Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

1. Biografische Entwicklung

Widersprüche, aus den Lebensbeziehungen entstehend, sowie "Lösungsversuche"

1.1. "Beziehungskonflikte"

Es mag zunächst befremdlich erscheinen, wenn zu Beginn der Auswertung des vorgelegten umfangreichen empirischen Materials zu den Ursachen der Wohnungslosigkeit eben nicht - sich scheinbar aufdrängende - harte Faktoren, wie

genannt und diskutiert werden, sondern ein eher "weicher", definitorisch nicht leicht zu bestimmender bzw. einzugrenzender Faktor wie "Beziehungskonflikte" thematisiert wird.

Bei diesem Begriff geht es auch nicht darum, den in der öffentlichen Wahrnehmung weit verbreiteten Stereotypen ein neue, weitere und nichtssagende Begriffsschablone hinzuzufügen, vielmehr geht es darum, die Diskussion um die Ursachen der Wohnungslosigkeit um eine wichtige analytische Kategorie zu ergänzen, die sich nach Durchsicht des vorgelegten Materials gleichsam aufdrängt und die zugleich mit dem theoretischen Bezugsrahmen dieser Arbeit, der Tätigkeitstheorie der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie durchaus vereinbar ist.

Wohnungslosigkeit tritt offenbar dann auf, wenn zusätzlich zu den in der Literatur als "gesellschaftliche Bedingungen" von Wohnungslosigkeit diskutierten Faktoren (Arbeitslosigkeit, Einkommensschwierigkeiten, Mietschulden etc.) eine "Störung" oder "besondere Schwierigkeit" in zentralen sozialen Beziehungen (vorwiegend: Ehepartner, Eltern) zu konstatieren ist.

Eine erste Durchsicht (- vergleichende Analyse -) der vorgestellten Biografien mit anderen Untersuchungen hinsichtlich der Angaben über soziale Beziehungen der befragten Personen (SCHMID 1990; KRULL 1990; RUHSTRAT 1991; WEBER 1984; GIRTLER 1980) könnte diesen Eindruck durchaus belegen. Auffällig dabei ist, daß dieser Tatbestand zwar dokumentiert ist, darauf aber - in der Interpretation der biografischen Materials und in der Theoriebildung - nicht explizit eingegangen wird.

Dieser Eindruck hinsichtlich der Verursachung von Wohnungslosigkeit ist m.E. allerdings deutlich abzugrenzen von Auffassungen über defizitäre Persönlichkeitsstrukturen (Bindungsunfähigkeit, Kontaktarmut usw.). Auch sind m.E. "Beziehungsstörungen" nicht der Hauptgrund für das spätere Auftreten von Wohnungslosigkeit, andererseits aber ist festzustellen: Wenn bei einer "typischen" Problemkonstellation zusätzlich eine "Beziehungsstörung" zu konstatieren ist, wird ein späterer Auftritt von Wohnungslosigkeit wahrscheinlicher bzw. ist drohender Wohnungslosigkeit weniger gut vermeidbar.

Wie gesagt, es geht hier nicht um ein neues Erklärungsmodell, sondern um ein analytisches Verständnis des Problems. So wie - nach LEONTJEW 1982 und anderen psychologischen und kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen - Interaktion stets gegenständlich vermittelt ist:

Kommunikation - Interaktion

 Subjekt (Person 1) ->

 Gegenstand ->

  • Gespräch
  • Handlung
  • Tätigkeit
  • Arbeit
 Subjekt (Person 2)

so ist auch - umgekehrt - der Zugang zu Ressourcen (materielle Ressourcen wie Verfügung über Geld, Arbeitsplatz, Wohnung, Eigentum und immaterielle Ressourcen wie Ausbildung, Qualifikationen, soziale Fähigkeiten etc.) stets über Personen vermittelt

 Zugang zu Ressourcen

 Ist-Zustand ->

 Subjekte ->
(Vermittlungsperson) wie

  • Eltern
  • Freunde
  • Lehrer
  • Sozialarbeiter
  • Ordnungskräfte
  • Kollegen
  • Vorgesetzte
  • usw.
 Ziel-Zustand

Eine Reihe von Aussagen der Wohnungslosen im vorherigen Kapitel verdeutlichen die Bedeutung dieses Zusammenhangs. HANS kündigt seinen Arbeitsplatz, weil er von den Kollegen quasi "herausgemobbt" wird, WERNER verläßt die Wohnung, weil ihm die Untreue seiner Freundin unerträglich ist, MARTINA schmeißt die Schule, weil das "reaktionäre Geschwätz" ihres Lehrers ihr auf den Geist geht.

Entwicklungspsychologisch sind solche Muster noch sehr viel interessanter, etwa auf der Ebene, wo Streßsituationen in bei den Eltern schulische Leistungen beeinträchtigen (JENS), in der Jugendzeit andere Prioritäten als die rational vorgegebenen eine Rolle spielen (JOCHEN, MARTIN) oder etwa wenn ein Kind sich in seinem Zuhause von vorneherein abgelehnt fühlt (DIETER).

Mögliche Folgen:

Eltern/ Bezugspersonen

Auf ihre Eltern oder Pflegeeltern nehmen fast alle (bis auf SIEGFRIED, HEINER) in ihren Aussagen Bezug. MARTIN erwähnt dabei ausdrücklich, daß seine heutige Situation in keinem Zusammenhang zu seinem Elternhaus steht. OTTO und Ernst äußern sich an keiner Stelle negativ über ihre Eltern, OTTOS Eltern wären sogar bereit, ihn unter Umständen für eine Zeit bei sich aufzunehmen, auch ACHIMS Mutter ist jederzeit bereit, ihn wieder aufzunehmen. Wenige Wohnungslose haben nach wie vor regelmäßige Kontakte zu Verwandten/ Kindern: WERNER sieht seine Kinder, wie er sagt, "jede Woche". Auch HEINER hat gelegentlichen Kontakt zu seinen Kindern, weiß, was seine "Verflossenen" machen, ist ihnen nicht böse gesonnen.

Bei allen anderen ist eine mehr oder weniger stark ausgesprägte Konfliktlage in Bezug auf ihre Eltern oder Pflegeeltern erkennbar. Mit Ausnahme von GERHARD ist diese Konfliktlage zeitlich zwischen Schulpflicht und Eintritt ins das Erwachsenenalter zu verorten. In der Darstellung werden diese Konfliktlagen unterschiedlich akzentuiert: HERBERT schildert einen situativen Konflikt: "Wenn du die Lehre schmeißt, kommst du ins Heim." Er kann sich mit Nachhilfestunden retten, die Sache ist damit erledigt. Im Gegensatz dazu schildert DIETER den Konflikt als strukturell angelegt: "Meine Mutter war irgendwie so eine verkrachte Existenz gewesen. Hat man ihr auch angesehen, psychisch labil, (...) und dann hat sie sehr aufs Familienleben gedrückt." PAULA bewertet ihre Schwierigkeiten mit der Mutter als ein Emanzipationsproblem: "Die war eine von den ersten Frauen, die einen LKW-Führerschein hatten. Und ich glaube, sie wollte uns anschließend auch gar nicht mehr zu Hause haben im Endeffekt, weil sie nämlich endlich ihre berufliche Freiheit und Verwirklichung hatte und danach wurde das Familienleben noch schlechter." Nick argumentiert emotional, die Einzelheiten treten in den Hintergrund: "Er hat mich einfach angekotzt. Der hat mir immer gesagt gehabt: 'Ja, kiffst du?' Und dann dies und das, und dann hat er mir alles weggenommen." WERNER deutet durch seine heftige Reaktionsbeschreibung die Dramatik seiner Lage indirekt an: "Ich habe einen Stiefvater, und ich wollte von zu Hause weg. Und bei mir gab's zwei Sachen: Entweder ich gehe zur See, oder ich gehe zum Bergbau, (...) nur weit weg von O.Stadt, weit weg von zu Hause."

Auch Tiere können wichtige Beziehungspersonen sein: MARTINA sagt: "Mir soll's gut gehen, den Leuten, die ich mag, soll's gut gehen, und meinem Hund geht's sowieso gut." Noch deutlicher wird die Bedeutung ihres Hundes in einer Aussage von PAULA: "Als der Hund weg war, habe ich kein Leben mehr gehabt." Tiere, in der Regel Hunde werden noch wichtiger in der Lebenslage Wohnungslosigkeit. (Dazu mehr im nächsten Abschnitt.)

Nichthereosexuelle Lebenskonzepte

Über den Anteil der Homosexuellen in der Gruppe der Wohnungslosen und eventuell bestehende besondere Problematiken ist wenig bekannt. Grundsätzlich muß der Zusammenhang Sexualität und Wohnungslosigkeit als nicht hinreichend untersucht gelten. Nach LUTZ 1987, der in einer Studie über "Frauenvorstellungen nichtseßhafter Männer" diese Fragen am Rande behandelt, gibt es über Homosexualität bei Wohnungslosen weder verläßliche Daten, ebensowenig Hinweise auf einen überdurchschnittlichen Anteil im Vergleich zu Gesamtbevölkerung, noch ist ein Kausalzusammenhang von Homosexualität und Wohnungslosigkeit erkennbar. Eine ganze Reihe von Wohnungslosen äußern dagegen die Mutmaßung, daß der Anteil Nicht-Heterosexueller unter den Wohnungslosen überdurchschnittlich hoch sei. Wenn insgesamt mit JOCHEN nur immerhin noch 1 weiterer von den hier vorgestellten 17 Wohnungslosen ein nichtheterosexuelles Lebenskonzept thematisiert - das entspricht einem Anteil von 11,76% von 100% der in dieser Auswahl vertretenen Wohnungslosen- so ist das, auch in Übereinstimmung mit meinen anderen Daten aus der Feldforschung, m.E. eine signifikante Größenordnung.

Auch zu dem von JOCHEN angesprochenen Phänomen der homosexueller Prostitution als Überlebensstrategie jüngerer Wohnungsloser liegt keine Untersuchungen vor. Eine Ausbeutungsbeziehung Sexualität gegen Unterkunft gab zwar einen entscheidenen Ausschlag zu einer erneuten Flucht auf die Straße, ist aber auch in heterosexuellen Beziehungskonstellationen ein mögliches zentrales Problemelement. In erster Linie kommt in JOCHENS Erfahrungen die immer noch dominierende gesellschaftliche Verurteilung und praktische Ausgrenzung nichtheterosexueller Lebenskonzepte deutlich zum Ausdruck, eine übergreifende Thematik, die sich aber in Verbindung mit Wohnungslosigkeit als zusätzliches wesentliches Handikap erweisen kann. Das in diesem Zusammenhang wohl drängendste Problem, das es zu untersuchen und vor allem in der Praxis zu verändern gilt, betrifft das Hilfesystem selbst. Durch Homosexualität werden bestehende Problematiken lediglich verschärft, Homosexualität kann sich in Verbindung mit Wohnungslosigkeit und ihrer Entstehung als zusätzlich verschärfendes Element in einer zu bewältigenden Problematik erweisen, insbesondere dann, wenn Hilfeeinrichtungen und -angebote sich nach wie vor an ausschschließlich heterosexuellen Leitbildern orientieren.

Individualisierungsdynamik

"Die Individualisierungsdynamik, die die Menschen aus Klassenkulturen herausgelöst hat, macht auch vor der Toren der Familie nicht halt. Die Menschen werden mit einer Gewalt, die sie selbst nicht begreifen und deren innerste Verkörperung bei aller Fremdheit, mit der sie über sie kommt, auch sie selbst nicht aus den Fassungen des Geschlechts, seinen ständischen Attributen und Vorgegebenheiten, herausgelöst oder doch bis ins Innerste der Seele hinein erschüttert. Das Gesetz, das über sie kommt, lautet: Ich bin Ich, und dann: Ich bin Frau. Ich bin Ich, und dann: Ich bin Mann. Zwischen Ich und zugemuteter Frau, Ich und zugemutetem Mann klaffen Welten. Dabei bedeutet und bewirkt der Individualisierungsprozeß Gegensätzliches: Einerseits werden Männer und Frauen auf der Suche nach einem 'eigenen Leben' aus traditionellen Formen und Rollenzuweisungen freigesetzt. Auf der anderen Seite werden die Menschen in ausgedünnten Sozialbeziehungen in die Zweisamkeit, in die Suche nach dem Partnerglück hineingetrieben."
(BECK 1986, S. 175; Hervorhebungen im Original.).

Dagegen ist bereits in der Vorphase der Wohnungslosigkeit festzustellen, daß Wohnungslose in ein Armutszölibat (SPECHT) hineingetrieben werden. Gerade in der Situation der Wohnungslosigkeit ist ein Ausleben und Befriedigen sexueller und erotischer Bedürfnisse in der Regel aufgrund der Umstände der Lebenslage (Öffentlichkeit ohne private Rückzugsmöglichkeiten) kaum möglich. Die Auswirkungen eines solchen Zwangszölibats auf die Persönlichkeit ist im Zusammenhang mit Wohnungslosigkeit bislang noch nicht untersucht worden.

Wohnungslosigkeit als Resultat männlicher Identität/ Mann-Sein als Bestandteil der Verursachungsproblematik

Inwiefern geschlechtssspezifische Handlungsmuster von Männern Bestandteil der Verurssachungsproblematik von Wohnungslosigkeit sind, ist bisher so gut wie nicht untersucht. Einen ersten Ansatz dazu bietet die Arbeit von FRIEBEL 1993. Bei den Frauen: "Die Frauen sind oft nur 'einen Mann weit' von der Armut entfernt." (BECK 1986, S. 183)

1.2. Alkohol und Drogen

Der Stellenwert des Konsums von Alkohol und Drogen im Kontext der Biografie und der aktuellen Lebenssituation Obdachloser gehört zu der am schwierigsten einzuschätzenden Frage im Kontext des Problems Wohnungslosigkeit und dessen Verursachen.

OTTO berichtet von seinem Drogenkonsum (Heroin), den er nach einer Therapie unter Kontrolle hat: Er ist jetzt für seine Begriffe clean. MARTINA berichtet ebenfalls aus einer vergangenen Phase ihrer Biografie: "Von 13 bis 16 war ich echt hardcore Alki irgendwie. Schon ziemlich derbe." Das ist jetzt vorbei, sie hat eine Abgrenzung gefunden: "Mit Junk habe ich trotzdem nichts am Hut.", trinkt aber weiterhin Alkohol: "Ich kann diese Welt nüchtern nicht vertragen." ACHIM berichtet über die Anfänge seines Alkoholkonsums: "Eigentlich weiß ich das gar nicht so richtig. (...) Ich meine, ich habe schon immer mal Alkohol getrunken." (ACHIM)

Es ist höchst auffällig, daß in Bezug auf Alkohol und/oder andere Drogen in den Aussagen der Wohnungslosen die Subjekt- bzw. die Handlungsperspektive verloren geht. "Man" hat den Drogenkonsum nicht etwa bewußt begonnen oder gemacht, sondern "man" ist "in etwas reingeschlittert".

In der Einschätzung des Alkohol- und Drogenproblems wäre es aber ein Fehler, den Konsum lediglich als nicht-adäquates Mittel in Sachen individuelles Problemmanagement zu bewerten:

"'Werner', sagt er, 'haben wir einen Jungen?' Ich sage: 'Ja.' Da hat er den Matrosen, mit dem ich zusammen am Ruder war, den hat er runtergeschickt, einen anderen Lehrling holen, der mußte rüber und Ruderwache übernehmen, und dann haben wir 3 Tage nur gesoffen, aber frag mich nicht. Mein fast-Schwiegervater in spe durfte in seiner komischen Sitzecke schlafen, ich habe in seinem Bett gepennt, wenn ich mal umgefallen bin. Au, haben wir gesoffen. - Ich sage dir, einige Flaschen waren das, er hat ja bezahlt."
(WERNER)

Dieses Beispiel macht deutlich, daß es falsch wäre, im Alkohol nur das Mittel zur Krisenbewältigung zu sehen. Auch Feiern, freudige Anlässe, Ereignisse werden so gefeiert, und, wie dieses Beispiel zeigt, nicht weniger exzessiv als wenn es darum geht, Ärger, Frust, Verlust oder Verzweiflung wegzuspülen, sich die Sorgen zu verdünnen. Dennoch sind gerade Alkohol und andere Drogen geeignet, die Widersprüche im "Bedeutungsüberschuß des gelebten Lebens" (NIETHAMMER) zum Verstummen bringen. (RUPPRECHT 1991, 39). Ich wage die These: Der Konsum von Drogen im Vorfeld von Wohnungslosigkeit und in der konkreten Situation auf der Straße befördert die Internalisierung negativer Erfahrungen, die sich dann, mittels der Droge, in einem Prozeß schleichender Selbstzerstörung fortsetzt. Wie HANS so schön sagte: "Laß die Karre rollen, wie sie rollt, wenn ich tot bin, bin ich tot, dann kräht keine Sau mehr danach!"

Die Wohnungslosen, die sich intensiver mit Alkohol in ihrer Lebenslage befassen, beschreiben:

"Ich kann auf der Stelle aufhören. Ich habe das schon mal 7 Tage lang gemacht, weil ich so einen Tatterich hatte und Schweißausbrüche, heiß und kalt. Da habe ich einfach nicht mehr gesoffen." (HERBERT) - "Außerdem, da muß man selber den Willen haben." (HERBERT) - "Aber das war eigentlich nicht mein Problem." (ACHIM)

Jeder ist mit seinen Problemen allein, aber Alkohol beschreibt zugleich einen (subjektiven) Weg, die Probleme - "Hier, zur Stärkung!" (WALLRAFF 1975, 15) -, aber auch die Freuden zu teilen. Alkohol und Stärkung bei der Bewältigung akuter Sorgen der Lebenslagebewältigung und unbewältigter Probleme der eigenen Lebensgeschichte.

Zur Einschätzung, alle Wohnungslosen seien Alkoholiker, schreibt ROHRMANN 1987:

"Wohnungslose werden vielfach in der Öffentlichkeit gesehen, wenn sie Alkohol zu sich nehmen. Da in der Regel nicht berücksichtigt wird, daß alles, was Menschen ohne Wohnung tun, in einer erzwungenen Öffentlichkeit geschehen muß, ist dieses Erscheinungsbild eine wichtige Ursache für die fast durchgängige Zuschreibung: 'Alle Penner sind Alkoholiker.' Zwar ist nicht zu bestreiten, daß zahlreich sog. 'Nichtseßhafte' wirklich Alkoholprobleme haben, doch ist keineswegs jeder Stadtstreicher zugleich ein Alkoholiker. (...) Nicht jeder Mensch, der ohne Wohnung lebt, trinkt Alkohol und nicht jeder Wohnungslose, der nicht abstinent lebt, hat Alkoholprobleme oder ist gar ein Alkoholiker. Es muß zwar tatsächlich davon ausgegangen werden, daß ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Nichtseßhaften Alkoholprobleme hat, doch erweist sich die oben angeführte Zuschreibung als falsch. Vielmehr lassen sich auch bei den Nichtseßhaften alle Formen des Trinkens ausmachen, wie sie auch bei der übrigen Bevölkerung zu beobachten sind. Der Unterschied ist nur: Wer in einer Wohnung lebt und damit über einen Privatbereich verfügt, kann dort, allein oder mit Freunden, abgeschirmt von den Augen der Öffentlichkeit Alkohol trinken. Wer keine Wohnung hat, hat diese Rückzugsmöglichkeit nicht.
Das Vorurteil, alle Wohnungslosen sind Alkoholiker, findet sich auch bei vielen Vertretern der Nichtseßhaftenhilfe. Dies zeigt sich zum einen in der schon beschriebenen, meist rigiden Alkoholverbotspraxis in diesen Einrichtungen, zum anderen in der wachsenden Anzahl von Therapieangeboten für Wohnungslose, die kurzerhand das Alkoholproblem zu ihrem Hauptproblem erklären und sich auf die Bearbeitung des Alkoholproblems bei 'Nichtseßhaften' spezialisiert haben."
(ROHRMANN 1987, 101)

Heroin

Für OTTO war die Schulzeit der Einstieg in die Drogenkarriere. Treibendes Motiv war sein Bedürfnis nach Anerkennung in der Schulclique, vor allem bei Mädchen. Obwohl er während dieser Zeit nicht wohnungslos wird, ist hier ein Problemfeld erkennbar. OTTOs Einstieg in eine Drogenkarriere in der Schule muß als typisch gelten, Schule ist Umschlagplatz für Drogen. Nach den Aussagen von FRANK, PAULA, NICK und vor allem von MARTINA ist ein erheblicher Teil der Heroinkonsumenten ebenfalls wohnungslos. Das Thema Heroin - "Dann müssen sie echt mit aller Gewalt am Zoo stehen und drauf sein. Das wollen die direkt, die lesen einmal Christiane F. oder sehen den Film, und dann sind die voll begeistert." (NICK)- und die Notwendigkeit der Beschaffung finanzieller Mittel in Zusammenhang mit Verursachung von Wohnungslosigkeit und die Lebenslage heroinsüchtiger Obdachloser sind in der Fachdiskussion um Wohnungslosigkeit ebenfalls bislang nicht hinreichend untersucht.

1.3. Schule, Ausbildung, Arbeit, Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfälle

Schule

Schule wird vorwiegend von den Jüngeren thematisiert. Eine Ausnahme machen hier HERBERT, WERNER und HANS. Für HERBERT ist in der Not der Nachkriegszeit das Wäscheaustragen und die damit verbundene materielle Zuwendung - Weihnachten auch mal eine Schokolade - die lohnenswerte Alternative zur geistigen Erbauung im Schulgottesdienst, bei WERNER wird über die Schulpflicht der Konflikt mit seinen Eltern zu seinen Ungunsten ausgetragen. Dadurch wird er 2 Jahre lang daran gehindert, daß zu tun, was er eigentlich will: Von zu Hause wegzukommen und ein Ausbildung anzufangen. HANS berichtet aus der Schulzeit von seiner ersten bewußten Konfrontation mit dem Problem Obdachlosigkeit im Kontext eines Klassenbesuchs beim Sozialamt. Das herrschende Paradigma bei der Aufklärung über die Ursachen der Obdachlosigkeit war, wie HANS berichtet: "Das sind Menschen, die sind zu faul zum Arbeiten, die gehen zum Sozialamt." Diese in der Schule vermittelte Auffassung hat sich HANS zu eigen gemacht, auch wenn er auch heutiger Sicht und auf dem Hintergrund eigener Erfahrung die Radikalität dieser Auffassung mit Blick auf die gesellschaftlichen Handlungsbedingungen (Krieg, Geldentwertung, Arbeitslosigkeit) und den damit verbunden Sinnverlust zu relativieren in der Lage ist.

MARTINA und NICK, die jüngesten, haben ihre Schulausbildung vorzeitig abgebrochen. (2 von 17 Personen = 11,76% der Untersuchungsgruppe) Für NICK ist der Konflikt mit seinem Vater der ausschlaggebende Grund, auf die Straße zu gehen. Unter diesen Umständen ist ein geregelter Schulbesuch nicht mehr denkbar. MARTINA ist aufs Gymnasium gegangen: "Wenn ich mir das so überlege, ich hätte auch irgendwie das Abi machen und studieren können. Dann würde ich jetzt gerade Abi machen." (MARTINA).

In zunehmenden Maße wird von einigen jüngeren Wohnungslosen die Bedeutung schulischer Qualifikation für den späteren Erfolg in der Berufswelt gesehen. In den Aussagen von JENS, der sich für Sport statt für Schule interessiert - "Ich habe andere Inhalte gehabt" - und MARTINA, die von den 'dummen Lehrern ', den 'dummen Sprüchen' angenervt ist, weil sie schon "früh mit bestimmten Dingen, so wie Friedenskacke" befaßt ist, wird ein Auseinanderfallen von schulischem Angebot und Interessen der Schüler deutlich. Schlechte schulische Leistungen sind demnach nicht nur ein Resultat der Wechselwirkung mit der häuslichen Situation.

Ausbildung

Eine (Berufs-)Ausbildung abgeschlossen haben JENS, HERBERT, MARTIN, OTTO, ACHIM, FRANK, SIEGFRIED, HEINER und WERNER (9 von 17 Personen = 52,95% der Untersuchungsgruppe). Eine (Berufs-)Ausbildung angefangen haben JOCHEN , DIETER und PAULA (3 von 17 Personen = 17,65% der Untersuchungsgruppe).
Eine zusätzliche Ausbildung bzw. Umschulung haben OTTO und FRANK (2 von 17 Personen = 17,65% der Untersuchungsgruppe) gemacht, Autodidaktisch Kompetenzen angeeignet haben sich PAULA und ACHIM (2 von 17 Personen = 11,76% der Untersuchungsgruppe). Die Kompetenzen für seine landwirtschaftliche Tätigkeit konnte sich ERNST wahrscheinlich auf dem Hof seiner Eltern aneignen. (1 von 17 Personen = 5,88% der Untersuchungsgruppe)

Motive der Ausbildung

DIETER: "Ich versuchte optimal so meine Interessen zu wecken, nur das war nicht einfach." Auch: Distanz von Zuhause.
JENS: Chance, "über mich noch mal nachzudenken, über alle Sachen und alle Probleme, die ich gehabt habe, mir klar zu werden und umsetzen zu können."
JOCHEN: Teil seines Lebensplans, Ausbildungsstelle dann durch Vater vermittelt.
MARTINA: Unter Zwang "Und dann haben sie mich in die Speditionslehre gesteckt mal kurz und ich habe da gar kein Talent für."
WERNER: "Bloß weit weg von zuhause!"

Motive, die Ausbildung abzubrechen

JOCHEN: "Das Interesse hatte ich schon allein dadurch verloren, weil die Waren, die ich anbieten sollte, ich hatte da keine Ahnung von, konnte mich da einfach nicht für begeistern, das Betriebsklima war auch nicht so besonders. Die Probezeit hätte ich nicht bestanden gehabt, aber auf meinen eigenen Wunsch hätte ich noch einen Monat da weitermachen können, um mich eventuell mal zu verbessern. Bloß auf meinen eigenen Wunsch bin ich dann weg."
DIETER : "Dann habe ich versucht, in S.Stadt meine Lehre zu machen, irgendwie habe ich da aber nicht die richtige Kurve gekriegt und dann damals eingebrochen. Ich habe damals die Lehre geschmissen, weil ich auch nicht mehr selber klar kam, weil ich das alles irgendwie öde fand."
PAULA: "Ich habe sofort festgestellt, daß ich das nie im Leben durchhalte und daß mir der Beruf verquer ist. Und ich habe auch keine kaufmännischen Talente, Mathematik war mir schon immer ein Greuel."

Eine Ausbildung, die unter den Voraussetzungen, wie sie von JOCHEN, DIETER und PAULA (3 von 17 Personen = 17,65% der Untersuchungsgruppe) beschrieben wurden, begonnen wurden, kann auch nicht gut gehen, weil das Motiv für die Sache fehlt.

Arbeit

Als ungelernte Arbeitskräfte haben HANS, ERNST und GERHARD gearbeitet (3 von 17 Personen = 17,65% der Untersuchungsgruppe). Für alle 3 boten sich zunächst günstige Arbeitsmöglichkeiten Dazu muß gesehen werden, daß der Beginn ihrer Arbeitstätigkeit in die Zeit des Wiederaufbaus fiel, in der es einen hohen Arbeitskraftmangel gab und der beruflichen Qualifikation eine untergeordnete Bedeutung zukam. Später Entwertung durch

Im gelernten Beruf haben zunächst gearbeitet: JENS, HERBERT, MARTIN, ACHIM, FRANK, SIEGFRIED, WERNER. (7 von 17 Personen = 41,18% der Untersuchungsgruppe)

Nicht im gelernten Beruf konnte HEINER arbeiten, weil ihm nach Ablauf der Lehrzeit als Lackierer eine Allergie ein weiteres Arbeiten in diesem Beruf unmöglich machte. Sowie OTTO, der sich nach der Lehrzeit als Stahlbetonbauer als Heroinzwischenhändler betätigte. (2 von 17 Personen = 11,76% der Untersuchungsgruppe)

Allerdings hat OTTO nach seiner 2. Ausbildung als Dreher in diesem Beruf gearbeitet, ebenso FRANK nach seiner Umschulung als Finanzkaufmann. (2 von 17 Personen = 11,76% der Untersuchungsgruppe)

mobbing

"Mobbing" am Arbeitsplatz wird als Problem vergleichsweise häufig formuliert, zum Beispiel: PAULA, HANS, OTTO, GERHARD, DIETER, JOCHEN (6 von 17 Personen = 35,3% der Untersuchungsgruppe)

JOCHEN: "Naja, ich sollte normalerweise, es wären Grundkenntnisse gewesen. Zum Beispiel, wie eine Bohrmaschine aufgebaut ist und so weiter. Ja, und das Betriebsklima da war auch nicht so besonders, naja, und dann bin ich mehr oder weniger von alleine gegangen."

Das angesprochene Problem des "Nicht-mit-XY-Zurechtkommens" (PAULA),"An-der-Seite-lang-Arbeitens" (HANS) über "Provokationen" (DIETER) und "Die-Kündigung-nahelegen" (FRANK) bis hin zum gezielten "Rausekeln" (OTTO) ist ein bislang noch wenig untersuchtes Phänomen in der Arbeitswelt. Auffällig die Häufung solcher Aussagen bei meinen Gesprächspartnern.

Ende der Arbeit/ Stellenwechsel/ Arbeitslosigkeit

In Verbindung mit Alkohol: (4 von 17 Personen = 23,53% der Untersuchungsgruppe), davon:

Alkohol: MARTIN, ACHIM
Fehlen am Arbeitsplatz und Alkohol: HERBERT
Tod der Frau, Alkohol: ACHIM

Stelleneinsparungen durch Wende: JENS
Abwicklung durch Wende: DIETER, FRANK
Gekündigt aufgrund HIV-Infektion: OTTO
Konkurs: HANS
Unfall: ERNST, GERHARD, WERNER ähnlich GERHARD in Verbindung mit Abwicklung durch Wende (4 von 17 Personen = 23,53% der Untersuchungsgruppe)

Das ist ein allgemeines Thema: Bei so einfachen Berufen wie Maler, Fernfahrer und ungelernten Sachen ist zu konstatieren eine Entwertung der Arbeitskraft durch bloßes Älterwerden sowie körperlichem Verschleiß: damit erhöhtes Risiko der Arbeitslosigkeit.

Arbeitslosigkeit

Auffällig ist, daß das Phänomen einer über den direkten Arbeitskontext hinausgehenden Kollegialität sich ausschließlich auf die frühere DDR bezieht, keiner der anderen hier vorgestellten Wohnungslosen benennt vergleichbare Erfahrungen aus Berlin oder den alten Bundesgebiet (siehe GERHARD und DIETER)Auch noch in der Wohnungslosigkeit beschreibt er das Verhältnis zu den ehemaligen Arbeitskollegen als intakt und konstruktiv. "Die haben mir auch schon viel geholfen und werden mir auch helfen." Bei ihnen findet er Verständnis und gelegentlich etwas mehr. "Wenn ich zu abgespannt und erschöpft bin. Die haben mir gesagt, da kann ich mal kommen und mich ausschlafen." Das Beziehungsnetz, das er in Extremsituationen in Anspruch nehmen kann, ist einer der wenigen Rettungsanker.

1.4. Wohnsituation

"Wohnen umfaßt physische, soziale und psychologische Prozesse, die sich mit folgenden Gegensatzpaaren annäherungsweise beschreiben lassen:
 
 drinnen  draußen
 zu Hause  unterwegs
 verdichtet  gestreut
 ruhig  bewegt
 anregend  langweilig
 privat  öffentlich
 unsichtbar  sichtbar
 individuell  kollektiv
 unverwechselbar  konform
 allein  zusammen
 selbstbestimmt  fremdbestimmt
 sicher  unsicher
 vertraut  fremd
 vorhersagbar  unbestimmt

(FLADE 1987, S. 17, Tabellarische Anordnung durch den Autor)
 

Wohnen ist eine spezifische Form der menschlichen Existenz, ein Austauschprozeß von Mensch und Umwelt. Wohnen ist eine besondere Art menschlicher Tätigkeit - Tätigkeit hier zunächst allgemein verstanden als der Prozeß, der die Subjekte mit der gegenständlichen Welt verbindet. Zugleich macht die vorstehende Auflistung der Antinomien zwischen "drinnen und draußen", zwischen "Wohnen und auf der Straße leben" deutlich, daß das Leben auf der Straße durchaus auch Momente enthält oder enthalten kann, die eben nicht in den eigenen vier Wänden zu realisieren sind. Gleichzeitig: Die eigentliche persönliche Bedeutung der Wohnung offenbart sich dann im Zustand der Wohnungslosigkeit:

Mit dem Kauf bzw. der Miete der Ware Wohnung wird nicht nur der Gebrauch derselben gekauft bzw. für die Dauer eines bestimmten Zeitraums gemietet, vielmehr umfaßt die Miete der Ware Wohnung auch die Miete des Gebrauchs der (Außen-)Toilette, des Waschbeckens, der Elektrik (wobei der Verbrauch von Elektrizität extra zu bezahlen ist), der Türklingel, des Kochherdes, der Heizungsmöglichkeit (Ofen, Heizkörper etc.) usw. usw. Der Gebrauchswert der Ware Wohnung umfaßt in diesem Sinne eine Menge von Gebrauchswerten, die in dieser Ware vereinigt sind. Mit dem Verlust der jeweils eigenen Wohnung (und abgesehen von aufgrund sozialer Beziehungen gewärter Gebrauchsmöglichkeiten aus der Gebrauchswert-Menge Wohnung) unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen der Verwertung des Werts für die Nutzung aller sonst üblicherweise in der Wohnung vereinigten Gebrauchswerte ebenfalls gekauft werden muß: Beispiele Waschsalon, Bahnhofstoilette (Ffm: 50 Pfennig), Unterkunft usw. ??Nur wenige Bereiche sind kostenlos vergesellschaftet??

Die eigene Wohnung aufgegeben

Fast schon signifikant als häufige Ursache im Zusammenhang mit den späteren, möglichen Auftritt von Wohnungslosigkeit ist ein Phänomen, das ACHIM, FRANK und WERNER benennt, nämlich die eigene Wohnung zu verlassen.

"Ich habe mal mit einem Mädel zusammengelebt über 8 Jahre bis voriges Jahr, ich hatte 2 Kinder, das sei dahingestellt, und ich habe den Fehler gemacht, ich habe eine eigene Wohnung gehabt, ich habe meine Wohnung aufgegeben gehabt. Ich bin bei ihr mit eingezogen als Untermieter, und wo es da voriges Jahr zum Riesenkrach kam, stand ich plötzlich auf der Straße." (WERNER)

Auffällig hier die passivische Wendung zum Schluß. Das ist natürlich Quatsch, aber offenbar eine typische Form subjektiver Verarbeitung. Niemand landet auf der Straße oder wird Wohnungslos. Dies ist keine Spitzfindigkeit, sondern es kommt mir darauf an, festzustellen, daß der Auftritt von Wohnungslosigkeit kein subjektloses Ereignis oder eine subjektlose Katastrophe ist, sondern das es die Folge des Handeln von Subjekten ist. Dieses läßt sich in der Regel benennen.

Auffällig ist ein wiederholter eklatanter Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, eine eigene Wohnung zu haben und der tatsächlichen Form der Nutzung. Das kommt in einer Äußerung von WERNER besonders deutlich zum Ausdruck:

WERNER: "Aber da ich eine Wohnung brauchte, (...) ich habe eine Wohnung gekriegt, und sie hat bei mir mit drin gewohnt. Da hatte ich ein eigenes Zimmer für mich gehabt. Und da ich ja sowieso, kannst sagen, alle Vierteljahre bloß zu Hause war, war das eben die Wohnung von meiner Oma, mehr brauchte ich nicht. Ich habe da bloß übernachtet."

Angesichts des erheblichen Leerstands an Wohnungsbeständen, der mit der Einheit der Stadt und dem Abzug der Alliierten um ein vielfaches vermehrt hat, ist es erstaunlich, daß nur wenige Wohnungslose zur Besetzerszene dazuzurechnen sind (MARTINA) beziehungsweise zu zeitweiligen Kontakten zur Besetzerszene verfügten (WERNER) oder selbst aktiv Hausbesetzungen (PAULA in Italien) betreiben. Der Zusammenhang von Wohnungslosen und der Hausbesetzerszene ist aber gleichzeitig auch bislang sogut wie noch nicht erforscht.


1.5. Gesellschaftliche Umbruchsituationen

In der Wahrnehmung von Rechten und Möglichkeiten sind Arme benachteiligt und zur Zeit noch in der Minderheit gegenüber einer "Diktatur der Mittelklasse", wie HENKE bezugnehmend auf ein Zitat von Paul RICOER argementiert:

"Die westliche Demokratie funktioniert nicht mehr, weil die Eroberung der Mehrheitsregel gegen die, die einmal die Minderheit gewesen sind, d. h. die Aristokraten, sich heute gegen eine andere Minderheit wendet, die der Armen. Es gibt eine Mittelklasse, die zahlenmäßig stark genug und auch zufrieden genug ist, um die Armen stets in der Minderheit zu lassen, infolgedessen hat die auf der Mehrheitsregel beruhende Demokratie ihre befreiende Funktion verloren. Die Leute, denen es gut geht, sind so zahlreich, daß sie einen Stillstand erzwingen können"
(Paul RICOER cit. nach HENKE 1991, 18)

HENKE fügt hinzu:

"Ein solches 'Zensurwahlrecht' schließt Arme nicht nur aus der Vermögensverteilung, sondern insgesamt aus unserer Demokratie aus. Wir leben in einer Diktatur der Reichen in Koalition mit der 'zahlenmäßig starken und zufriedenen' Mittelklasse"
(HENKE 1991, 18)

Generationenspezifische Unterschiede

Die Älteren gehören zur Kriegsgeneration. ERNST, GERHARD, HEINER werden vor dem 2. Weltkrieg geboren, ihre Kindheit fällt mit dem Krieg zusammen, HANS und HERBERT sind in den späten Kriegsjahren geboren, ihre Kindheit fällt in die Nachkriegszeit. HEINER äußert sich nicht zu dieser Zeit. Für ERNST ist Kindheit gleichbedeutend mit der Erfahrung von Krieg, Flucht, Besetzung und polnischer Nachkriegsordnung, die Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit klingen auch in den Aussagen der anderen älteren an, so bei HERBERT und GERHARD. Für ERNST und HANS bedeutet der Krieg einen tiefen und frühzeitigen Einschnitt in der biografischen Entwicklung, ERNST ist einer anderen Sprache, einer anderen Kultur und einer sich im Laufe der Nachkriegszeit herausbildenden Gesellschaftsform konfrontiert, HANS verliert durch Bombenangriffe seine Eltern und kommt als Kleinkind mit Glück zu seinen Verwandten, die ihn ihre Stellvertreterfunktion bitter sprüren lassen. HERBERT erinnert sich vor allem an die unmittelbare Nachkriegszeit, in der "Kohldampf schieben" für ihn auf der Tagesordnung stand. Für GERHARD, der 1935 geboren ist, sind die ersten 10 Jahre seines Lebens "keine Zeit", er kann es nicht als Zeit rechnen, spricht nicht über seine Kindheit im Krieg. Er faßt lediglich eindringlich seine Erfahrungen zusammen: "Das darf ja nie wieder sich wiederholen."

Ein unmittelbarer Zusammenhang zur späteren Wohnungslosigkeit ist nicht erkennbar. Allerdings: Mehr als in anderen gesellschaftlichen Umbruchsituationen werden durch den 2. Weltkrieg und die Nachkriegsordnung Realitäten geschaffen, die für den weiteren Biografieverlauf maßgeblich sind. HANS ist Kriegswaise, ERNST Heimat wird polnisch. Eine andere Ebene der Wirkung des Krieges sind die Erfahrungen von Tod, Zerstörung, Vertreibung, materieller Not und Hunger. Es sind Erfahrungen, die sich später in der Wohnungslosigkeit zu wiederholen scheinen. GERHARD sagt: "Das ist ja kein Leben, das ist ja nur so ein taktieren (...) nicht nur schwer, auch nicht hart, sondern kritisch, möchte ich sagen." Für ERNST beginnt mit der Verschleppung seiner Schwester durch die Sowjetarmee eine Kette von Beziehungsverlusten, die damit enden, daß er - ausgesperrt von seiner Frau - allein auf der Straße ist.

In der Tendenz ist eine größere Risikobereitschaft der jüngeren Generation erkennbar, sich von elterlichen Bindungen zu lösen und eigenständige Lösungsversuche anzugehen. Während die Älteren ihre Schulzeit und Ausbildung beenden, und ausziehen, wenn sie über selbstverdientes Geld verfügen, oder die Ausbildung als Mittel nutzen, die Eltern zu verlassen (WERNER) , wird bei den jüngeren verstärkt eine Tendenz sichtbar, die Schule abzubrechen (NICK, MARTINA), von zu Hause auszureißen (PAULA) mit der Volljährigkeit die elterliche Wohnung zu verlassen, oder wegen der Wehrpflicht nach Berlin zu flüchten (JENS), sich nach abgebrochener Ausbildung einen Job zu suchen (JOCHEN), oder die Familie ohne gesicherte finanzielle Grundlage zu verlassen (PAULA).

Diese Hinweise mögen als Beleg dafür gelten, daß mit sich ändernden gesellschaftlichen Grundsituationen sich auch die Handlungsweisen und Reaktionsformen der Individuen wandeln. Eine grundlegende Typisierung von Wohnungslosigkeit als Generationenproblem in einer sich wandelnden Gesellschaft steht noch aus - sie kann im Rahmen dieser Arbeit auch nicht geleistet werden, weil hierzu eine ganze Reihe gesamtgesellschaftlicher Analysen über längere Zeiträume hinweg zu erstellen wären. So konnten allein schon die Aussagen der Wohnungslosen zu gesellschaftlichen Tatbeständen nur in wenigen Einzelfällen anhand objektiver Daten überprüft werden.

Weiter (= Linear Lesen)

Zurück zur Homepage dieser Arbeit

© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97