Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

1. Wohnungslose:
Subjekte ihrer Tätigkeit oder Objekte der Lebensumstände?

Ausschlaggebend für die drastische Zunahme von Wohnungslosigkeit sind vielfältige Faktoren, die bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland, die nicht allein auf die mit der Einheit verbundenen Umwälzungen zurückgeführt werden können, sondern in den Kontexten allgemeiner weltpolitischer und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse diskutiert werden müssen. Alle diese Prozesse verändern und wirken zurück auf die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsräume der Individuen, die sich in dieses Bedingungen zu bewegen haben

Zu nennen sich hier (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

Auf der anderen Seite ist stichwortartig festzuhalten:

1. Im Vorfeld des Auftritts von Wohnungslosigkeit finden sich in der Regel klare Widerspruchskonstellationen.
 
2. Diese Widersprüche - lebensgeschichtlich hervorgegangen aus den Lebensbeziehungen - werden von den Handelnden häufig - subjektiv richtig - einseitig aufgelöst, ohne daß die Tragweite dieser Handlungen richtig, d.h. angemessen antizipiert wird.
Es gibt so gut wie kein (gesellschaftliches) Bewußtsein darüber, daß Wohnungslosigkeit ein allgemeines Problem ist, welches potentiell jeden Betreffen kann. Eine Reihe von Aussagen dokumentieren, daß viele Wohnungslose sich früher nicht haben vorstellen können, jemals selbst auf der Straße zu leben:
 
FRANK: "Ich mein, ich hab ja beide Seiten kennengelernt, ich hab ein gutes Leben kennengelernt, und ich habe jetzt die Straße kennengelernt. Und, ich meine, ich hab mir früher auch keine Gedanken drüber gemacht, so, was überhaupt einer, der hier auf der Straße lebt, was der überhaupt mitmacht."
ACHIM: "Ja, sieh mal, das ist nicht so einfach. Du verstehst das, aber der Rest der Welt, der hier so rumkreucht und fleucht, verstehst du, die Karo-einfach arbeiten, wie ich immer sage, die können ja vorstellen, daß jemand abstürzen kann, was meinst du, was ich in den 2 Jahren an Problemen miterlebt habe, da habe ich zugehört, wa, man muß immer zuhören."
 
3. Entscheidend für den späteren Auftritt von Wohnungslosigkeit sind mit besonderer Häufigkeit Konflikte bzw. Störungen von primären sozialen Beziehungen, die ihrerseits gesellschaftlich vermittelt sind. (Diese Aussage ist nicht als Automatismus gemeint, sondern soll auf individuelle Entwicklungsprozesse verweisen, die, wenn sie denn nachhaltig gestört oder beeinträchtigt werden, die Ausbildung von individueller Handlungsfähigkeit be- und verhindern. Als Resultat sind damit in der Regel individueller Nachteile in der gesellschaftlichen Konkurrenzsituation um Ressourcen (Durchsetzungsfähigkeit, soziale Kompetenzen, Bildung) zu konstatieren.
 
4. Die Bewußtheit des Verhältnisses zur eigenen Person und damit den eigenen Bedürfnissen, Motiven und Zielen, die Bewußtheit um individuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten ist von zentraler Bedeutung für die aktuelle Lebenslage und die Formen und Lösungen individueller Bewältigung der Wohnungslosigkeit.
 
5. Die vorherige These könnte weiter zu folgender Aussage verdichtet werden:
Je bewußter das Verhältnis zur eigenen Person, desto größer der Grad an Nähe zum Hilfesystem, je diffuser das Verhältnis zu eigenen Person, desto eher eine Distanz zum Hilfesystem.
 
6. Die Institutionen der ambulante Hilfe schaffen systematisch eine unentschiedene Zone, in der häufig Weichenstellungen erfolgen in Hinblick auf die Frage nach dem Verbleib in der Wohnungslosigkeit oder dem Zugang zu vermeintlich weiterführenden Hilfeangeboten (vgl. Ambivalenzgruppe).
 
7. Die Personen der Organisationsgruppe repräsentieren nicht nur eine neue Typologie von Wohnungslosen, die aus der Situation ihrer Wohnungslosigkeit heraus produktiv (für sich) etwas schaffen, etwas erreichen wollen, sondern diese Gruppe kennzeichnet auch eine - durchaus ambivalente - Umbruchsituation in der Wohnungslosenhilfe dahingehend, daß anfanghaft mit dieser Situation gearbeitet werden soll.
 
8. Auf dem Hintergrund der individuellen biografischen Entwicklung und den jeweiligen Bedingungen der Lebenslage ist erkennbar, daß sich sich selbstgewählte Umgangsformen mit der Wohnungslosigkeit relativ mit dem Grad an Nähe bzw. Distanz zu den Hilfeangeboten verselbständigen .

Bezüglich der Perspektiven der Wohnungslosen ist festzustellen: Die Wohnungslosen sehen allesamt keinen konkreten, handlungsorientierenden Weg zur Wiedererlangung einer Wohnung. Sie sind gezwungen, auf unspezifische, wenig klar umrissene Lösungsstrategien auszuweichen. Der Wohnungswunsch - sofern er geäußert wird - bleibt abstrakt, muß abstrakt sein. Es bleiben vage Hoffnungen, Aussichten, ausgemalte Chancen. Wichtigster Hoffnungsträger sind nicht die Einrichtungen und Institutionen, sondern konkrete personale Beziehungen, die oftmals über diese Einrichtungen vermittelt sind.

Bei allen Hindernissen, die den Weg und den Zugang zu eigenem Wohnraum erschweren oder verbauen (Arbeitslosigkeit, fehlende Papiere, keine Inanspruchnahme von Transferleistungen des Sozialamts, offene Haftstrafen) muß gesehen werden, daß objektiv kaum Chancen auf den Zugang zu bezahlbaren Wohnungen auf diesem Segment des städtischen Wohnungsmarktes für arme, benachteiligte und unterprivilegierte Gruppen besteht. Dieses Defizit wird konkret bei Kontakten zur Beratungsstelle und sonstigen ambulanten Einrichtungen (Tagestreffs, Wärmestuben), Besuchen auf Wohnungsämtern erfahren und unter den Wohnungslosen kommuniziert.

Zusammenfassend ist festzustellen: Obdachlose sind "Subjekte ihrer Tätigkeit" und "Objekte der Entfremdung" zugleich. Die Entstehung von Wohnungslosigkeit und das Leben auf der Straße sind und verweisen auf eine Widerspruchseinheit zwischen Subjekt und Gesellschaft und ihren jeweiligen Entwicklungsprozessen und konreten Lagen.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97