Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

OTTO

Interpretation

OTTO beschreibt zunächst seine Drogenkarriere. Zunächst raucht er nur "Shit" aus Neugier, als er seine Ausbildung als Stahlbetonbauer beginnt, ist sein Problem im Umgang mit Frauen eines der treibenden Motive für seinen Umgang mit Heroin und dem damit verbundenen Status. In der Folge versucht er, die Probleme mit Heroin "wegzumachen": Der erhoffte Lösungsweg wird selbst zu einem Problem. Er finanziert seinen Drogenkonsum zunächst durch den Weiterverkauf als Zwischenhändler ('dealen'), hat in der Zeit eine eigene Wohnung und macht die Lehre zu Ende. Aus er in einer späteren Phase beraubt wird, beginnt für OTTO das "Klein-Klein" und das "Abziehen", die gewöhnliche Beschaffungskriminalität. Die Konfrontation mit der Staatsgewalt bleibt nicht aus, die geforderten Urinkontrollen zum Nachweis seines clean-Seins kann er nicht einhalten, ihm bleibt die Wahl zwischen Therapie und Haft, OTTO entscheidet sich für das kleinere Übel. Dort erfährt er, daß er HIV-infiziert ist, die Ansteckung erfolgte höchstwahrscheinlich über die gemeinsame Benutzung einer Nadel, ein Risiko, das OTTO wie alle anderen in der Zeit nicht kalkuliert haben, weil die öffentliche Auseinandersetzung über Aids zu diesem Zeitpunkt noch in den Anfängen war. Er geht um nichts weniger - das benennt er auch - als um den Sinn seiner Existenz. Er sieht sich vor die Alternative gestellt, wieder drücken zu gehen oder die Therapie weiterzumachen, zu leben und sich etwas aufzubauen. Er beschreibt den weiteren Fortgang der Therapie als Prozeß, in dem er lernt, das zu erreichen, war er gerne haben will. Im Anschluß an die Therapie besorgt er sich eine Wohnung und beginnt eine zweite Ausbildung als CNC-Dreher. In seinen Tätigkeiten der folgenden Jahre verfolgt er zwei Schwerpunkte.

Erstens: Als ehrenamtlicher Mitarbeiter engagiert er sich in Einrichtungen für Drogenabhängige, um auf seinem Erfahrungshintergrund als Ex-user ein persönliches Hilfsangebot in Form von streetwork zu leisten. Hier wird er in zweifacher Hinsicht enttäuscht. Zum einen empfindet er eine - sicher auch objektiv bestehende - Motivkollision: Statt das personale Integrationsangebot von OTTO anzunehmen, nutzen die Junkies diese Möglichkeiten lediglich für ihre Zielsetzungen aus. Zum zweiten widersprechen die politischen Vorgaben im Umgang mit Drogen dem von OTTO intendierten Arbeitsansatz, den Einrichtungen der freien Drogenberatungsstellen wird durch Mittel- und Stellenstreichungen der Garaus gemacht.

Zweitens: Unter bewußter Verschweigung seiner HIV-Infektion - weil er glaubt, anders auf dem Arbeitsmarkt keine Chance zu haben - sucht sich OTTO einen Arbeitsplatz und führt ein ganz normales Leben, baut sich einen Freundeskreis auf, hat eine Freundin. Er hat in dieser Situation das Problem des Zugangs zu Frauen, das er zu Beginn seiner Drogenkarriere beschreibt, produktiv lösen können. Er geht verantwortungsvoll mit der Tatsache seiner HIV-Infektion um - er achtet darauf, keinen anzustecken - schreckt aber davor zurück, sie öffentlich zu machen. Als er einen Arbeitsunfall erleidet, muß er es tun. In der Folge kann OTTO nicht verhindern, daß seine Arbeitskollegen, von denen ein großer Teil zu seinem Freundeskreis gehört, sich von ihm zurückziehen, er wird aus der Firma gezielt rausgeekelt, das passiert ihm noch ein zweites Mal. In Folge dieser massiven psychophysischen Belastung - OTTO beschreibt sehr differenziert diesen noch weitgehend unerforschten Zusammenhang - erkrankt er HIV-bedingt an einer Hirnhautentzündung und beantragt bald darauf seine Rente, die für ihn gleichbedeutend mit einem finanziellen Verlust ist. Seine Wohnung, die sich in der Zwischenzeit erheblich verteuert hat, wird für ihn unbezahlbar, er ist nicht in der Lage, sich billigeren Wohnraum zu beschaffen. In dieser Situation sieht er keine andere Möglichkeit, als sich provisorisch zu Beginn des Winters in seinem Bauwagen am Rande der Stadt einzurichten, eine Entscheidung, die für ihn mit erheblichen Belastungen für Psyche und Gesundheit verbunden ist. Bei verschiedenen Behörden und Einrichtungen kämpft er - bislang erfolglos und ohne günstige Aussichten - um eine dringend benötigte, bezahlbare Wohnung.

OTTO wird nicht wohnungslos wegen seiner Drogenkarriere, im Gegenteil, er lernt in der Therapie nicht nur, mit seiner Drogenproblematik umzugehen, sondern auch, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Trotz dieser erworbenen Kompetenzen kommt OTTO nicht gegen seine Arbeitskollegen an, die als Reaktion auf die Kenntnis von seiner HIV-Infektion sich von ihm distanzieren und ihm "das Leben zur Hölle machen" und so seine Arbeitslosigkeit erreichen. Vor diesem psychologischen Mechanismus bewahrt ihn kein Gesetz zum Schutz des Arbeitsplatzes o.ä. Sein Eintritt in die Rente bedeutet eine drastische Einkommenskürzung und verschlechtert erheblich seine Position auf dem Wohnungsmarkt, dessen Gesetze seiner besonderen Lage gegenüber gleichgültig sind.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97