Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

4. Konsequenzen und Perspektiven
für die Wohnungslosenhilfe

"Ich bin Gast in diesem Land,
bei diesen Menschen, die ich liebe.
Aber es gibt Angelegenheiten,
bei denen ich anders fühle und anders denke,
von denen ich eine andere Meinung habe.
Und wenn es mir nicht mehr paßt,
dann entferne ich mich stillschweigend
und fahre weiter.
Darum trug ich das Billett in der Tasche."

(Jonny G. RIEGER 1957, 179)

 

Die Ergebnisse dieser Untersuchung, insbesondere die Interpretationen zu den jeweiligen Falldarstellungen sind meines Erachtens ein Plädoyer für einen subjekt- und tätigkeiteszentrierten Arbeits- (und nicht zwingend: Hilfe-) ansatz. Diesen in der Praxis sozialer Arbeit mit und für Wohnungslose im Rahmen eines Modellprojekts zu erproben und auf seine Trägfähigkeit hin zu überprüfen (analysieren, wiss. begleiten, reflektieren), wäre eine ebenso konsequente wie notwendige Fortsetzung des Anliegens dieser Arbeit.

Eine der wichtigen Voraussetzungen eines solchen Modellprojekts ergibt sich aus dem Transfer der Ergebnisse einer kritischen Reflexion der eigenen Forscherposition.

Nur eine unabhängige Position - die nicht, wie in den Hilfeeinrichtungen für Wohnungslose üblich - an eine konkrete Funktion gegenüber den Betroffenen gebunden ist - (Geben und Nehmen, Gefahr einer Verfälschung) ermöglicht und gewährleistet eine voraussetzungsfreie Vertrauensbeziehung, die nicht durch unausgesprochene, mit der Angebotsstruktur der Institution gegebene Gefahr einer Verfälschung durch die antizipation von erwarteten Aussagen. Das wird in der Praxis nur annähernd zu verwirklichen sein, etwa durch die konsequente - in Berlin bisher nur marginal und unkontinuierlich - praktizierte Straßensozialarbeit, oder durch die Einstellung von unabhängigen SozialarbeiterInnen, PädagogInnen, PsychologInnen und TherapeutInnen innerhalb von Einrichtungen, am besten aber im Rahmen von Selbsthilfeprojekten - um sowohl inhaltlich, stukturell wie auch personell die Eigenständigkeit eines solchen Angebots zu garantieren.

Für das Beratungsverhältnis werden Abgrenzungen notwendig sein: Auf der einen Seite hinsichtlich Polizei, Presse etc, auf der anderen Seite gegenüber Profis innerhalb der Wohnungslosenhilfeeinrichtungen, um überhaupt die Voraussetzungen für ein vertrauensvolles Arbeits- Berratungs- bzw. Betreuungsverhältnis herzustellen. Die zentrale These wäre, daß erst in dem Maße, wie der oder die Wohnungslose nichts konkret materiell-gegenständliches zu erwarten hat - sondern vielmehr erst selbst herstellen muß mit unterstützender Hilfe eines Profis, überhaupt eine vertrauensvolle Beziehung hergestellt werden kann.

In dem Maße, wie erste Konturen dies hier vertretenen Ansatzes einer tätigen Einbeziehung von Wohnungslosen in Projektarbeit sichbar werden (und es gibt in Berlin eine handvoll Projekte, bei denen dies bruchstückhaft der Fall ist, kann davon ausgegangen werden, daß die Forschungsergebnisse auf Interesse stoßen. Die Feldforschung knüpft an das bisher praktizierte streetwork-Konzept an. Die so erweiterten Kenntnisse können zum einen direkt hier eingehen, zum anderen kann damit das Wissen der Mitarbeiter/innen aus den Einrichtungen vertieft werden hinsichtlich ihres unmittelbaren Umgangs mit den Betroffenen. Zurerwarten ist, daß - über den konkreten Einzelfall hinaus - wichtige Beiträge zum Verständnis der besonderen Lebenslage und der Herausbildung spezifischer Formen der Lebenslagebewältigung auf dem Hintergrund der individuellen Gewordenheit geliefert werden können. Dabei sind auch die - durch die Beschränkung des zu untersuchenden Feldes - sich erweisenden Eigenheiten und Besonderheiten des Bezirks von Bedeutung, die "Logik des Stadtteils". Eine Auseinandersetzung über die angewandten Methoden in Hinblich auf eine Weitereintwicklung ambulanter sozialer Arbeit und einer konzeptionellen Fortschreibung im Sinne eines subjektorientierten Arbeitsansatzes, die in einen konkreten Ausbau bestehender ambulanter Hilfen münden, wären dringend erforderlich. Letzteres ist wiederum im Wesentlichen abhängig von der Entwicklung der sozialpolititschen Rahmenbedingungen ambulanter sozialer Arbeit mit Wohnungslosen, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersehbar ust und erst in einer späteren Phase des Projekts berücksichtigt werden kann. Bezogen auf die Gruppe der Wohnungslosen ist zu erwarten, daß mit einem Teil der Betroffenen eine schlüssige, wichtige Phasen des Lebens erfassende Bearbeitung und Dokumentation der biografischen Entwicklung möglich ist und daran anschließend in einzelnen, engumgrenzten Tätigkeitsbereichen mit den Betroffenen konkrete Handlungsschritte zur praktischen, tätigen Lebenslagebewältigung und -veränderung erarbeitet werden können.

Mögliche Bereiche könnten sein:

Die Beantwortung der Frage, inwiefern durch die Vergegenwärtigung der Lebenslage und der Biografie im dialogischen, teilnehmenden Forschungsvorgehen und insbesondere bei den Interviewgesprächen langfristige Veränderungsprozesse zur bewußten Bewältigung und tätigen Veränderung der individuellen Situation befördert oder in Gang gebracht wurden, bleibt einer späteren Untersuchung vorbehalten.

Auf der Ebene der Institutionen ist folgendes Forschungsdefizit zu konstatieren: In der Regel reichen die Eigenkapazitäten der Einrichtungen nicht für eine wissenschaftliche Begleitung und zur Aufarbeitung der Praxis bzw. sie beschränken sie sich in der Regel auf Hospitations- oder Praktikumsberichte von Studenten bzw. in Einzelfällen auf Diplomarbeiten, die sich auf einzelne Einrichtungen beziehen. Auch dieses Defizit erklärt einen Bedarf an den Erfahrungen und Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchunten. Von Interesse ist, wenn Forschungsvorhaben sich konkret auf wohnungslose Personen beziehen, die exemplarisch Nutzer/Klienten der entsprechenden Einrichtungen und Angebote sind oder zumindest zur erklärten Zielgruppe gehören. Gleichzeitig werden durch das methodische Vorgehen der offenen Feldforschung aktuelle Entwicklungen - "neue" Teilgruppen, Lebenslagen, Problemdimensionen und Überlebensstrategien (verstärkter Auftritt von Jugendlichen und Frauen, HIV bzw. AIDS und Obdachlosigkeit, vermehrter Zustrom aus den neuen und alten Bundesländern nach Berlin, Selbstorganisationsformen wie Theatergruppen, Bauwagensiedlungen, Hausbesetzungen und weiteres mehr) - anhand der Untersuchungsgruppe exemplarisch erfaßt und einer bewußten Problematisierung (Anforderungen an die Soziale Arbeit, das Hilfesystem, Konsequenzen) zugeführt. Die subjektorientierte, Biografie, Lebenslage und Perspektiven der Wohnungslosen erfassende Herangehensweise trifft dabei auf einen Hilfeansatz, der mit seinem personellen und institutionellen Angebot - je nach Arbeitsintention - fallbezogen, gruppen- oder gemeinwesenorientiert an den Bedürfnissen der Einzelnen und den Erfordernissen der Problemlage ansetzt. Mit den durch den Forschungsprozeß erarbeiteten Falldarstellungen und Interpretationen wird diese personale Ebene der Praxis sozialer Arbeit in fallbezogener und typologisierter Form aufgeschlüsselt, Problem- und Handlungsdimensionen werden aufgezeigt und plausibilisiert. Die in der Arbeit bearbeitete Problemstellung nach der Inanspruchnahme der Einrichtungen (Nähe/ Distanz) betrifft direkte Fragen nach Konzeption, Leistungsfähigkeit, Effizienz und Reichweite solcher Angebote. Die durch die Forschung eingebrachten unabhängigen Außenerfahrungen können sich als hilfreich erweisen, wenn es darum geht,

Als vorteilhaft könnte sich die Einbindung der Forschung in universitäre Strukturen erweisen. Ein langfristiger Bedarf bezieht sich darauf, im Bereich Sozialer Arbeit in der Ausbildung von Studenten an Universitäten und Fachhochschulen verstärkt das Qualifikationsfeld Obdachlosigkeit/Wohnungslosigkeit/ Soziale Arbeit mit Wohnungslosen zu entwickeln. Deutlich wird ein Bedarf an praxisbezogenem Expertenwissen, um für dieses immer noch als schwierig und undankbar eingeschätzte Arbeitsfeld Studenten zu interessieren, ihnen einen Praxiszugang zu vermitteln und diesen orientieren und begleiten zu können.

Zu konstatieren ist ein Mehr und unterschiedlichere Hilfeangebote bei einem Weniger an Wohnungen - dem eigentlichen zentralen Ziel der Hilfe. Der Ausbau des Hilfesystems wird bei weitem von der Entwicklung der Obdachlosenzahlen übertroffen. Das führt praktisch zu einem immer weniger an Hilfe. Die Zahlen darüber, wieviele Wohnungslose überhaupt nicht untergebracht sind, sind trotz aller Probleme der Erfassung dieses Personenkreises, offenbar ständig im Steigen begriffen. Relativ immer weniger können überhaupt durch das Hilfesystem untergebracht werden - von der Diskussion von der Qualität dieser Unterkünfte einmal ganz abgesehen

Mit der Veränderung der Struktur der Hilfen durch die lebenslagebezogenen ambulanten Hilfen einher geht auch eine Veränderung im Problemverständnis und im Verhältnis von den Akteuren Sozialer Arbeit und der Zielgruppe der Wohnungslosen.

a) die Veränderung im Problemverständnis ist nachzuweisen anhand des der Entwicklung der Forschung bezogen auf Wohnungslosigkeit, kommt aber auch in der Veränderung der Begrifflichkeiten zum Ausdruck: Von den "Nichtseßhaften" über "alleinstehende" Wohnungslose zu "Wohnungslosen"
b) Wohnungslose werden zunehmen nicht mehr als Klienten oder das Klientel Sozialer Arbeit angesehen, verstanden und definiert, sondern werden zunehmend als Subjekte (ihrer Lebenslage) angesehen, mit denen entsprechend (partnerschaftlich) umzugehen ist.

Brisant in diesem Zusammenhang ist aber immer noch der Kommentar zum Vorschlag der BAG Wohnungslosenhilfe zur Änderung der VO zu § 72 BSHG:

"Mit der vorgeschlagenen Änderung soll klargestellt werden, daß eine Unterwerfung unter allgemeine Wertvorstellungen der Gesellschaft in der persönlichen Lebensführung des Hilfesuchenden nicht Ziel der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten ist."
(BAG WOHNUNGSLOSENHILFE 1991a)

Diese Formulierung - ernst genommen - ist eine Bombe. Sie eröffnet aber auch ein völlig neues Handlungsfeld für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik. Soziale Arbeit mit Wohnungslosen wäre - unter diesen Voraussetzungen und Bedingen - ein Feld mit offenenen Handlungs- und Gestaltungsräumen, die bei weitem noch nicht alle erschlossen sind.

Dennoch dürfen bei der Erforschung und der Vermittlung von Relevanz und Wirkung subjektorientierter Projektkonzepte gesellschaftliche Grundbedingungen und Entwicklungen nicht außer acht gelassen werden: So formuliert eine Ad-Hoc-Arbeitsgruppe der Arbeitsgemeinschaft Ambulante Hilfe bereits im Jahr 1989 auf einer ihrer Tagungen:

"Der Wohnungsmarkt ist dicht: Ist das das Ende der ambulanten Hilfe?
- Für einen Großteil der Städte im Bundesgebiet gilt: Die Zahl der Wohnungsvermittlungen in den Beratungsstellen tediert gegen null. Für eine stark anwachsende Zahl von Wohnunglosen ist wieder Platte-machen angesagt. Versuche, den Wohnungsnotstand zu thematisieren, haben auf kommunaler Ebene außer der öffentlichen Aufmerksamkeit noch nicht allzuviel bewirkt.
  • - Auch wenn keine kurzfristigen Erfolge zu erzielen sind, bleiben die sozialpolitischen Aktivitäten wichtiger Bestandteil der Arbeit. Die "Trennung der Ebenen" (...) bezieht sich auch auf die Erfolgserwartungen: Einzelfallhilfe zielt auf schnelle Hilfe, Sozialpolitik erfordert einen langen Atem. (...)
  • - Ambulante Hilfe ist auch und gerade jetzt notwendig! Das Ziel: "Jedem Wohnungslosen eine Wohnung!" bleibt Anspruch und Ziel ambulanter Hilfe. Daß es im Moment nicht zu verwirklichen ist, ändert daran nichts. Dennoch ist die ambulante Hilfe auch in der Krise: Die realen Bedingungen (der Wohnungsnotstand wird sich im bevorstehenden Winter noch verschärfen) erfordern eine teilweise Abkehr von der Integrationsarbeit und eine Einmischung auch in die Notstandsdebatten: Krisenmanagement (und Verhinderung von Toten!) ist angesagt! Auch die Erschließung von sozialen Leistungen und die Erlangung elementarer Schutzräume sind wesentliche Aufgaben ambulanter Hilfe.
  • - (...) Wird mit Bunkerunterbringung die Wohnungsnot skandalisiert oder werden solche Maßnahmen durch die Wohnungsnot wieder als akzeptabel angesehen? Gewinnt das Gerede von der "Wohnunfähigkeit" wieder Raum?
- Führt das Entstehen eines "Stücks dritte Welt im eigenen Land" schließlich zum "Aufstand der Armen" (...) oder zu ganz anderen Reaktionen bei den davon Betroffenen?"
(AG Ambulante Hilfe 1990)

Tatsächlich hat es den Anschein, als ob sich die Lebenssituation Wohnungsloser immer weitergehend individualisiert - aber auch institutionalisiert - , sodaß sich im unteren Drittel der Zwei-Drittel-Gesellschaft, insbesondere bei den Wohnungslosen, bestehende Schichtungen und Spaltungen weiter vertiefen und multiplizieren (sodaß die hierarchische Gesellschaftsstruktur im Bereich der Wohnungslosigkeit noch einmal ihr Abbild im Kleinen darstellt). Bislang ungeklärt sind auch die damit verbundenen Fragen wie:


Polemischer Exkurs kurz vor Schluß

Wohnen ist kein Grundbedürfnis!
Obdachlose sind überflüssige Menschen

I. Obdachlosenhilfe im Sonderangebot?

"... es gibt keinen Grund, warum wir zulassen sollten, daß einige sich hier auf Erden nur aufhalten." - so schreibt im Spätherbst 1996 ein Herr Schwiedeßen von der Sozialen Wohnhilfe im Bezirksamt Lichtenberg von Berlin in seinem Positionspapier "Zur Versorgung obdachloser Menschen unterhalb der Verpflichtungen und Angebote der bezirklichen Sozialämter". (SCHWIEDESSEN 1996)

Ideologie ist notwendig falsches Denken. Notwendig falsch deshalb, weil die klare Benennung der tatsächlichen Zwecke und Ziele der Durchsetzung eines Interesses durchaus hinderlich sein könnten. Wer gibt schon gerne zu, daß er den anderen übers Ohr hauen will? Stattdessen reden wir - ideologisch richtig, tatsächlich falsch - über Sonderangebote und Sparpakete.

Schwiedeßen vom Bezirksamt Lichtenberg in Berlin möchte uns mit seinem "Positionspapier" ein solches Sparpaket verkaufen. Ein Versuchsballon, um auszutesten, was im Moment durchsetzbar ist. Es lohnt die Mühe nicht, sich darüber sonderlich aufzuregen, denn: Faktisch sind seine Positionen durchsetzbar! Sie sind schon jetzt - mehr oder weniger modifiziert - Teil der offiziellen Politik, nur wird das selten zugegeben. Von daher an dieser Stelle nur ein paar grundsätzliche Notizen zu den tatsächlichen Interessen, Zielen und Zwecken im Umgang mit obdachlosen und anderen Menschen in dieser unserer Gesellschaft:

II. Wer wird gebraucht?

In einer Gesellschaft, in der es in erster Linie um die Verwertung des Werts geht (böse Zungen sprechen in diesem Zusammenhang durchaus von "Kapitalismus") ist der einzelne, gewöhnlich Sterbliche nur insofern interessant, als daß er durch die Verausgabung seiner psychischen und physischen Arbeitskraft eben dazu beiträgt: Als normaler Fließbandarbeiter, um diese Werte zu produzieren, als Soldat, wenn die Verwertungsinteressen militärisch durchgesetzt werden sollen, als Diener des Staatsapparats, um dieses Verwertungssystem aufrechtzuerhalten, als gebärende Frau, um die Produktion von Nachwuchs zur Verwertung zu sichern, als Sozialarbeiter oder Pfarrer, um die schlimmsten sozialen Resultate dieser Ausbeutung zu entschärfen - und so weiter.

Die Leute müssen am Kacken bleiben, deswegen gibt es Lohn, die Leute müssen bei Laune bleiben, deswegen bleibt noch ein Rest für die Freizeitgestaltung; nicht alle werden gebraucht, deswegen gibt es Arbeitslose, der Bedarf ist wechselnd, deswegen gibt es für die berühmte Reservearmee finanzielle Ersatzleistungen (Sozial- und Arbeitslosenversicherung) - und so weiter.

"Wohnen" ist deshalb kein Grundbedürfnis, sondern Voraussetzung, um ausgeschlafen, frisch geduscht und sauber gekleidet, gut gefrühstückt und mit den aktuellsten Informationen aus der Zeitung ausgestattet, Tag für Tag gut gerüstet seinen Dienst im Dienste der Verwertungsinteressen anzutreten.

Es ist klar, daß ein Obdachloser, der selten ungestört irgendwo schlafen kann und zusehen muß, wo er Körperpflege betreiben und sich saubere Klamotten besorgen kann, wo er sein Frühstück bekommen und bei Laune bleiben kann, diese Leistung nur schlecht zu erbringen in der Lage ist. Aber: er wird ja auch nicht gebraucht! Deshalb braucht ein Obdachloser folgerichtig auch keine Wohnung.

Von daher ist es vollkommen richtig: Wer Arbeit hat und damit dem Verwertungsinteresse dienen darf, bekommt exakt soviel, damit er als Arbeitskraft seine Funktion erfüllen darf. Natürlich muß für Nachwuchs gesorgt werden und eine Reserve bereitstehen. Für alle anderen gilt: Sollen sie doch selber zusehen, wo sie bleiben. Gebraucht werden sie nicht. Das trifft zu auf mindestens 15 von offiziell über 20 Millionen Arbeitslosen, das trifft auch zu auf über 4 Millionen Obdachlose in Europa. Es ist also gar nicht einzusehen, daß für die unnützen und überflüssigen arbeits- und obdachlosen Menschen ein staatliches und wohlfahrtliches System aufrecht erhalten wird, das Jahr für Jahr Milliarden Mark an Geld kostet - für nichts und wieder nichts. Diese Kosten beeinträchtigen den Profit.

III. Sozialer Friede muß gewahrt bleiben!

Was also tun? Früher hat man nutzlose Esser schlichtweg mit einem Tritt vor die Tür gesetzt. In den heutigen, modernen Zeiten geht das nicht mehr so einfach. Heute verteilt man die Lasten zur Finanzierung der überflüssigen Leute auf die noch Arbeitenden, wohl wissend, daß diese es nicht einsehen, Mitesser auf ihre Kosten durchzubringen und daß diese von sich aus Steuererleichterungen fordern und sich die Meinung zu eigen machen, daß gespart, gespart, gespart werden muß. Zugleich kann man hoffen auf ein paar nützliche Idioten, die noch Mitleid haben und den überflüssigen Leuten sogar etwas abgeben von dem wenigen, was sie selber haben. Daß man die überflüssigen Leute nicht einfach in die Wüste schicken kann, verdankt sich lediglich dem Umstand, daß dort schon zuviele sind, die mit ihren dicken Bäuchen lediglich auf ihr Verhungern warten. Und zudem ist es auch gefährlich: Leute, die nichts mehr zu verlieren haben und dies wissen, sind unberechenbar und zu allem in der Lage. Von daher ist es notwendig, ihnen wenigstens noch ein Stück weit den Glauben zu erhalten, es gäbe noch einen Platz für sie in der Gesellschaft. Im herrschenden Sprachgebrauch heißt das dann: Es geht darum, den sozialen Frieden zu wahren. (Zur Erinnerung: Wenn die da oben von Frieden reden, wissen die da unten: Es wird Krieg geben!) Was wir im Moment erleben, ist nichts anderes als eine Konkurrenz darum, wie die Befriedung des Obdachlosenproblems möglichst zum Nulltarif geschehen kann. Christlich organisierte Suppenstuben, studentisch geleitete Notübernachtungen, selbstorganisierte Obdachlosenzeitungen und Recyclingprojekte, sozial angehauchte Gutmenschen in Lobbyvereinen und Spendenparlamenten, klassische Sozialarbeiterinitiativen und Wohlfahrtskonzerne mit ihren Einrichtungen, kommerzielle Immobiliengesellschaften und Arztmobile und so weiter wetteifern geradezu darum, wie das am besten zu machen sei, und wie man gleichzeitig den optimalen moralischen und vor allem finanziellen Profit für sich selbst und vor allem immer auf Kosten der Obdachlosen herausschlagen kann. Daß angeblich alles nur für die lieben armen Obdachlosen getan wird, das ist die moralische Seite dieser Angelegenheit.

Zugleich ist klar - und die Obdachlosentheatergruppe "RATTEN 07" artikuliert dies auch sehr präzise in ihrem neuesten Stück -: Obdachlosigkeit ist ein Wirtschaftsfaktor. Und auch hier gelten wie überall in der wertverwertenden Gesellschaft die Gesetze von Lohn, Preis, Profit und Effektivität. Wieviel Menschen dabei über die Klinge springen, ist letztlich egal. Aber das kapitalistische System hat schon immer Menschen verheizt, sei es im Krieg, an den Arbeitsplätzen, durch die Zerstörung von Umwelt und Natur oder durch einfache Rationalisierungen. Die permanente Produktion von Armut ist systematisch und logisch - irgendwie muß Reichtum ja hergestellt werden. Nicht nur, daß dabei mal eben auch haufenweise Leute obdachlos werden - nein, auch an den Obdachlosen kann noch gespart werden! Das ist die ökomische Seite dieser Angelegenheit. Ihre Durchsetzung hat immer etwas mit Gewalt zu tun, die sich mit Ideologie tarnt. Und wie sieht das aus:

IV. Kein Mensch ohne Zulassung!

"... es gibt keinen Grund, warum wir zulassen sollten, daß einige sich hier auf Erden nur aufhalten." Wenn "wir" also nicht zulassen sollen, daß etwa Obdachlose sich hier auf Erden "nur" aufhalten, werden "wir" damit eingeladen, den Obdachlosen eine "Zulassung" zu verweigern. Und was nicht zugelassen wird, ist schlichtweg illegal. Einmal abgesehen von der Frage, worauf sich diese "Zulassung" beziehen mag (allgemeine Menschenrechte, Staatsbürgerrechte, Grundgesetzrechte, Recht auf Sozialhilfe, Recht auf Unversehrtheit der Person - und so weiter), werden "wir" damit eingeladen, Menschen in die Illegalität zu verstoßen. Alles illegale aber (illegale Drogen, illegal hier lebende Ausländer, illegaler Waffenbesitz - und so weiter) wird nicht geduldet, sondern von staatlichen Organen verfolgt und bestraft. "Wir" werden also eingeladen, nachdem "wir" Obdachlose erstmal zu Illegalen gemacht haben, diese eben wegen ihrer Illegalität verfolgen und bestrafen zu lassen, wenn wir es nicht gleich selbst tun.

In letzter Konsequenz also ruft Schwiedeßen mit seiner Formulierung zu einer Verfolgung Obdachloser auf. Damit wird eine neue wie alte Qualität des gesellschaftlichen Umgangs mit Obdachlosen erreicht: Verfolgung statt Integration!

V. Fiktion oder Wirklichkeit?

Zur Verdeutlichung vielleicht noch einige Hinweise, wie diese "Verfolgung" im Alltagsleben konkret aussehen kann: Als Mutprobe: Wer noch nie in seinem Leben einen Obdachlosen erschlagen oder angezündet hat, ist kein anständiger Deutscher - oder, wahlweise: kein richtiger Mann (Stichwort: Penner-Klatschen)! Obdachlose werden als Versuchskaninchen für pharmazeutische und medizinische Experimente verwendet. Treibjagden auf Obdachlose werden von professionellen Firmen organisiert, damit Manager und Millionäre sich auch im praktischen Leben einmal beweisen können (Kostenpunkt: 120.000 US$ - mit Geld-zurück-Garantie). Private security-Firmen säubern Stadtteile von Pennern und Obdachlosen, damit das Wohlbefinden der Bewohner nicht länger gestört wird, die Menschen "verschwinden" einfach oder werden im nirgendwo ausgesetzt! Keine Frage, dies alles ist schon jetzt Realität.

Insofern ist die Position von Schwiedeßen gar nicht so neu. Er drückt nur aus, was viele denken und bereits schon seit langem praktizieren. Nur: mit seinem Papier ist das große Obdachlosen-Schießen jetzt auch offiziell eröffnet.

VI. Schluß

In einer Gesellschaft, in der es in erster Linie um die Verwertung des Werts geht (böse Zungen sprechen in diesem Zusammenhang durchaus von "Kapitalismus") ist der einzelne, gewöhnlich Sterbliche eben auch insofern interessant, indem er das seinige dazu beiträgt, überflüssige Menschen, etwa Obdachlose, zu entsorgen. "Wohnen" ist deshalb kein Grundbedürfnis, sondern Voraussetzung, um denen eins über den Schädel zu hauen, die keine Wohnung haben - und sei es, mit Worten!

Es ist wieder Krieg in Deutschland!

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97