Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

3. Ausgangslage

Die allgemeine Ausgangslage für ein solches Arbeitsvorhaben kann etwa so beschrieben werden: JOHN charakterisiert in seiner Überblicksarbeit zu "Ursache und Geschichte der Nichtseßhaftigkeit und die Möglichkeiten der Hilfe" die Forschungslage zu Verursachung von Wohnungslosigkeit mit der Feststellung: "Keiner der (...) bisherigen Erklärungsansätze vermochte mit dem bisher vorliegenden Material die Tatsache, daß in unserer Gesellschaft Menschen als Wohnungslose leben, über einzelne wichtige, aber eng begrenzte Teilaspekte hinaus hinreichend erklären" (JOHN 1988, S. 122). Er verweist damit berechtigterweise auf den engen Zusammenhang zwischen den Kenntnissen über die Personengruppe der Wohnungslosen und dem Stand der Forschung bezüglich der Verursachungsproblematik: Nur einige wenige wissenschaftliche Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum vermitteln detaillierte Kenntnisse der konkreten Lebenslage Wohnungsloser aus eigener Anschauung. Für die 80er Jahre sind hier zu nennen die Arbeit von GIRTLER 1980 zu Wien, der Selbstversuch (!) von HENKE/ ROHRMANN 1981 im Raum Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg, die im Rahmen des EG - Programms "Modellvorhaben und -studien zur Bekämpfung von Armut in Europa" (Projekt Nr. 4) entstandene Arbeit von WEBER 1984 in Tübingen und schließlich die Einzelfallstudien von GIESBRECHT 1987 zu Wohnungslosen in Hagen. Zwar sind in der Zwischenzeit einige weitere wichtige Arbeiten hinzugekommen[4], aber eine für die Stadt Berlin vergleichbare qualitative Untersuchung liegt bis heute nicht vor. Eine weitere Schwierigkeit im Zusammenhang mit der Forschungslage zum Problem Wohnungslosigkeit besteht aus dem Problemverständnis von "Nichtseßhaftigkeit" und den daraus resultierenden Effekten: Mit seinem "Plädoyer zur Trennung von dem Begriff 'Nichtseßhaftenhilfe'" setzte HOLTMANNSPÖTTER 1982 eine Diskussion in Gang, in deren Verlauf ALBRECHT forderte, "sich entschiedener als bisher von dieser Instanzenkategorie zu befreien, da sie offensichtlich immer noch unseren Blickwinkel verengt" (ALBRECHT 1985, S. 1).[5] ROHRMANN 1987 spitzte diese Diskussion mit dem Verweis auf die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit Wohnungslosen als das eigentliche konstituierende Moment der begrifflichen Problematik zu: Erst die Struktur der angebotenen Hilfe, das "Prinzip Nichtseßhaftenhilfe" (ROHRMANN 1987) selbst veranlaßt Wohnungslose zum Weitergehen, die "Betroffenen" können durch ihr Handeln somit immer nur bestätigen, was ihnen unterstellt wird - ihre "Nichtseßhaftigkeit". Daraus folgt, daß "nicht der Nichtseßhaftenbegriff als solcher eine Erkenntnisfalle ist, sondern das gesellschaftliche Verständnis und die gesellschaftliche Praxis, die sich mit diesem Begriff verbinden." (ROHRMANN 1987, S. 27). JOHN verwendet 1988 erstmalig durchgängig den Begriff "Wohnungslose",[6] um "das wesentliche gemeinsame Merkmal eher äußerlich und neutral zu benennen und Vorurteilsbildungen abzuwehren" (JOHN 1988, S. 36). Der hier am Begriff aufgezeigte Wandel im Problemverständnis[7] - Wohnungslosigkeit wird zunehmend im Kontext gesellschaftlicher Armut gesehen - vollzieht sich auf dem Hintergrund einer fortschreitenden Orientierung der sozialen Arbeit an der Lebenslage Wohnungsloser und der Entwicklung entsprechender ambulanter Hilfeformen.[8]

Der hier ins Spiel kommende Begriff von der Lebenslage Wohnungsloser verdeutlicht die ganze Tragweite des angestrebten Paradigmenwechsels im Umgang mit dem Problem, wenn expliziert wird, was damit gemeint ist. Eine der treffendsten Darstellungen dazu liefert HOLZKAMP:

"Die 'Lebenslage' des Individuums, wie wir sie verstehen, ist Inbegriff der gesellschaftlich produzierten gegenständlich-sozialen Verhältnisse vom realen Standort des Individuums aus, also soweit und in der Art und Weise, wie es damit tatsächlich in Kontakt kommt. Die objektive Lebenslage ist so einerseits eine bestimmte standortabhängige Konkretion der Beziehung des Individuums zu gesellschaftlichen Positionen und umfaßt damit auch das 'Noch-Nicht' oder 'Nicht-Mehr' der Realisierung von bestimmten Positionen und Positionen überhaupt...; sie umfaßt andererseits alle gesellschaftlichen Bedingungen der individuellen Reproduktion außerhalb des Bereichs der Beteiligung an verallgemeinert-gesellschaftlicher Lebensgewinnung, die zwar von den Positionen und ihrer personalen Realisierung abhängen, aber nicht darin aufgehen, also alle regionalen Umstände gegenständlicher und sozialer Art im Reproduktionsbereich, unter denen das Individuumsein unmittelbares Leben führt und bewältigen muß"
(HOLZKAMP 1983, S. 197).

Gleichzeitig verstehe ich einen Gegenstand, wie den der Lebenslage Wohnungsloser, in seiner konkreten Wirklichkeit erst dann, wenn ich ihn in seiner Gewordenheit begriffen habe. Die offenen Fragen nach "den Kenntnissen über die Personengruppe der Wohnungslosen und der Forschungslage bezüglich der Verursachung von Wohnungslosigkeit" (SCHNEIDER 1990, S. 5) sind daher nicht voneinander trennbar, sondern bedingen einander.

Lebenslagebezogene Forschung und Entwicklung adäquater Hilfekonzeptionen erfordern einen "Wechsel von der Standpunktlogik der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zur Logik des individuellen gesellschaftlichen Menschen" (JANTZEN 1979, S. 129). Im Bereich der sozialen Arbeit mit Wohnungslosen kommt dieser Anspruch bei EVERS in den Leitsätzen 3. und 4. ("Zu den Perspektiven ambulanter Hilfe") am deutlichsten zum Ausdruck:

"Kein automatisches (in der Hilfestruktur oder in der Struktur des Hilfehandelns begründetes) Wegdefinieren von Kompetenzen der Betroffenen!" "Lebensweltbezug herstellen, d.h. einen Ansatz wählen, der Klienten weitestgehend als Subjekte ihrer eigenen Lebenslage begreift und sich an ihren Interessen und Möglichkeiten orientiert!"
(EVERS 1988, S. 7f. Hervorhebungen und Auszeichnungen im Original.).

DANCKWERTS fordert bereits 1982 für den analogen Bereich Obdachlosigkeit:

"Ansätze und Strategien sozialer Arbeit mit Obdachlosen haben von den Besonderungen der materiellen, sozialen und psychischen Lebensbedingungen dieser Gruppe auszugehen"
(DANCKWERTS 1982, S. 159).

Die Entwicklung von geeigneten Handlungsstrategien setzt

"... die Fähigkeit voraus, die einzelnen konkreten Situationen zu erfassen, zu analysieren, um angemessene Handlungen daran auszurichten. Erster Schritt ist es demnach, das Besondere im Verhältnis zum Allgemeinen, die Biographie des Obdachlosen als das Besondere eines Lohnarbeiterlebens zu ermitteln. Die Erarbeitung der Biographie hat zum Ziel, die konkreten Lebensverhältnisse als historisch entstandene zu erfassen."
(DANCKWERTS 1982, S. 159).

Die besondere Funktion der "biografischen Rekonstruktion" wird für den Bereich der sozialen Arbeit mit Wohnungslosen erstmalig von ROHRMANN 1987 herausgearbeitet. Für ROHRMANN besteht das Ziel der pädagogischen Arbeit in der Aufgabe,

"die Betroffenen zu befähigen, durch geeignete kooperative Formen der Konfliktbewältigung eine erweiterte Kontrolle über ihre Lebenssituation zu erlangen oder wiederzuerlangen. Eine zentrale Bedeutung wird hierbei die Fähigkeit zur Einsicht in die Gewordenheit und Veränderbarkeit der aktuellen Lebensbedingungen haben."
(ROHRMANN 1987, S. 61).

Dabei muß das Verhältnis

"zwischen den objektiven Bedingungen von Armut und Wohnungslosigkeit und der subjektiven Deutung und Verarbeitung dieser Bedingungen durch die Betroffenen (...) grundlegend neu gefaßt und herausgearbeitet werden. Eine solche Arbeit steht bisher noch aus..."
(ROHRMANN 1987, S. 58).

ROHRMANN fordert - indem er HOLZKAMP/ SCHURIG (1980) zitiert - einen Erklärungsansatz, der es ermöglicht, den "gesellschaftlichen Menschen in seiner Individualität" und die Persönlichkeit eines Individuums als "Ausdruck seiner individualgeschichtlichen Gewordenheit" zu begreifen (HOLZKAMP/ SCHURIG 1980, S. XXVI; zit. nach ROHRMANN 1987, S. 57).

Dabei gilt es, die Biografien sowie die aktuellen Lebenslagen Wohnungsloser im Kontext gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen schlüssig einzuordnen: In der soziologischen Debatte, etwa bei HIRSCH/ ROTH 1986 sowie bei BECK 1986, wird unter diversen Topoi eine gesellschaftliche Umbruchsituation skizziert, die durch eine grundsätzlich und grundlegend neue Qualität des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft gekennzeichnet ist. Neue, postfordistische Akkumulationsstrategien des Kapitals befördern ein gleichzeitiges Wiederaufleben traditioneller Formen der Produktion und Reproduktion, erzwingen Prozesse der Auflösung von Klassen und Schichten, der Vertiefung und Multiplikation von innergesellschaftlichen Spaltungen und führen zu weitgehenden sozialen Verwerfungen als notwendiger Folge. Damit einher geht aber auch eine Freisetzung von Lebenslagen und Lebensstilen, sowie eine in Biografiemustern zunehmend zum Ausdruck kommende Individualisierung, Institutionalisierung und Standardisierung von Lebensläufen:

"In den enttraditionalisierten Lebensformen entsteht eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, daß gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt wahrgenommen werden können"
(BECK 1986, S. 118, Hervorhebungen im Original.).

Entsprechende Hinweise auf ein solches Umbruchs- und Freisetzungsszenario - sofern die tatsächlichen gesellschaftlichen Tendenzen und Veränderungen damit richtig und zutreffend beschrieben sind - müßten demnach konkret in einer empirischen Untersuchung auch in den Biografien und Lebenslagen Wohnungsloser wiederzufinden sein. In dem Maße, wie sie verallgemeinerbar sind, ließe sich damit zugleich konkretisieren, welche nachhaltigen Konsequenzen ein solcher Transformationsprozeß für das spezielle gesellschaftliche Problem der Wohnungslosigkeit nach sich zieht. Eine konstatierbare Verallgemeinerung des Risikos Wohnungslosigkeit wäre dabei ebensowenig ein überraschendes Ergebnis wie die Feststellung einer zunehmenden Individualisierung, Entsolidarisierung und Zementierung von Lebenslagen in der Wohnungslosigkeit.

Zu fragen wäre dann: Wie ist das einzuordnen und was bedeuten solche Ergebnisse für den Bereich des unteren Drittels der Zwei-Drittel-Gesellschaft, aber auch für den allgemeinen gesellschaftlichen Umgang mit diesem Problem und besonders für die Sozialpolitik? Welchen Stellenwert und welche Funktion haben in diesem Zusammenhang das System der Sozialen Sicherheit und vor allem die Einrichtungen und Angebote der Hilfe für Wohnungslose? Sind sie Bremse oder Motor einer solchen Entwicklung? Welche Rolle kommt ihnen zu und ist ihnen zugedacht, welche Räume eröffnen sich? Was ergibt sich daraus an Notwendigkeit gesellschaftlicher Neuorganisation von "Hilfe" bzw. ihrem inhaltlichen Kern "Soziale Arbeit"? Vor welchen Anforderungen, Konsequenzen und Perspektiven stehen dann unterprivilegierte Gruppen wie die der Wohnungslosen? Welche Formen gesellschaftlicher Organisation von individueller Lebensbewältigung werden damit möglich und notwendig? Und wie stellt sich dieses Problem dar auf der subjektiven Ebene von Persönlichkeitsentwicklung, Motivfindung, Sinnbildung und solidarischen Handlungszusammenhängen? - Ohne den Ergebnissen meiner Untersuchung und den sich daraus ergebenden Überlegungen vorgreifen zu wollen, geht es mir an dieser Stelle nur darum, in Frageform die Dimensionen einer solchen Einordnung zu skizzieren.

Die hier interessierende, empiriegerichtete Fragestellung zielt aber zunächst auf das im Zuge der individuellen biografischen Entwicklung entstandene System entwickelter persönlicher Sinnbildungen in der Form angeeigneter Bedeutungen. Die angeeigneten Bedeutungen repräsentieren einerseits die lebensgeschichtlich erworbenen Erfahrungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen usw. in ihrer gesellschaftlichen Dimension, repräsentieren andererseits aber auch die in den objektiven wie subjektiven Widersprüchlichkeiten des Lebensprozesses begründeten ganz persönlichen Sichtweisen, Auslassungen, Verkürzungen, Gewichtungen, Verzerrungen, Verfälschungen usw. Zugleich sind die angeeigneten Bedeutungen auf der individuellen Bewußtseinsebene orientierendes Moment der aktuellen tätigen Lebenslagebewältigung - durchaus nicht in Übereinstimmung, sondern oftmals auch im Widerspruch und Gegensatz zu persönlichen Sinnbildungsprozessen (LEONTJEW 1982; KUCKHERMANN/ WIGGER-KöSTERS 1986). Es liegt auf der Hand, daß auch die gegenwärtige Präsenz und Deutung individuell-biografischer Gewordenheit nicht ein für alle Mal feststeht, sondern wiederum selbst zum Gegenstand individueller Tätigkeit werden kann: Im Verlauf individueller Entwicklung, aufgrund bestimmter Umstände und Zufälle des konkreten Lebensvollzugs, aber auch in Form der bewußten Erarbeitung der Biografie. Gleichzeitig muß aber gesehen werden: Die zunehmend schwierigeren, widersprüchlichen, ja unmöglichen objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen zur Entwicklung und Gestaltung von persönlichem Sinn, Persönlichkeit und Biografie sind - unter Bezug auf die Positionen von BECK - das eigentliche, das psychologische Problem der Risikogesellschaft. Anders gesagt: Vom Standpunkt der individuellen gesellschaftlichen Subjekte ist Risikogesellschaft zunächst und in erster Linie nichts anderes als eine riskante Sinnbildungsgesellschaft. Die Notwendigkeit zur bewußten Gestaltung der Biografie wird in ihr zu einer permanent bedrohten und in Frage gestellten, vielleicht unlösbaren Aufgabe. Aus diesem Spannungsverhältnis der möglichen und zugleich verunmöglichten Biografiegestaltung erschließt sich die Herangehensweise und der besondere Stellenwert der Erforschung individueller biografischer Entwicklung.

Als besondere Schwierigkeit, die es zu lösen gilt, kommt hinzu, daß für ein biografieorientiertes Forschungsinteresse dieser Art in diesem besonderen Feld bislang keine angewendeten methodologischen und methodischen Vorlagen, die herangezogen werden könnten, existieren.

Der Ansatz dieser Arbeit ist ein subjektwissenschaftlicher. Das ist das zentrale Paradigma, von dem ich ausgehe, weg von einer gesellschaftstheoretischen Auffassung, in der das Individuum nur als Masse oder Beispiel auftaucht, hin zu einer Betrachtungsweise, die das Subjekt in den Mittelpunkt rückt, seine Gesellschaftlichkeit aber nicht ausschließt, sondern - als integralen Bestandteil des Verständnisses von Subjektivität - notwendig voraussetzt. Für die Praxis des Forschungshandelns ergeben sich daraus Konsequenzen, die geeignet sind, sowohl das rationale wie auch das emotionale Gleichgewicht eines wissenschaftlichen Diskurses nachdrücklich ins Schwanken zu bringen:

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97