnungslos, was wollt ihr von mir?" Das ist mir alles so scheißegal.

Mitwohngelegenheit

Ist doch egal, wenn ich kaputt gehe. Es muß bloß schnell gehen, ein Knall, so wie bei Lutz jetzt, der ist von uns gegangen jetzt mit 33 Jahren. Das war ein guter Junge. Das ist seine Uhr noch, die hat er mir geschenkt, zwei Tage später macht er den Abgang. Was willst du dann da machen? In seiner Wohnung haben wir gepennt jetzt, ich und M. Jetzt ist die Wohnung weg, und nun sind wir wieder draußen. Am Dienstag ist Beerdigung, der wird eingeäschert. Da bin ich da.

Viele Leute kommen hier an und gucken dich von oben nach unten an! Und das verstehe ich nicht. Irgendwann, wenn die mal runterfallen, die überleben nicht, glaub mir's. Siehst du, wie sie schon gucken? Siehst du das? Hier, wie die uns anguckt, ja? Als ob wir der letzte Müll sind, so guckt die uns an. Ich muß da durch, wenn's geht. Also, mir ist alles kaputtgegangen!

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97