Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

5. Schlußbemerkung

Im schlimmsten Fall ist das Interesse an Wohnungslosen Inbegriff einer postmodernen gesellschaftlichen Situation von anything goes: Wohnungslose sind auch Menschen, durchaus sympathisch (eine Sichtweise, die den unvermeidlichen Umgang mit ihnen auf der Straße ungemein erleichtert), ein interessanter, exotischer Lebensstil (keineswegs problemlos, aber wer lebt schon problemfrei?) als Teil eines facettenreichen sozialen Big-bangs, in dem und mit dem wir leben. Die emotional aufgeladene Akzeptanz wird auf die persönliche Ebene von Verständnis beschränkt und mit dem Verweis auf zuständiges professionell-institutionalisiertes Hilfeengagement sowie den besten Wünschen für den weiteren Lebensweg entsorgt (in den heutigen harten Zeiten muß halt jeder zusehen, wo er bleibt!)

Eben weil konventionelle Solidarität mit den Zu-kurz-gekommenen nicht mehr funktioniert, aber gleichzeitig das Risiko Wohnungslosigkeit mittlerweile fast jede oder jeden treffen kann, müssen grundlegend neue Bündnisse gesucht und hergestellt werden: Die konkrete Auseinandersetzung um Wohnraum für alle gehört dabei mit Sicherheit zu den innovativsten und politisch brisantesten Perspektiven. Eine brauchbare Idee, wie Kultur von Wohnungslosen sinnvoll und zukunftsrelevant materialisiert werden könnte, stammt von der studentischen Projektgruppe "obdachlos in berlin" an der Hochschule der Künste (vgl. SCHNEIDER 1993 und SCHNEIDER 1994): Ein Kulturhaus als Treffpunkt und Begegnungsstätte für Alltags- und Straßenkultur(arbeit), als Zentrum für Kunst und Bildung mit Restaurant, Galerie-, Proben- und Projekteraum und Bühne, als Redaktions- und Druckort einer Wohnungslosenzeitung, als Büro und Koordinationszentrum für sozialpolitische Aktivitäten. Um abgesichert zu sein, müßte es gleichzeitig Sitz und Aktionsort eines Vereins oder Bündnisses zur Lobbyarbeit für Wohnungslose sein. Wohnraum wäre damit zwar nicht erkämpft, aber vielleicht eine weitere Voraussetzung für diese notwendige gesellschaftliche Aufgabe geschaffen. Die innovative Chance bestände darin, völlig neue Kooperationsformen zwischen Wohnungslosen, KünstlerInnen, engagierten BürgerInnen, SozialarbeiterInnen und einer Öffentlichkeit jenseits der üblichen Vorgaben der Sozialarbeit herzustellen. Außerdem bedarf Lobby- und Kulturarbeit einer sinnlich-konkreten Basis und Plattform - das gilt insbesondere für die Wohnungslosen selbst. In einem leerstehenden Gebäude ein Kulturhaus zu etablieren, wäre nicht einmal eine Besetzung, die nach den derzeitigen politischen Vorgaben sofort zu räumen wäre, es könnte die auf Dauer gestellte Generalprobe einer künstlerischen Inszenierung sein - im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, wenn sich denn die richtigen PartnerInnen dafür finden.

Mit einer solchen Vision eines "Armenhauses in der Mitte der Stadt" (KEMNITZ/ SCHNEIDER 1995) - und dafür existieren bereits fertige Konzepte (KEMNITZ/ SCHNEIDER 1995), die sicher noch der Überarbeitung auf der Grundlage aktuellster Erfahrungen bedürfen - ist die Form beschrieben, allein es fehlen Inhalte, mit denen ein solcher Raum dauerhaft, konstant und zugleich offen gefüllt werden kann. Aber auch hier existiert ein sehr klares, ein sehr präzise formliertes theoretisches Konzept aus dem Jahr 1902 (!), welches eine neue Dimension gesellschaftlicher Tätigkeit beschreibt: Die Produktion und die Publikation einer Zeitung. Eine Zeitung - so die zentrale These - sei ein "kollektiver Organisator":

"Unserer Meinung nach muß der Ausgangspunkt der Tätigkeit, der erste praktische Schritt zur Schaffung der gewünschten Organisation, schließlich der Leitfaden, an Hand dessen wir diese Organisation unbeirrt entwickeln, vertiefen und erweitern könnten - die Schaffung einer (...) Zeitung sein. Wir brauchen vor allem eine Zeitung - ohne sie ist jene systematische Durchführung einer prinzipienfesten und allseitigen Propaganda und Agitation unmöglich, die die ständige und wichtigste Aufgabe der (...)Demokratie im allgemeinen und eine besonders dringliche Aufgabe des gegenwärtigen Moments darstellt (...). Niemals machte sich mit solcher Kraft wie heute das Bedürfnis geltend, die vereinzelte Agitation mittels persönlicher Einwirkung, örtlicher Flugblätter, Broschüren usw. durch eine verallgemeinerte und regelmäßige Agitation zu ergänzen, die nur mit Hilfe der periodischen Presse möglich ist. Man darf wohl ohne Übertreibung sagen, daß das mehr oder weniger häufige und regelmäßige Erscheinen einer Zeitung (und ihre Verbreitung) als genauester Gradmesser dafür dienen kann, wie solide wir diesen elementaren und dringendsten Zweig unserer (...)Tätigkeit ausgebaut haben. (...) Falls wir es nicht verstehen, und solange wir es nicht verstehen, unsere Einwirkung auf das Volk und auf die Regierung mit Hilfe des gedruckten Wortes zusammenzufassen, wird der Gedanke an die Zusammenfassung anderer, komplizierterer, schwierigerer, dafür aber entscheidenderer Methoden des Einwirkens eine Utopie bleiben. Unsere Bewegung leidet sowohl in ideologischer als auch in praktischer, organisatorischer Hinsicht vor allem unter ihrer Zersplitterung, unter dem Umstand, daß die übergroße Mehrheit der (...)Demokraten fast völlig in der rein örtlichen Arbeit aufgeht, durch die sowohl ihr Gesichtskreis als auch die Tragweite ihrer Wirksamkeit, ihre konspirative Gewandtheit und Schulung beeinträchtigt werden. Eben in dieser Zersplitterung sind die tiefsten Wurzeln jener Unsicherheit und jenes Schwankens zu suchen, die wir oben erwähnt haben. Und der erste Schritt auf dem Wege zur Beseitigung dieses Mangels, auf dem Wege zur Verwandlung der verschiedenen örtlichen Bewegungen in eine einheitliche (...) Bewegung, muß die Schaffung einer (...) Zeitung sein. Schließlich, wir brauchen unbedingt eine politische Zeitung. Ohne ein politisches Organ ist im heutigen Europa eine Bewegung, die eine politische genannt zu werden verdient, undenkbar. Ohne dieses ist unsere Aufgabe - alle Elemente der politischen Unzufriedenheit und des Protestes zu konzentrieren und mit ihnen die revolutionäre Bewegung (...) zu befruchten - obsolut undurchführbar. Wir haben den ersten Schritt getan, wir haben (...) die Leidenschaft für "ökonomische" Enthüllungen, für die Enthüllung der Übelstände in den Fabriken, geweckt. Wir müssen den nächsten Schritt tun und in allen einigermaßen einsichtigen Volksschichten die Leidenschaft für politische Enthüllungen wecken. Man darf sich nicht dadurch berirren lassen, daß die Stimmen der politischen Enthüllungen heute so schwach, selten und zaghaft erklingen. Der Grund hierfür liegt durchaus nicht darin, daß die Massen sich mit der Polizeiwillkür abgefunden hätten. Der Grund ist der, daß die Leute, die fähig und bereit sind, Mißstände zu enthüllen, keine Tribüne haben, von der herab sie sprechen könnten, daß sie kein Auditorium haben, das den Rednern leidenschaftliche zuhören und sie ermuntern würde, das sie nirgends im Volke die Kraft sehen, an die sich mit einer Anklage an die "allmächtige" (...) Regierung zu wenden der Mühe wert wäre. Jetzt aber ändert sich all das mit ungeheuerer Rapidität. Es gibt eine solche Kraft, (... die) bereits seine Bereitschaft bewiesen hat, nicht nur die Aufforderung zum politischen Kampf anzuhören und zu unterstützen, sondern sich auch mutig in den Kampf zu stürzen. Wir sind jetzt imstande und wir sind verpflichtet, eine Tribüne zu schaffen, die die Aufgabe hätte, die (...) Regierung im Namen des ganzen Volkes zu entlarven - eine solche Tribüne muß die (...) Zeitung sein. (...)

Die Rolle der Zeitung beschränkt sich jedoch nicht allein auf die Verbreitung von Ideen, nicht allein auf die politischen Schulung und Gewinnung politischer Bundesgenossen. Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator. In dieser Beziehung kann sie mit einem Gerüst verglichen werden, das um ein im Bau befindliches Gebäude errichtet wird; es zeigt die Umrisse des Gebäudes an, erleichtert den Verkehr zwischen den einzelnen Bauarbeitern, hilft ihnen, die Arbeit zu verteilen und die durch die organisierte Arbeit erzielten allgemeinen Resultate zu überblicken. Mit Hilfe der Zeitung und im Zusammenhang mit ihr wird sich ganz von selbst eine beständige Organisation herausbilden, die sich nicht nur mit der örtlichen, sondern auch regelmäßig mit der allgemeinen Arbeit befaßt, eine Organisation, die ihre Mitglieder daran gewöhnt, die politischen Ereignisse aufmerksam zu verfolgen, deren Bedeutung und Einfluß auf die verschiedenen Bevölkerungsschichten abzuschätzen und zweckmäßige Methoden herauszuarbeiten, durch die die revolutionäre Partei auf diese Ereignisse einwirken kann. Schon allein die technische Aufgabe - die richtige Versorgung der Zeitung mit Material und die regelmäßige Verbreitung der Zeitung - zwingt dazu, ein Netz von örtlichen Vertrauensleuten der einheitlichen Partei zu schaffen, von Vertrauensleuten, die lebendige Beziehungen zueinander unterhalten, die mit der allgemeinen Lage der Dinge vertraut sind, die sich daran gewöhnen, regelmäßig Teilfunktionen der (...) Arbeit auszuführen, die ihre Kräfte an der Organisierung dieser oder jener (...) Aktionen erproben. Dieses Netz von Vertrauensleuten wird das Gerippe gerade einer solchen Organisation bilden, wie wir sie brauchen: Genügend groß, um das ganze Land zu erfassen; genügend breit und vielseitig, um eine strenge und detaillierte Arbeitsteilung durchzuführen; genügend standhaft, um unter allen Umständen, bei allen "Wendungen" und Überraschungen ihre eigene Arbeit unbeirrt zu leisten; genügend elastisch, um zu verstehen, einerseits einer offenen Feldschlacht gegen einen an Kraft überlegenen Feind, wenn er alle seine Kräfte an einem Punkt gesammelt hat, auszuweichen, und andererseits die Schwerfälligkeit dieses Feindes auszunutzen und ihn dann und dort anzugreifen, wo der Überfall am wenigsten erwartet wird. Heute fällt uns die verhältnismäßig leichte Aufgabe zu, die Studenten zu unterstützen, die in den Straßen der Großstädte demonstrieren. Morgen wird sich vielleicht eine schwierigere Aufgabe ergeben, z.B. die Arbeitslosenbewegung in einem bestimmten Bezirk zu unterstützen. Übermorgen müssen wir auf dem Posten sein, um an einem Aufruhr der Bauern (...) Anteil zu nehmen. Heute müssen wir die Verschärfung der politischen Lage ausnutzen, die die Regierung (...) herbeigeführt hat. Morgen müssen wir die Empörung der Bevölkerung gegen diesen oder jenen übermütig gewordenen (...) Schergen unterstützen und durch Boykott, Aufstachelung, Kundgebungen usw. helfen, ihm eine solche Lektion zu verabfolgen, daß er zu einem offenen Rückzug gezwungen wird. Ein solcher Grad von Kampfbereitschaft läßt sich nur durch die unablässige Tätigkeit eines regulären Heeres erzielen. Und wenn wir unsere Kräfte für die Herausgabe einer allgemeinen Zeitung vereinigen, so wird diese Arbeit nicht nur die tüchtigsten Propagandisten schulen und in den Vordergrund rücken, sondern auch die geschicktesten Organisatoren, die talentiertesten politischen Führer der Partei, die imstande sind, im notwendigen Moment die Parole zum entscheidenden Kampf auszugeben und den Kampf zu leiten.

(W. I. LENIN 1902)

Das inhaltliche Programm einer solchen politisch-engagierten Kulturarbeit von und mit Wohnungslosen ist längst geschrieben. Jonny G. RIEGER, der lange Jahre seines Lebens auf der Straße unterwegs war, hat es einst so formuliert:

"Ich streckte meine Hand nach dem wimmelnden Chaos der Welt aus und griff zu - Leben! Ich betrachtete es und warf es auf das Papier vor mir. Und wenn ich dann sagte: "Seht, dieses Leben hier!" und jemand es sehen und wiedererkennen und etwas dabei fühlen und erleben konnte und wenn es den eingewurzelten Stumpfsinn nur ein wenig zu bewegen vermochte, dann hatte das alles hier einen Sinn gehabt. Dann wollte ich gern dafür mit Monaten meines Daseins, mit einem Frühling und einem schwindenden Sommer bezahlen."

JONNY G. RIEGER

"Now I greet you from the other side of sorrow and despair,
with a love so vast and so shattered, it will reach you everywhere"

Ende

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97