Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

1.2. in der Lebenslage Wohnungslosigkeit

Die Wohnungslosen können nur wenig verändern - im Sinne einer tätigen Umgestaltung und Selbstbestimmung ihrer Lebensvollzüge - weil sie nur wenig in der Hand haben (vgl. dazu auch LEGEWIE 1987, 301ff).

"Der beständige Versuch, unter Armutsbedingungen zu überleben, erzwingt den Rückgriff auf Formen der Vergesellschaftung, die den historisch verallgemeinerten Produktions- und Reproduktionsbedingungen nicht mehr entsprechen."
(PREUSSER 1983, S. 334)

Dabei kommt metropolitanen Strukturen eine entscheidende Funktion zu, weil in der Anonymität des Molochs Großstadt derartige Prozesse begünstigt werden. Etwas romantisierend und unter Verkennung der brutalen Härte der Überlebens auf der Straße beschreibt ZWOCH den Handlungsraum Großstadt wie folgt:

"Mit seinen Straßen, Plätzen und Häusern vor allem: mit seinen anonymen Orten bietet gerade Berlin die Chance, daß unterschiedliche Kulturen und Lebensformen gleichzeitig miteinnader existieren. Hier findet ein Austausch tatsächlich statt, Berlin bietet jene Durchlässigkeit und Flexibilität, die es diem einzelnen gestatten, aus Bindungen von Tradition und Geburt, Herrschaft und Schicksal auszubrechen, Neues und anderes zu versuchen. (...) Seine Heterogenität und Vielfalt ist auch "Heimat" für Andersdenkende auf der Suche nach physischen und gedanklichen Freiräumen. Wohl nirgend in der Bundesrepublik ist die soziale Kontrolle und der Zwang zur Konvention geringer als in der anonymen Welt der Großstadt, und nirgendwo gibt es mehr geheime Orte der Subversion und Nischen des Alternativen. Sie bieten Unterschlupf außerhalb der gewöhnlichen Standards einer durchorganisierten Welt und sind lebensnotwendig für soziale Experimente. Hier sind die "Laboratorien der Gesellschaft", in denen Trends und kurzlebige Moden geboren werden, aber auch ernsthafte Alternativen zu den gängigen gesellschaftlichen Leitbildern. Die Subkulturen, die sich ihre eigenen Lebens- und Überlebensbedingungen selber schaffen müssen, benutzen das schier unerschöpfliche bauliche Erbe Berlins. Sie suchen meist kleine, unauffällige Orte, die vorübergehend der Planung entzogen sind und keinem Verwertungsdruck unterliegen. Die Nutzung und Fruchtbarkeit dieser Orte ist niemals garantiert, es handelt sich um eine labile Gratwanderung zwischen Chaos und Kreativität. So sind die "geheimen Orte" nur von kurzer Dauer, das Klima, das ihre soziale Qualität ausmacht, läßt sich nicht festhalten; zudem werden produktive Unruhe, Vielfalt und Ambivalenz allgemein als Bedrohung angesehen, weil sie dem gesellschaftlich vorherrschenden Leitbild eines harmonischen Endzustandes widersprechen."
(ZWOCH 1987, S. 65f)

Wenn Menschen im Ergebnis der Bewältigung des Alltags im Verlauf eines jahrelangen, vielschichtigen, individuell jeweils unterschiedlichen Prozeß schließlich auf der Straße wiederzufinden sind, ist dies keineswegs nur ein persönliches Problem, sondern in einer Gesellschaft, in der die (potentiellen) Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums getrennt sind von den Produktionsmitteln, sind insbesondere die von den gesellschaftlichen Verwerfungen betroffenen Wohnungslosen zunehmend auch getrennt von der Bestimmung und Verfügung über die Strukturierung von Raum und Zeit.

"Das geht manchmal so schnell im Leben, so schnell kannst du gar nicht reagieren."
(ACHIM)

Wohnungslosigkeit ist demnach ein (negativer) Lernprozeß des Sich-zurecht-Findens unter den neuen, extrem beschränkten Bedingungen:

"Menschen, denen der Zugang zu verschiedenen sozialen Möglichkeiten verwehrt ist, verlieren sehr bald die Fähigkeit, sie überhaupt zu nutzen. Es ist sogar möglich, daß sie Lebensformen entwickeln, die zu regelrechten Hindernissen für das Ergreifen von Möglichkeiten werden. Das Problem ist nicht, daß sie untersozialisiert oder unvollständig sozialisiert sind, sondern vielmehr, daß sie anders sozialisiert sind. Deshalb müssen Programme entwickelt werden, die es erlauben, die Bildung 'selbstzerstörerischer' Verhaltensstrukturen entgegenzuwirken."
(ADAM-LAUER/ BECHER 1982, S. 3 Hervorherbungen im Original.).

Die sich damit aufdrängende Frage besteht darin, inwieweit auch die Hilfen für Wohnungslose selbst geeignet sind, dieses Phänomen zu befördern:

"Wie inzwischen vielfach nachgewiesen wurde, nehmen mit der Dauer des Wohnens in einer Notunterkunft die Einschränkungen des Handlungspotentials und die Reduzierung der Chancen zur Teilnahme am ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Leben in unserer Gesellschaft zu."
(ADAM-LAUER/ BECHER 1982, 9)

Die Autorin konstatiert - in Übereinstimmung mit den von mir domentierten Aussagen der Wohnungslosen -:

"ein großer Teil der heute im Rahmen der der sozialen Arbeit durchgeführten Hilfen ist nur wenig dazu geeignet, die 'problemverursachenden' Phänomene zu beseitigen."
(ADAM-LAUER/ BECHER 1982, 9)

Als Gegentendenz könnte vermutet werden: In dem Maße, in dem das Engagement der Wohnungslosen zunimmt, wird Wohnungslosigkeit weniger als individuelle Schuld, sondern als durch gesellschaftliche Strukturen verursacht aufgefaßt.

Doch diese Position beschreibt zunächst nicht mehr als eine Möglichkeit. Einschränkend ist festzuhalten, daß die in diesen Selbsthilfeprojekten/ Qualitäten immanenten Handlungsspielräume und Konfliktlinien dabei bei Weitem noch nicht ausgelotet sind. Relativ erfolgreiche (Hegelplatz) und relativ gescheiterte Projekte, Aktionen und Initiativen (Kulturgruppe, vgl. auch Jochen Obdachlosenverein) stehen noch nebeneinander, eine Auswertung und abschließende Einschätzung solcher und ähnlicher Aktionen vom Stellenwert der Hegelplatzbesetzung ist bislang nicht einmal im Ansatz erfolgt.Unentschieden ist die ebenfalls Frage, ob es sich bei der Welle an Projekten, Aktionen und Initiativen der Selbsthilfe und Betroffeneninitiativen um eine vorübergehende Prosporität, oder um eine unumkehrbare Entwicklung handelt. Nicht zuletzt wird der Umgang aller Beteiligten darüber entscheiden, ob damit langfristig Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit zu einer gesellschaftlichen raus langfristig eine von Wohnungslosen oder bestenfalls zur einer Vorzeigekultur von erfolgreichem Wohnunglosigkeitsmanagement degenerien.. Die Rhinstraße als von Wohnungslosen erkämpfte Notunterkunft ist bislang sowohl Teil der Lösung als Teil des Problems. Noch nicht entschieden ist , ob und wiefern sie Bestand haben werden. Ansätze zu Vernetzungen bestehen bereits, Vernetzungen sind vielfach auch durch personelle Überschneidungen (Multiaktivisten) gegeben, von einem tatsächlichen Netzwerk der "Betroffenengruppen" dürften wir tatsächlich noch weit entfernt sein.

Exkurs 1: Das Problem des Wohnungslos-Bleibens

In dieser vom Verfasser durchgeführten Untersuchung sind über 50% der Wohnungslosen zum Zeitpunkt der Befragung im Winter 1991/92 ein Jahr oder kürzer wohnungslos. Zu untersuchen ist: Sind das die zukünftigen Langzeitwohnungslosen?

Wird sich auch bei den anderen, die schon über Jahre "auf der Straße sind", die Lebenslage nicht mehr grundlegend verändern? Woran entscheidet sich, wer wohnungslos bleibt und wem der Zugang zu eigenem, gesichertem Wohnraum gelingt? Begünstigt die Nähe zum Hilfesystem die "Wiedereinfädelung" in den Wohnungsmarkt oder fördert sie einen "mobilen Hospitalismus"? Ist es von Vorteil, sich einer Selbstorganisationsform anzuschließen oder sich weitgehend "aus allem raus" zu halten?

Die befragten Personen in der Untersuchung berichten von Überfällen, Diebstählen und Verlusten (Kleidung, persönliche Gegenstände, Geld, Papiere) und der damit einhergehenden Beschränkung ihrer Handlungsfähigkeit. Sie berichten aber auch von negativen Erfahrungen und erfolglosen Auseinandersetzungen mit Behörden und Institution (Arbeits-, Sozial-, Wohnungsamt, Justiz, Hilfesystem). Reaktionen sind oft Drogenkonsum, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung bis hin zu Selbsttötungsversuchen. Zukunft erschöpft sich für viele in der Frage:"Wie und wo verbringe ich die nächste Nacht", weitergehende Perspektiven bewegen sich zwischen vagen Hoffnungen "auf ein Wunder" und detaillierten Plänen, deren Erfolg durch die o.g. Probleme der Lebenslage jederzeit in Frage gestellt sind.

Langzeitwohnungslosigkeit ist sowohl Resultat einer quantitativ wie qualitativ mangelhaften Palette an Angeboten und Einrichtungen der Hilfe, die einen Teil der Wohnungslosen zu dauerhafter Wohnungslosigkeit zwingt, als auch ein Resultat der Entwicklung ambulanter, lebenslagebezogener Hilfen in den letzten 15 Jahren, die ein "Sich-Einrichten" im Zustand der Wohnungslosigkeit gerade erst ermöglichen und begünstigen. Die Bedeutung der Hilfe sowie die Bedeutunge der Arbeit der Akteuren in den Angeboten und Einrichtungen der Hilfe ist von daher selbst auch eine wiederprüchliche. Dieses zweiseitige Symptom verweist damit auf einen übergeordneten Gesichtspunkt...

Gerade dauerhafte Wohnungslosigkeit vermindert die Chance erfolgreicher Problemlösung durch die Einrichtungen und Angebote der Hilfe. Mit der Dauer der Wohnungslosigkeit steigt zugleich die Wahrscheinlichkeit, weiterhin wohnungslos zu bleiben. (Gibt es einen "point of no return"?)

Mit größerer Distanz Wohnungsloser zur Hilfe für Wohnungslose steigt die Wahrscheinlichkeit, wohnungslos zu bleiben. Gleichzeitig ist das Problem dauerhafter Wohnungslosigkeit relativ unabhängig von der Inanspruchnahme des Hilfesystems. Auch Wohnungslose, die die Hilfeeinrichtungen in Anspruch nehmen...

Dauerhafte Wohnungslosigkeit damit auch ein Problem selektiver Filter, sozialer Disziplinierung und Kontrolle durch Hilfesystem und Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen, aber auch ein Problem mangelnder Hilfsadäquatheit (das vor allem in der Nichtübereinstimmung von Bedürfnissen und Zielen Wohnungsloser und Anforderungen durch Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen und Hilfesystem begründet ist).

Für die Frage des "Wohnungslos-bleibens" kommt dabei den in den letzten Jahren entstandenen Initiativen und Projekten Wohnungsloser (Containerbesetzung, 1. Berliner Obdachlosenoffensive, Theatergruppe, Kulturgruppe, Betroffeneninitiative innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, bundesweit entstehende Obdachlosenzeitungsprojekte etc.) wachsende Bedeutung zu, auch wenn nur ein marginaler Teil der Wohnungslosen überhaupt davon profitiert.

Über die Frage dauerhafter Wohnungslosigkeit entscheiden auch Kompetenzen wie die Fähigkeit zur Artikulation einer Notlage ("Hilfebedürftigkeit") oder Durchsetzungsvermögen und Leistungswillen der Betroffenen, an ihrer Situation etwas ändern zu wollen ("verschämte Armut" - "unverschämte Armut"). Anders gesagt: Wenn persönliche Probleme die aktuelle Lebenslage Wohnungslosigkeit dominieren und sogar maßgeblich für ihr entstehen verantwortlich sind - der sog. "Scheiß-egal-Effekt", die viele Wohnungslose dieser Gruppe thematisieren -

a) ist eine Nähe zu den Hilfeeinrichtungen für Wohnungslose oder eine Nähe zu Selbstorganisationsformen unwahrscheinlicher;
b) ist weniger Bereitschaft zu konstatieren, die eigene Notlage, - die ja zunächst nicht die der Wohnungslosigkeit ist - zu thematisieren.

Und vor allem:

a) Zum einen gibt es gesellschaftlich vermittelte subjektive Gründe, wohnungslos zu bleiben,
b) zum anderen verselbständigen sich mit dem Verlauf der Wohnungslosigkeit selbstgewählte Umgangsformen mit dem Problem und verkehren sich gegen sie.

Exkurs 2: Die Funktion der Wohnungslosenhilfe

Grundsätzlich hängt für die Untersuchung der Funktion der Wohnungslosenhilfe eine ganze Menge davon ab, was unter Hilfe verstanden wird und in welchem Theoriezusammenhang Wohnungslosenhilfe definiert wird. Allein die Vorstellung, daß Wohnungsloseneinrichtungen gezielt in der Nähe von innerstädtischen Zentren errichtet werden, zum einen für die Obdachlosen leicht erreichbar, zum anderen um bewußt die Leute aus den Fußgängerzonen und Geschäftszentren wegzubekommen. Da sage keiner, hier ginge es nicht auch - natürlich durch verschiedene Vermittlungsschritte gefiltert - um die Realisierung von Profitinteressen, wobei der Ansiedlung und dem Aufbau von Wohnungsloseneinrichtungen dann ganz speziell die Funktion zukommt, profitstörende Faktoren zu eliminieren. Soweit vom Grundsatz her: Die Frage der Einordnung der Funktionalität von Wohnungsloseneinrichtungen im Gesamt einer profitdominierten Gesellschaftsformation.

D.h., letztendlich sind Hilfeeinrichtungen und Angebote, auch wenn sie nicht-profit-orientiert arbeiten, das sage ich mal ganz leihenhaft, doch den Gesetzen und Prinzipien der Profitorientierung unterworfen. - Und diese nicht-profit-orientierten Einrichtungen müssen konkurrieren mit ordnungsstaatlichen Instrumenten wie etwa der Polizei, man kann die Leute ja auch vertreiben, wenn es denn gelingt, den öffentlichen Diskurs in diese Richtung hin zu bestimmen.

Von dieser Konkurrenzsituation her erklärt sich ganz zentral die Notwendigkeit einer (gegenwärtig sich auch vollziehenden) Evaluierung etwa von Wohnungsloseneinrichtungen. Dem wird im Rahmen einer Anpassung von (Abrechnungs-) Standards auf europäischer Ebene durch die Einführung einer ISO-Norm bereits Rechnung getragen, eine Diskussion, die ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen kann. Sie ist dokumentiert in den Ausgaben der "wohnungslos".

Ein zweiter Gedanke: Ebenso wie in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gibt es im Hilfe-Sektor ein Phänomen, welches vergleichbar ist mit dem "tendenziellen Fall der Profitrate", eine Gesetzmäßigkeit, bei Marx im Kapital entwickelt und nachgewiesen.

Für den Bereich der Wohnungslosenangebote kann zum einen von einem moralischen Verschleiß gesprochen werden (eine gute soziale Idee wird nahezu wertlos, wenn sie von allen praktiziert wird und eine Gewöhnung eintritt); damit einher geht eine ständige Entwertung von sozialer Kompetenz und Qualifikation: Wärmestuben, vor zehn Jahren noch von hochqualifizierten Sozialarbeitern ins Leben gerufen, werden und können heutzutage von ehrenamtlichen Kräften, etwa von Kirchengemeinden betrieben werden, die Sozialarbeiter geraten in einen ungeheuren Rechtfertigungsdruck, um die Finanzierung der Einrichtung und der Stellen überhaupt noch legitimieren zu können. Das führt zu der paradoxen Situation, daß gerade die Mitarbeiter in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe eine Evaluierung scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Ihre Ablehnung jedoch macht's nicht besser: Dann kommen die Sparvorgaben des übergeordneten Trägers bzw. der Kommunen und erzwingen Kosten- und Stellenreduzierungen, auf kurz oder lang können dann nur noch die Einrichtungen vernünftig arbeiten, die für diese neue Situation angemessene Konzepte zu erarbeiten in der Lage sind.

Das genau wäre die Chance einer nachhaltigen Umgestaltung der Wohnungslosenhilfe in Hinblick auf eine deutliche Orientierung der Arbeit auf den handelnden Klienten als das eigentliche Subjekt des Hilfehandelns. Stattdessen aber ist zu beobachten, daß aufgrund sinnloser Rückzugsgefechte der finanzierungsbedrohten Einrichtungen die Arbeit immer weniger dem Problemen der Menschen adäquat wird. Zu untersuchen also wäre, inwieweit die etablierte Wohnungslosenhilfe weniger Teil der Lösung als vielmehr Teil des Problems ist.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97