Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

WERNER

Interpretation

Bis zum Beginn seiner Wohnungslosigkeit in der ersten Phase der deutschen Einheit durchlebt WERNER eine ganze Reihe biografischer Umbrüche, einige davon erzwingt er aus eigener Initiative, andere ereilen ihn wie alptraumartige Schicksalsschläge, zudem weist seine Geschichte zahlreiche Spezifika einer typischen DDR-Biografie auf. Seine Erzählung beginnt jedoch mit der Schilderung eines systemunabhängigen Generations- bzw. Familienkonflikts, den er aber innerhalb der Gegebenheiten und Möglichkeiten der realsozialistischen Gesellschaftsformation der DDR zu lösen hat. Die schon sehr frühzeitige berufliche Orientierung hat für WERNER den Sinn, eine räumliche Distanz zu einer elterlichen Konfliktlage herzustellen, die ihm unerträglich ist. Damit er "nur weit weg von zu Hause" kommen kann, will er Matrose werden oder in der Bergbau gehen, ein inhaltliches Interesse gegenüber der Berufstätigkeit ist zunächst kein ausschlaggebendes Motiv, es geht ihm um die Nutzung des DDR-üblichen Ausbildungsmodus für seine Zwecke, für dieses Ziel tritt er sogar gegen seine Überzeugungen in die FDJ ein. Zunächst muß er warten, weil seine Eltern auf einen weiteren Schulbesuch bestehen und er sich der elterlichen Verfügungsgewalt nicht so ohne weiteres entziehen kann. Schließlich kann er dann doch in Rostock eine Ausbildung als Matrose beginnen. WERNER erreicht schnell eine gute Stellung, die Arbeit gefällt ihm, er verdient gut und kommt viel in der Welt herum, kurzum: Er ist glücklich. Zudem ergibt sich eine engere Beziehung zur Tochter seines Kapitäns, mit ihr hat er ein Kind. Dennoch geht diese Beziehung bereits nach kurzer Zeit in der Brüche, weil WERNER nicht entsprechend der Erwartungen seiner Freundin dauerhaft an Land bleiben will. Dieses Beispiel zeigt: WERNER ist nicht bereit, seine Interessen den Anforderungen einer Beziehung unterzuordnen oder zumindestens eine Integration zu versuchen, insbesondere dann nicht, wenn die Anforderungen im Gegensatz zu dominierenden persönlichen Motiven stehen. Möglicherweise hat dieses Phänomen seinen Ursprung in der Kindheit und Jugend, wo er sich gegen die Eltern durchsetzen mußte. Im Verlauf seiner Biografie ist dieses einseitige Muster der Auflösung von 'double-bind'-Konstellation wiederholt anzutreffen. Häufig zieht diese polarisierende Art der Konfliktlösung Konsequenzen nach sich, die von WERNER weder beabsichtigt sind, aber auch nicht vorhergesehen werden.

Ein Unfall im Alter von 24 Jahren zwingt Werner aufgrund fehlerhafter und unzureichender Behandlung zu mehrfachen Krankenhausaufenthalten, die sich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren erstrecken. Danach erhält er schließlich einen Schonarbeitsplatz, mit dem er sich einigermaßen arrangiert. Als junger Mensch leidet er besonders unter der physischen Entwertung seiner Arbeitskraft durch die Folgen des Unfalls, ähnlich wie bei HANS hat die Lohnarbeitstätigkeit einen zentralen Stellenwert in WERNERS Leben. Doch die Kette ungünstiger Ereignisse, die den äußeren Verlauf seiner Biografie bestimmen, reißt damit nicht ab. Wenige Tage nach seinem 29. Geburtstag geht er mit seinen Arbeitskollegen "einen Trinken". Am späten Abend trifft er auf dem Heimweg einen Bekannten, der als Polizist im Dienst auch in dieser besonderen Situation auf die gesellschaftliche Trennung von Funktion und Person besteht und entsprechend behandelt werden will. WERNER sieht darin nur eine überflüssige Provokation, will sich handgreiflich über diese Situation hinwegsetzen, und handelt sich damit folgenschwere Reaktionen ein: Wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt muß er eine zweijährige Haftstrafe verbüßen. Im Zuge der Haftarbeit, die er ableisten muß, hält er während des harten Winters '78/'79 als einziger bis zur völligen physischen Erschöpfung seinen Hochofen am Laufen, wie er nicht ohne Stolz berichtet. Beweggrund dafür ist die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Arbeit, aber vor allem die Intention, mit dieser Anerkennung zu finden und sich im Leben und gegenüber anderen zu behaupten. In einem solchen Kontext zeigt WERNER ein hohes Maß an Identifikation mit den jeweiligen Inhalten und Gegenständen seiner Tätigkeit, eine selbstständige und bisweilen sogar flexible Auffassung von Pflicht- und Plan(über)erfüllung sowie ein starkes Verantwortungsbewußtsein gegenüber den Arbeitsanforderungen, mit denen er konfrontiert ist. WERNER, das veranschaulichen diese Beispiele, 'zieht sein Ding durch', selbst dann, wenn der gewählte Weg sich schon bald als unangemessen erweist.

Eine weitere Beziehung nach der Haftzeit zerbricht nach knapp vier Jahren. Allzu unterschiedliche gesellschaftliche Positionen zwischen WERNER und der Familie seiner Freundin, allesamt in staatstragenden Funktionen der SED involviert, erweisen sich als schwerwiegendes Hindernis für dauerhaftes Glück. Schließlich lernt WERNER eine Frau in Berlin kennen, zieht bei ihr ein und lebt über acht Jahre mit ihr zusammen. Gegenüber ihren Kindern übernimmt er eine Vaterfunktion, in dieser beschützenden, beratenden, fürsorgenden Aufgabe fühlt er sich sichtlich wohl. Massive Spannungen in der Beziehung treten im Zuge der Wende auf. Eine Problemebene ist dabei die unterschiedliche gesellschaftliche, politisch-perspektivische Orientierung der Partner. Während seine Freundin an Bestehendem festhalten möchte, kann er sich angesichts seiner bevorstehenden Arbeitslosigkeit eine gemeinsame Zukunft nur im Westen vorstellen. Nur hier sieht er Chancen, für "seine Familie" zu sorgen. Der Mann setzt sich durch und ist schon bald mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert. Die räumliche und zeitliche Distanz, notwendige Folge seiner Montagearbeit im Westen, kennzeichnet die zweite Problemebene. In der beiderseitigen Entfremdung der Partner wird für WERNER plötzlich Treue relevant und zum Prüfstein für die Beziehung. Seine Zweifel, ob die Partnerin verläßlich oder glaubwürdig ist, läßt alles fragwürdig erscheinen und verschärft die Krise. Als er schließlich erneut arbeitslos ist, kann er nichts mehr bestimmen, steht mit leeren Händen da und fühlt sich obendrein betrogen und ausgenutzt: WERNER ist in seinem Selbstverständnis als Mann zutiefst in Frage gestellt, eine für ihn unerträgliche Situation. Zwei Lebenskonzepte stehen unvereinbar im Gegensatz zueinander, die Lage ist deutlich angespannt, das Zerwürfnis perfekt. WERNER sieht sich vor die Alternative gestellt, entweder sein Scheitern einzugestehen und sich der neuen Lage zu unterwerfen (und damit der Frau recht geben zu müssen) oder die Trennung zu vollziehen. Auf sein Quasi-Untermietsverhältnis zu bestehen und auf dieser Basis ein einvernehmliches Arrangement anzustreben, kommt für ihn nicht in Betracht, diese Möglichkeit übersteigt sein Vorstellungs- und Handlungsvermögen. Nur ein Rest an Courage hindert ihn, seinen dritten Weg einer gewalttätigen Konfliktlösung durchzusetzen, obwohl er das gedanklich antizipiert. Trotz seiner objektiv ungünstigen Position als Arbeitsloser und angesichts der Verschärfung der Wohnungsmarktlage zieht WERNER es vor, 'Hals über Kopf seine Koffer zu packen'. Subjektiv ist seine Entscheidung richtig und nachvollziehbar, aber zu kurz gedacht. Bevor er weitere konkrete Schritte ergreift, denkt WERNER noch einmal gründlich unter Zuhilfenahme erheblicher Mengen Alkohol über seine neue, selbstherbeigeführte schwierige Lage nach.

Im Bann der stolzen männertypischen Entscheidung, in einer Art 'Show-down' neue Fakten zu schaffen, hat er wichtige Folgen dieser Art von Problembearbeitung übersehen und wacht am nächsten Morgen vollständig ausgeraubt auf dem Hauptbahnhof auf. Aus heutiger Sicht würde WERNER diese Handlungsweise mit Sicherheit als zu vermeidenden Fehler beurteilen, seine objektive Lage ist von einem Tag auf den anderen denkbar ungünstig geworden. Diese Passage verdeutlicht in extremer Weise die Problematik von Alkohol in WERNERS Biografie. Einerseits gibt es in seinen Erzählungen keinerlei Hinweise, die auf eine besondere chronische Alkoholauffälligkeit schließen lassen, andererseits hat bei WERNER Alkohol durchgängig eine Managementfunktion zur Bearbeitung dramatischer Lebensereignisse. Mittels Alkohol gelingt es nicht nur, die rationale Kontrolle von Gefühlen abzubauen, als Nebenwirkung werden auch stark emotional gefärbte Handlungsebenen freigesetzt, die im nüchternern Bewußtseinszustand nicht tätigkeitsrelevant sind. In solchen Situationen des absichtlich herbeigeführten Kontrollverlustes - die auch etwas aussagen über die mangelnde (gesellschaftliche) Fähigkeit, mit außergewöhnlichen Anlässen angemessen umzugehen - zeigt sich wiederholt eine Tendenz zu impulsiver, gleichsam "bewußtloser" Spontaneität. Ein im Grunde optimistisches und konstruktives Persönlichkeitsprofil konterkariert er selbst durch punktuell exzessiven Alkoholkonsum. Im gesellschaftlichen Durchschnitt hat diese gemeinhin anerkannte und akzeptierte Form, positive oder negative Anlässse "zu feiern", nicht so extreme Konsequenzen wie in WERNERS Biografie. Im Gegenteil, situativ extremer Alkoholkonsum wird in der Regel eher selten sanktioniert und gilt in der Rechtsprechung sogar als strafmildernder Umstand. Dennoch sollte WERNER zu seinem eigenen Schutz schnellstmöglichst lernen - und das wäre auch ein wichtiges Ziel einer biografisch orientierten Beratung - in außergewöhnlichen Situationen anders als mittels exzessiven Alkoholkonsums mit sich selbst, seinen Gefühlen und Befindlichkeiten umzugehen. Ein Lernprozeß, der in seiner Tragweite und Komplexität nicht zu unterschätzen ist, weil er nicht nur einen Bruch mit angeigneten gesellschaftlich üblichen, weitgehend durchgesetzten und häufig praktizierten Konventionen beinhaltet, sondern auch auf der Ebene des Bewußtseins zunächst starke Irritationen über die gewollte und dann auch erlebte Nüchternheit in Situationen außergewöhnlicher Emotionalität hervorzurufen vermag. Übliche Handlungsmuster zu verlassen, sich selbst und seine soziale Umgebung in wenig geübten, neuen Erlebniszuständen zu erfahren und damit umzugehen, birgt vor allem in der ersten Zeit ein hohes Maß an Ängsten und Handlungsunsicherheiten in sich und erfordert die Selbst- oder Fremdorganisation positiver Rückmeldungen.

Nach der Nacht auf dem Berliner Hauptbahnhof muß WERNER völlig von vorne anfangen. Seine Handlungsstrategie als Wohnungsloser ist von der Struktur her zunächst vollkommen identisch mit den Mustern, die auch andere[9] berichten: Ausgehend vom zugleich Anonymität gewährleistenden Zentralknotenpunkt städtischen Lebens, dem Bahnhof, wird und muß die soziale Infrastruktur der Stadt aus der veränderten Position und Perspektive der Wohnungslosigkeit völlig neu entdeckt und angeeignet werden. Zuerst lernt WERNER mit den S-Bahnhöfen in der Peripherie Berlins alternative Übernachtungsmöglichkeiten zur Bank auf dem Hauptbahnhof kennen, kommt in Kontakt zu anderen Wohnungslosen, lernt durch sie Angebote und Einrichtungen kennen. Als Wohnungsloser muß WERNER zudem die bittere Erfahrung machen, daß es in den Mühlen behördlicher Disfunktionalititäten so einfach keinen Ersatz für schnell und leichtfertig Hingeworfenes gibt und trotz guten Willens eine Wohnung und Arbeit nicht ohne weiteres zu haben sind. Innerhalb der noch bestehenden Reste des sogenannten Sozialstaats gibt es eben keine Instanz, die in der Lage wäre, schnell und unbürokratisch in Form von unmittelbarer und persönlicher Hilfeleistung über die Folgen persönlicher Fehler hinwegzuhelfen. Aus dieser Perspektive wird Wohnungslosigkeit als Strafe erlebt, eine Gesellschaft, die Rückwege derart blockiert und verschließt, wird als böse und abweisend erlebt. Ausgeraubt und auf der Straße muß WERNER seine Papiere besorgen, Zahlungen des Transfereinkommens beantragen und nicht zuletzt Mittel des täglichen Überlebens auftreiben. Und gelingt die Wiederbeschaffung der Papiere endlich nach mühevoller Kleinarbeit, genügt eine geringfügige Unaufmerksamkeit, alle diese Bemühungen zunichte zu machen; es gehört eine große Portion an Durchhaltevermögen dazu, dann nocheinmal von vorn zu beginnen. Eine in diesem Fall unfallbedingte mindere Qualität der Arbeitskraft erweist sich in Verbindung mit seiner Wohnungslosigkeit als beinahe unüberwindliches Hindernis bei der Suche nach regulären Arbeitsverträgen, übrig bleibt der periphere Sektor unversicherter Gelegenheitsjobs, die den Widerspruch mit sich bringen, daß hier verlangt wird, was der beschädigte Mensch nicht mehr zu leisten vermag: Die Verausgabung physischer Leistungskraft, Knochenarbeit eben. Aus dieser Ausgangsposition heraus Ansprüche gegenüber dem Arbeitsamt durchzusetzen und durch gelegentliche Schwarzarbeit die Einkommenssituation zu verbessern, muß schon als persönlicher Erfolg gewertet werden. Ein rechtlich gesichertes Wohnverhältnis zu begründen, ist angesicht der objektiv verschlechterten Position und der Verschärfung der Wohnungsmarktlage nahezu aussichtslos.

Was WERNER von vielen anderen Wohnungslosen unterscheidet, ist seine tendenzielle Fähigkeit zu unkonventionellen Lösungsansätzen, mit denen er partiell Erfolg hat. Es sind vor allem drei Besonderheiten des konstruktiven Umgangs mit den Gegebenheiten, die einen markanten Unterschied zu der Mehrzahl der Wohnungslosen kennzeichnen: Das Leben in einem besetzten Haus, die Mitarbeit in einer Wärmestube und die Beteiligung an der Containerbesetzung am Hegelplatz. Das Profil dieser Ansätze eröffnet einen Blick auf objektiv bestehende und subjektiv wahrgenommene Chancen und Handlungsmöglichkeiten, die er im Unterschied zu anderen Wohnungslosen ergreift und für sich nutzbar machen kann. Gleichzeitig werden an diesen Beispielen aber auch weitere Probleme des Ausstiegs aus der Lebenslage Wohnungslosigkeit sichtbar.

Die Unterkunft in einem besetzten Haus bringt ihm ein erhebliches Maß an größerer Sicherheit als die wesentlich ungeschütztere Übernachtung in der "S-Bahn-Rutsche". Auch die sozialen Beziehungen sind übersichtlicher und gestaltbarer. WERNERS Beispiel ist insofern untypisch für seine Altersgruppe, als daß das Wohnen in besetzten Häusern oder die Beteiligung an Hausbesetzungen in der Regel eine Domäne von Jüngeren ist. Übereinstimmend berichten MARTINA und WERNER von der überwiegend jugendlichen Altersstruktur in solchen oder vergleichbaren Wohnformen (z.B. Wagendorf).[10] Aufgrund seines Alters und seiner Lebenserfahrung nimmt er gegenüber den eher jugendlichen HausbesetzerInnen schnell eine Vaterfunktion ein. Er kann um (persönlichen) Rat befragt werden, ist Vertrauensperson und darüber in einen sozialen Rahmen eingebunden. Aus politischen Auseinandersetzungen hält er sich dagegen raus: Hier scheut WERNER, und das ist mit Sicherheit auch seinen Erfahrungen mit den DDR-Staatsorganen geschuldet, den offenen Konflikt mit der demokratischen Staatsgewalt. Statt gegenüber dem neuen Hausbesitzer durch beharrliches Bleiben und entsprechender Öffentlichkeitsarbeit ein zumindest vorübergehendes Tolerieren der Besetzung zu erzwingen, räumt er lieber vorher freiwillig seine wenige Habe zusammen und sucht sich, diesmal allein, einen neuen Schlafplatz in einem leerstehenden Haus, das er, um vor Kontrollen und Überfällen sicher zu gehen, nur Nachts aufsucht. Allein und krank, nur notdürftig in Decken gehüllt auf einer Matratze in einem kalten leerstehenden (früher besetzten) Haus liegend hätte WERNER im schlimmsten Fall umbemerkt sterben können. Im Krankheitsfall zeigt sich, wie wichtig ein sozialer Zusammenhalt - egal mit wem - für das Überleben ohne eigene Wohnungs auf der Straße ist und warum dieser Zusammenhalt unter den Wohnungslosen - in Ermangelung anderer Bezugspersonen - immer wieder neu hergestellt wird.

Ebenfalls in der ersten Zeit seiner Wohnungslosigkeit ist WERNER "viel in Wärmestuben rumgekommen". Wie auch schon mit seiner Vaterrolle bei den Hausbesetzern sucht und findet er schließlich in den ambulanten Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nach Bezugseinheit, innerhalb der er tätig werden kann. Konkret wird die ehrenamtliche (!) Arbeit als Küchenhelfer in der S.Wärmestube ein weiterer stabilisierender Lebensmittelpunkt. WERNER betont das provisorisch tätigkeitsstrukturierende Moment zur Sicherstellung und Aufrechterhaltung der subjektiven Handlungsfähigkeit:

"Ich hatte Beschäftigung gehabt. Ich wußte, wo ich den nächsten Tag hingehen kann, und daß ich was zu tun habe."

Auch diese Lösung erweist sich als ungesichert und nicht dauerhaft. Es gibt, wie die Episode mit der Wurst[11] bespielhaft zeigt, keine Instanz der BesucherInnen einer Wärmestube gegenüber Entscheidungen und Regelungen durch die dort arbeitenden SozialpädagogInnen und -arbeiterInnen, auch die Delegation von Zuständigkeiten - Gewährung von Privilegien - erfolgt lediglich aufgrund ihres Wohlwollens. Zudem brechen im Verlauf der hektischen und oft unüberschaubaren Betriebsamkeit einer vollbelegten Wärmestube zwischen SozialarbeiterInnen bzw. -pädagogInnen einerseits und den BesucherInnen andererseits immer wieder Handlungssituationen auf, die nicht eindeutig sind und des öfteren zu Mißverständnissen Anlaß geben, vor allem dann, wenn es um der Regeln geht, die die Funktionsfähigkeit der Einrichtung sicherstellen sollen. Im Zweifelsfall setzen sich die SozialarbeiterInnen bzw. -pädagogInnen gegenüber den Wohnungslosen durch und konfrontieren die BesucherInnen im besten Fall mit ihrer Sicht des Vorgangs, während andererseits die BesucherInnen in der Regel bestrebt sind, Regelungen zu ihrem Vorteil zu unterlaufen[12]. Dieses verhängnisvolle Beziehungsgeflecht mit seinen wechselseitigen Unterstellungen, Verdächtigungen, Anschuldigungen, Vorwürfen, versteckt oder offen ausgetragenen und bisweilen gewalttätigen Auseinandersetzungen ist gleichsam institutionell vorprogrammiert, ohne daß beiden Seiten von vorneherein eine böse Absicht unterstellt werden könnte. Aufbrechende Konflikte werden von den Wohnungslosen aufgrund ihrer objektiv schlechteren Handlungsposition häufig durch einfaches Wegbleiben gelöst. Während die SozialarbeiterInnen und -pädagogInnen (häufig zuunrecht) solche Reaktionen als Schuldeingeständnis interpretieren, wird der Sachverhalt von den Wohnungslosen meistens völlig anders wahrgenommen und dargestellt. In verallgemeinerter Form kann dieser strukturell bedingte Mechanismus als angebotsimmanentes Prinzip einer Disziplinierung und Entmündigung der Wohnungslosen verstanden werden. Steht ein derartiges Hilfeangebot im Widerspruch zu subjektiv bedeutsamen Lebensäußerungen und -bedürfnissen, muß es verweigert werden. In Konfliktsituationen, wie im Fall von WERNER, tritt das Moment der persönlichen Verletzung hinzu: Der ganze Sinn des Engagements von Seiten der Wohnungslosen wird durch das signalisierte Mißtrauen im schlimmsten Fall vollständig diskreditiert. Eine derart schmerzliche Erfahrung "vertreibender Hilfe" zwingt notwendig zu Umorientierungen dahingehend, die Angebote in Zukunft nur noch instrumental zu nutzen oder ganz auf sie zu verzichten, was zugleich bedeutet, einen weiteren Übergang in dauerhafte Wohnungslosigkeit zu vollziehen.

WERNER hingegen hat zu diesem Zeitpunkt das Glück, auf eine Alternative zu treffen. In seiner Situation - "Was habe ich denn vorher gemacht?" - kommt ihm Besetzung der leerstehenden Container am Hegelplatz gerade recht. Anfangs steht er der Aktion skeptisch gegenüber, ihm fehlt das Antizipationsvermögen bezüglich möglicher Wirkungen einer öffentlichkeitsträchtigen Aktion mit Unterstützung durch eine wohlgesonnene Presse, er verfügt über keinerlei vergleichbaren Erfahrungshintergrund, den ihn auch die anderen Beteiligten während der Vorbereitungsphase nicht haben vermitteln können. Dennoch artikuliert er deutlich die zentralen Beweggründe seiner Beteiligung. Nicht ein abstraktes Engagement gegen die allgemeine Wohnungsmisere, sondern eine ganz persönliche Not, die es zu beseitigen gilt, ist ausschlaggebend: "Ich liege auf der Straße! Ich habe nichts!" Demgegenüber ist das Ansinnen, angesichts des drohenden Winters in leerstehenden Containern einigermaßen vor dem Frost geschützt über den Winter zu kommen, eine aussichtsreiche, sinnvolle und erstrebenswerte Perspektive. Während der Aktion setzt er sich besonders für die Einhaltung der selbsterstellten Regeln und Vereinbarungen ein, hierin zeigt sich wiederum sein Bedürfnis zur unzweideutigen Gestaltung von sozialen Beziehungen als wichtige Voraussetzung für ein funktionierendes Zusammenleben unter den improvisierten und beengten Verhältnissen. Die Erfolge der Besetzung entkräften nicht nur WERNERS ursprüngliche Befürchtungen, der ausgehandelte Kompromiß der Unterbringung in einem Wohnkomplex in der Rhinstraße übertrifft noch bei weitem seine Erwartungen. Die in gemeinsamer Aktion erreichte befristete Unterkunftsmöglichkeit ist für ihn Basis zur Realisierung weitergehender persönlicher Schritte. Die Wiedererlangung von Wohnung und Arbeit stehen dabei für ihn an vorderster Stelle. Aber auch aus dieser vergleichbar privilegierten Ausgangsposition heraus wird es noch schwierig genug sein, eine deutliche Veränderung der Lebensumstände herbeizuführen.

In bilanzierender Betrachtung ist WERNERS Biografie trotz der vielen scheinbar typischen und beinahe stereotypen Elemente eines kontinuierlichen sozialen Abstiegs in die Wohnungslosigkeit eigentlich alles andere als eine Geschichte des langsamen Scheiterns. Stattdessen beinhaltet sie eine nur schwer zu erklärende Häufung von Situationen, die in ihrer kuriosen Zufälligkeit einer gewissen Tragik nicht entbehren, denen aber gleichzeitig ein zentrales biografiegestaltendes Gewicht zukommt. Es sind unvorhergesehene Rückschläge, zu denen er sich verhalten muß. Sie erfordern neue Orientierungsleistungen und erzwingen die Wahrnehmung und Ausnutzung der darin enthaltenen Möglichkeiten, wobei durch die Versuche, konstruktiv mit der jeweilig neuen Lage umzugehen, ein Handlungswissen erworben wird. Mit diesem Erfahrungshintergrund kann er angemessener als andere mit dem Tatbestand seiner Wohnungslosigkeit umgehen und eher unübliche Strategien einschlagen. Dabei ist er nicht einseitig auf einen vermeintlichen Lösungsweg fixiert, sondern greift vielmehr auf verschiedene Beziehungsnetze (Hausbesetzer, Wärmestuben, Hegelplatz) zurück, wird in ihnen tätig und erreicht damit ein Mindestmaß an persönlicher Stabilität, die ihm hilft, Enttäuschungen leichter zu verarbeiten und weniger schnell an seiner Lage zu verzweifeln. Dadurch wird er auch zu einem Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte anderer Wohnungsloser und schafft sich weitere Rückkoppelungen. Er erfährt in diesen Beziehungen auch etwas darüber, welche Intensität an Aufmerksamkeit und Engagement er auf dem Hintergrund seiner eigenen Probleme gegenüber anderen zu leisten in der Lage ist. So lernt er nicht nur seine Grenzen kennen, sondern erlangt auch für sich selbst weitere Sicherheit. Dennoch bleibt die Summe seiner Erfahrungen während der Wohnungslosigkeit widersprüchlich, alle Ansätze erweisen sich als brüchig, Skepsis macht sich breit. Die Hausbesetzung war lediglich eine vorübergehende Unterkunftsmöglichkeit, das Engagement in einer Wärmestube endet in einer Enttäuschung und selbst der relative Erfolg der Hegelplatzbesetzung könnte sich als trügerisch erweisen.

Im Unterschied zu HEINER und MARTINA haben für WERNER diese unkonventionellen Selbstorganisationsformen Wohnungsloser keine eigenständige Bedeutung, er sieht darin lediglich ein Mittel zur Rückkehr in den vorherigen Status einer "bürgerlichen Normalität". WERNER benötigt darüber hinaus in erster Linie eine Beratung, die ihn in seinen Bemühungen unterstützt, wieder Anschluß an den gesellschaftlichen Verfügungsprozeß über Arbeit, Geld sowie einer Wohnung herzustellen. Er ist gewohnt, im Zweifelsfall Entscheidungen durchzuhalten, die einen langen Atem erfordern. Damit könnte die Prognose seiner weiteren Zukunft überwiegend positiv ausfallen, vorausgesetzt, daß die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sich nicht weiter verschlechtern. Andernfalls wäre zu fragen, wie vielen innovativen Projekten bzw. Aktionen er sich noch wird anschließen müssen in der Hoffnung, darüber seinen Status quo ante wiederherstellen zu können. Wir hätten in WERNER dann den neuen Typus des erzwungenermaßen kreativen Langzeitwohnungslosen, der bei jedem unkonventionellen neuen (Zeitungs- oder Theater-) Projekt zu finden ist, weil sich vielleicht ja diesmal was in Sachen Wohnung und Arbeit ergeben könnte.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97