Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

7.3. Erhebung von Untersuchungsmaterial

Die Präzisierung der Fragestellungen für die Arbeit im Feld erfolgte - entsprechend der Konzeption der Projektarbeit - operational in zwei Schritten. Dabei wurde den Anforderungen Rechnung getragen, zum einen klare vergleichbare Datenangaben zur Lebenslage und zur biografischen Entwicklung der Untersuchungsgruppe zu ermitteln und zum anderen die Frage nach dem Verhältnis ("Distanz" bzw. "Nähe") der Untersuchungsgruppe zu den Einrichtungen und Angeboten der Hilfe für Wohnungslose eingehender zu untersuchen:

Im ersten Schritt zur Erforschung der aktuellen Lebenslage Wohnungsloser habe ich einen Frageleitfaden entwickelt, welcher - neben den Basisdaten zur Person - Fragen zur aktuellen Situation in zentralen Lebensbereichen umfaßte. Gefragt wurde vor allem nach der Unterkunftssituation, Kontakt zu den Einrichtungen und Angeboten sozialer Arbeit, der Einkommens- und Arbeitssituation, nach sozialen und sonstigen gesellschaftlichen Beziehungen. In Verbindung mit dem Frageleitfaden habe ich, ergänzend zur weitergeführten Protokollierung der Feldforschung, ein personenbezogenes Karteikartensystem angelegt, in welchem die Basisdaten sowie die gesammelten Informationen zu den nachgefragten Lebensbereichen erfaßt und mit entsprechenden Verweisen auf Belegstellen und ergänzende Angaben in den Feldprotokollen versehen wurden.

In einem zweiten Schritt habe ich den Frageleitfaden ausgeweitet in Hinblick auf lebensgeschichtliche Basisdaten (Herkunft, Schulabschluß, Berufsausbildung, Beruf, Dauer der Arbeitslosigkeit, Dauer der Wohnungslosigkeit). Des weiteren habe ich gefragt nach der Unterkunftssituation, dem Bezug zur Wohnungslosenhilfe und zu sonstigen Institutionen und Einrichtungen, zur Finanz- und Arbeitssituation innerhalb des vergangenes Jahres der Wohnungslosigkeit. Auch diese Daten habe ich im Karteikartensystem festgehalten.

Innerhalb dieser Forschungsphase habe ich mit 17 Personen aus der Untersuchungsgruppe narrative Interviewgespräche geführt. Von besonderem Interesse war dabei der Stellenwert der Wohnungslosigkeit im Rahmen der Lebensgeschichte. Aus diesem Grund habe ich die Erzählaufforderungen ("Stimuli") um dieses Phänomen herum konzentriert:

Dabei bezog sich der erste Teil des Gesprächs auf die Situation vor der Wohnungslosigkeit, der zweite Teil beinhaltete das Entstehen (den "Auftritt") von Wohnungslosigkeit sowie der dritte Teil den Zeitraum der Wohnungslosigkeit bzw. die aktuelle Situation der Wohnungslosigkeit. In Anlehnung an die Methodik des narrativen Interviews habe ich dabei den Befragten eine weitestgehende Freiheit gelassen, zu erzählen, was ihnen zu den jeweiligen Komplex wichtig ist. Ausschlaggebend für diese offene Fragestellung war die methodologische Überlegung, daß es gerade diese Freiheit ist, die in der späteren Analyse Aufschlüsse über die biografische Entwicklung vom subjektiven Standpunkt des Befragten ermöglichen würde. Deshalb wurde die offene Form einem stärker formalisierteren Frageschema vorgezogen.

Ziel dieser Vorgehensweise war, der sehr offen angelegten Gesprächs- und Interviewstrategie zur Biografie ein im Karteisystem festgehaltenes Grundgerüst an (biografischen) Daten und Angaben gegenüberzustellen, um in der anschließenden Analyse des Material mit beiden Datengruppen arbeiten zu können. In diesem Teil der Untersuchung von September '91 bis Januar '92 habe ich zwei parallele Strategien verfolgt: Zum einen versuchte ich, bei möglichst vielen Personen in Gesprächen (orientiert am erweiterten Frageleitfadens) biografische Inhalte zu thematisieren und mit ein Grundgerüst an Daten und Informationen zur biografischen Entwicklung zu erarbeiten, zum anderen versuchte ich, Personen aus der Untersuchungsgruppe zu Interviewgesprächen zu motivieren, in denen sie aus ihrem Leben erzählten, wie sie wohnungslos wurden, wie ihr Leben vorher waren, was sie im Verlauf ihrer Wohnungslosigkeit taten.

Bei der Untersuchung zur Biografie und Lebenslage Wohnungsloser, insbesondere im Zusammenhang mit Interviewgesprächen und deren Aufzeichnung, habe ich auf dem Hintergrund meiner bisherigen Erfahrungen eine Reihe von Schwierigkeiten erwartet und von vorneherein in die Planung miteinbezogen. Dazu gehören:

Ablehnung eines persönlichen Gesprächs. Vier der angesprochenen Personen aus der Untersuchungsgruppe lehnten explizit ein solches Gespräch ab, drei weitere gaben - trotz bekundeter Bereitschaft - durch ihr Nichteinhalten von Verabredungen und bei Nachfrage explizit zu erkennen, daß sie ein solches Gespräch nicht führen wollten. Hier war es notwendig, einen erheblichen zusätzlichen Zeitaufwand für vergebliche Verabredungen zu kalkulieren.
 
Ablehnung einer Gesprächsaufzeichnung. In diesen Fällen habe ich ein Gespräch dennoch geführt, und den Gesprächsinhalt nachträglich in Feldprotokoll und Karteikarte festgehalten (Acht Personen).
 
Forderung nach einem Entgelt. Den Gesprächspartnern wurde einheitlich - nachdem sie ihre grundsätzliche Bereitschaft zu einem aufgezeichneten Interviewgespräch bekundet hatten - eine Aufwandsentschädigung von DM 20,-- gezahlt. (Drei Personen haben explizit danach gefragt). In Vorversuchen habe ich - quasi als Gegenprobe - festgestellt, daß Personen, die eine Tonbandaufzeichnung ablehnten, auch nicht durch das Angebot einer Aufwandsentschädigung dazu bereit waren. Vorteilhaft, auch das zeigte sich nach zwei Probeinterviews, war die Auszahlung der Aufwandsentschädigung bereits zu Beginn der Gesprächsaufzeichnung: Die Gesprächspartner konnten dann souverän entscheiden, wann sie ein Gespräch beenden wollten.
 
Notwendigkeit gesonderter Verabredungen zur Durchführung eines aufgezeichneten Interviewgesprächs. In einigen Fällen kammen Verabredungen nicht auf Anhieb zustande, aufgrund von Witterungsbedingungen, der individuellen Verfassung oder Zeitplanung des Gesprächspartners, Ortsfindung usw. Auch hier war z.T. ein erheblicher Zeitaufwand notwendig, erneut meine Gesprächspartner zu kontaktieren bzw. erneute Gesprächsvereinbarungen zu treffen.
 
Notwendigkeit weiterer Verabredungen zur Ergänzung von Aussagen, Daten beziehungsweise der Fortführung der Gesprächsaufzeichnung. Bei einer Person war ein ergänzendes zweites Interview notwendig und wurde durchgeführt, bei vier Personen war ein erneutes Treffen notwendig, um fehlende Angaben zu Basisdaten zu ergänzen. Gleichzeitig habe ich darauf geachtet, daß mit dem Ende eines Interviewgesprächs der Kontakt nicht beendet, sondern die gemeinsame Interaktion gleichsam "suspendiert" wurde.

Die Reaktionen auf die antizipierten Probleme erwiesen sich bei der Durchführung der Untersuchung als realitätsgerecht, tatsächlich war die Bereitschaft zur Zusammenarbeit von Seiten der Untersuchungsgruppe - nach anfänglicher Skepsis und Mißtrauen - in vielen Fällen größer als erwartet. Bei der Gewinnung von Gesprächspartnern für Interviewgespräche kam mir zugute, daß ich einen guten Teil der angesprochenen Personen schon länger (zum Teil aufgrund gemeinsamer Aktivitäten) kannte und von daher eine Vertrauensbasis vorhanden war, an die ich anknüpfen konnte. Bei den anderen, die ich nicht so lange kannte oder vergleichsweise kurzfristig kennenlernte, mußte ich abstrakter argumentieren, um mein Interesse an einem Gespräch zu begründen und den möglichen Interviewpartner zu einem Gespräch zu motivieren. Ich verwies dann in der Regel darauf, daß für mich und meine Untersuchung originale und dokumentierte Aussagen von Betroffenen ("Experten") ein ganz anderes Gewicht haben als "bloß" meine Erfahrungen und Einschätzungen. Nicht unerheblich war dabei der Anteil derer aus der Untersuchungsgruppe, die bereits "Medien"-Erfahrungen hatten. Hier war es für mich notwendig, mich eindeutig abzugrenzen und die Seriosität und Anonymität meiner Untersuchung darzustellen. Neben der Aufzeichnung von Interviewgesprächen, sowie Protokollierung der näheren Umstände (Besonderheiten während des Interviewgesprächs, Protokollierung der Situation vor und nach der Aufzeichnung) habe ich weiterhin auch in dieser Phase der Feldforschung die anderen Daten festgehalten:

Die Auswahl der Gesprächspartner für ein Interviewgespräch traf ich aufgrund meiner Kenntnisse des Feldes und der Untersuchungsgruppe (einschließlich der bisher dazu erarbeiteten Daten). Ziel meiner Bemühungen war, ein möglichst typisches Bild der Wohnungslosen, so wie es sich mir aufgrund meiner Untersuchungsgruppe und der bisherigen Feldforschung darstellte, wiederzugeben.

Auswahlkriterien aufgrund der Ergebnisse anderer empirischer Untersuchungen[12] waren nur bedingt dazu heranziehbar, da der Personenkreis der eigenen Untersuchungsgruppe teilweise der sog. "Dunkelziffer" von Wohnungslosen zuzurechnen war. Dennoch ergaben sich aus diesen Untersuchungsergebnisse, weiteren Gespräche mit Experten und Kollegen aus der Praxis einige Kriterien, an denen ich mich orientierte. Hauptbezugspunkt blieben aber meine eigenen Erfahrungen:

Altersverteilung. Der jüngste Gesprächspartner ist 15 und fällt aufgrund seiner Minderjährigkeit nicht im formalen Sinne in die Untersuchungsgruppe, der älteste ist 69. Das entspricht in der Spannweite meiner Untersuchungsgruppe. Desweiteren war mir klar, daß ein deutlicher Anteil der jüngerer Leute erfaßt werden muß.
 
Geschlechterverteilung. Nach einer von GEIGER/ STEINERT 1992 unternommenen Modellrechnung ist von einem Frauenanteil unter den Wohnungslosen von etwa 15% auszugehen, nach anderen Angaben ist dieser Anteil noch höher zu veranschlagen. Ein Frauenanteil von 15% deckt sich mit meinen eigenen Einschätzungen aus dem Berliner Feld.
Wohnungslosigkeit. Die Untersuchungsgruppe umfaßt sowohl Personen, deren aktuelle Unterbringungs- oder Wohnsituation (innerhalb der Hilfeeinrichtungen) schon über einen längeren Zeit stabil und relativ gesichert ist, als auch Wohnungslose, die erst seit sehr kurzer Zeit wohnungslos sind bzw. die erst im Verlauf der Untersuchung wohnungslos wurden.
Unterbringung/ Unterkunft. Hier habe ich ein Spektrum erfaßt, das reicht von einer eigenen Wohnung über den Platz in einer Einrichtung (William-Booth-Haus von der Heilsarmee), der Unterkunft in einer Pension bis hin zu Übernachtungen in der S-Bahn und gelegentlichen Mitwohngelegenheiten bei Bekannten.
Verhältnis zu den Einrichtungen und Angeboten der Hilfe für Wohnungslose. Beteiligung an Projekten und Initiativen von/für Wohnungslose. Im Untersuchungszeitraum wurden eine ganze Reihe unterschiedlichster Projekte und Initiativen im Bereich sozialer Arbeit mit Wohnungslosen/ Selbstorganisation von Betroffenen durchgeführt. In der Untersuchungsgruppe sind sowohl Personen, die auf eine gemeinsame Lebensbewältigung setzten und für die Hilfeangebote zunehmend wichtig geworden sind, sowie andere, die individuelle Lösungen vorziehen und der Hilfe skeptisch, distanziert und ablehnend gegenüberstehen und "sich auf eigene Faust etwas aufbauen".

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97