Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

4. Soziale Kontexte

Wer die aktuellen Sinnbildungs- und Subjektentwicklungsprobleme unserer Gesellschaft empirisch untersucht, thematisiert damit auch die eigene Situation. Wer gelungene oder mißlungene Biographiegestaltungen kennenlernen, untersuchen, analysieren und bewerten will, ist auch selbst befragt, in Frage gestellt, emotional unsicher, im Zweifel... Quasi am grünen Tisch ein Forschungsprojekt auszuhecken, brütend über das Problem, den Stand der Forschung, angemessenen Methoden, aktuellen Forschungsdesiderata, möglichen Arbeitskapazitäten und einer logisch erscheinenden Planung - das ist die eine Sache. Ein solches Projekt bewilligt zu bekommen und damit vor der Notwendigkeit zu stehen, alles das in die Praxis subjektbezogener Empirie eines Forschungshandelns umzusetzen, die andere. Wie oft lief ich während der Anfangszeit meiner Feldforschungen in Berlin, vor allem in Moabit umher, verzweifelnd an meinen eigenen Ansprüchen und selbstgewählten Aufgaben, erdrückt von den vermeintlich hohen Erwartungen, die ich von unterschiedlichen Seiten (BERLIN-FORSCHUNG, Projektbeirat, Projektleitung) an mich gerichtet sah, gequält von der Sorge, überhaupt jemals einen Einstieg zu finden und ein Bein auf die Erde zu bringen. Was wollte ich überhaupt von diesen "PennerInnen" und was berechtigte mich, zu ihnen hinzugehen, sie zu stören, ihnen auf die Pelle zu rücken und zu allem Überfluß noch persönliche Fragen zu stellen?[9] Diese Unsicherheit findet auch in den ersten Protokollen meiner Feldbegehungen ihren Niederschlag:

"Ich fühle mich nicht sonderlich wohl. Lange auf der Straße mich aufzuhalten, das ist eine Perspektive, die ich nicht kenne. In der Regel bewege ich mich zielgerichtet auf der Straße - oder mache das Gegenteil, ich gehe zur Entspannung spazieren - aber so gut wie nie allein. Anders kommt Straße bei mir nicht vor. Mein Leben verläuft in der Hauptsache in klar strukturierten Räumen oder Orten. Und selbst wenn ich im Freien bin: Ich fahre zu einem Wald oder Park, drehe dort meine Runde und kehre dann wieder zurück nach Hause. Ich habe auf der Straße nichts verloren..."
(Protokollnotiz 1 vom 20.9.1990).

Insbesondere das emotionale Erleben im Zusammenhang mit der Feldforschung war phasenweise außerordentlich stark. Selbst nach Feldbegehungen, die objektiv einen Fortschritt und eine Vertiefung in persönlichen Kontakten und/oder einen wichtigen Wissensgewinn in Hinblick auf mein Forschungsinteresse erbrachten, war meine subjektive Befindlichkeit durch emotionale Zustände hoher Erregung, Wut, Aggression, aber auch Kraftlosigkeit, Ohnmacht, dem Gefühl, ausgelaugt oder ausgesaugt zu sein, gekennzeichnet. Dazu trat oft die Wahrnehmung einer inneren gedanklichen Leere, einer Einengung beziehungsweise Beschränkung im Denken, eine Art perspektivischer Verlust. In einer meiner Protokollnotizen kommt dieser Zustand besonders deutlich zum Ausdruck:

"Bedeutungen wie Käfige, wie Zwangsjacken, Lebenswirklichkeit, steigen in mein Hirn, Käfige werden meine Käfige, schränken mich ein, engen mich ein, fühle mich erfaßt, eingenommen, hilflos, ohnmächtig, schutzlos ausgeliefert, preisgegeben, wie die Tiger im Käfig, nur noch auf und ab laufen könnend, schlimmer noch, wie eine Wand voller Messer, gegen mich kommend, bedrohend, mich einengend, bedrohlich, kalt, without sense, without Zukunft, ich sehe nur soweit meine Hände reichen, dahinter hört die Welt auf, verschränkt, Wasserfälle von schalem Bier, Schleim, Eiter, verschränkt Liebe, Haß, Geld, Erfahrungen des Überlebens, Geschäfte, geliehen, Verstrickungen, der große Rausch, soweit meine Hände reichen, Zärtlichkeit, Pöbel, Schrei, Streit, Unerreichbarkeit, Hallelujah. Schmerzen, Weh, wehe, Wut, Lebenswille, rauskotzen... allright, what has really happened?"
(Protokollnotiz 17 vom 12.11.1990).

Das Dokument belegt zugleich, daß diese Zustände im Anschluß an die Feldforschungseinheiten, also in Situationen, in der meine Wahrnehmung nicht mehr unmittelbar auf das Feld konzentriert war, noch längere Zeit nachwirkten. Das emotionale Erleben bezog sich dabei auch auf die Personen selbst und kam in Gefühlen der Sympathie, der Ablehnung, aber auch in Gefühlen des Mitleidens, einer gewissen "Betroffenheit" ihnen gegenüber zum Ausdruck. Häufig waren diese Gefühle, vor allem in der ersten Phase des Kennenlernens, auch indifferent, nicht eindeutig. Für meine konkrete Weiterarbeit im Feld wurde diese Ebene der subjektiven Befindlichkeit, das persönliche Verarbeiten der Feldforschung phasenweise so sehr zu einem Problem, daß zeitweise meine Arbeitsfähigkeit blockiert war bis hin zu Zuständen, in denen es mir über Tage hinweg nicht möglich erschien, die Feldforschung wieder aufzunehmen. Eine Situation, die mich zwang, meine ganzen (Zeit-)planungen über den Haufen zu werfen.

Es war ein Aufeinandertreffen vieler Faktoren und vor allem ein tragfähiges soziales Umfeld - Auffangnetze eben -, die es mir möglich machten, die massiven Anfangsschwierigkeiten Stück für Stück zu überwinden. Was mir in solchen Situationen weiterhalf, war zugleich so überraschend einfach. Eines Tages fragte mich Georg: "Stefan, was ist das Problem?" - Ich überlegte und mußte schließlich feststellen, er hatte recht, es gab kein Problem. Ich mußte einfach nur konkret anfangen, beginnen, loslegen, etwas tun, statt ewig nur meine Probleme mit dieser Art der Forschung zu wälzen. Bei einer anderen Gelegenheit sah ich Hannes in Uelzen, wie er aufrecht stand wie ein Fels im Gespräch mit Wohnungslosen, einfach so, ohne Berührungsängste. Ich beobachtete ihn und lernte. Das und vieles mehr gab mir zu denken und brachte mich so unerhört weiter. Mit Bettina konnte ich alles wälzen, was mich an Angst und Sorge bewegte, sie gab mir so manchen guten Hinweis und vor allem, sie machte mir Mut. Und Ulla und Georg waren Menschen, die mich auffingen, wenn ich nach meinen Besuchen im "Feld" im Winter durchgefroren, physisch und psychisch völlig erschöpft an die Uni zurückkam, während ich mich an der Zentralheizung wärmte und einen starken Kaffee trank, um dann anschließend alles möglichst genau am Computer in Protokollen aufzuschreiben und festzuhalten. Ein weiterer wichtiger und sehr bedeutsamer Beitrag zum Gelingen des Projekts war die Bearbeitung und Klärung meiner Schwierigkeiten in und mit der Forschungstätigkeit im Feld durch eine ausgebildete Fachkraft im Rahmen einer Supervision. Dafür möchte ich Jutta Lämmler, die diese Supervision ebenso geduldig wie engagiert mit mir durchführte, ausdrücklich meinen Dank sagen.

Heute verstehe ich die oben beschriebenen Zustände als subjektiven Niederschlag der im Feld wirksamen Kräfte. Sie sind Formen meiner Widerspiegelung und Verarbeitung von objektiven Gegebenheiten wie die der Instabilität, Diskontinuität, Brüchigkeit, geringen Tragfähigkeit und Widersprüchlichkeit von erlebten und wahrgenommen Beziehungen, Lebensäußerungen und Lebenslagen Wohnungsloser. Reaktionen im Bewußtsein und emotionalen Erleben sind Ergebnis meiner Tätigkeit der Feldforschung: Beobachtung und Teilnahme, Gespräche, Interaktionen, Kommunikation in der erlebten, oben beschriebenen Widersprüchlichkeit. Die zunächst sehr einseitig erscheinende Bewegungsrichtung der im Feld wirksamen Kräfte verweist nur um so deutlicher auf den Umstand, wie stark ich vor allem in der Anfangsphase der Forschung noch eingenommen, ergriffen wurde von der erlebten Realität, statt sie gestalten zu können. Die vermeintliche Sicherheit im Feld, die ich nach meinen Vorarbeiten zu besitzen glaubte, erwies sich als trügerisch. Das versuchsweise Kennenlernen einer sozialen Realität innerhalb des (von SozialarbeiterInnen) kontrollierten Raums einer Wärmestube ist eben doch etwas anderes als das Eintauchen in die weitgehend von den Wohnungslosen selbst bestimmte Lebenswelt der Straße.[10]

Trotz vieler Hilfen brauchte es einige Zeit - es ist in meinen Protokollen dokumentiert -, bis ich wegkam von dem Kreisen um meine eigene Befindlichkeit. Im Laufe der Zeit, durch die Unterstützung, die ich in meinem persönlichen Umfeld, im Institut und durch die Supervision erfuhr und mit zunehmender Erfahrung und Übung und einer guten Portion Beharrlichkeit fand ich schließlich die Freiheit, herauszutreten aus dem Diskurs innerer Befindlichkeiten und persönlicher Schwierigkeiten. Ich begann, nicht mehr nur mich, sondern die anderen und ihre Lebenssituation genauer zu beobachten, zuzuhören, Fragen zu stellen, mir Geschichte und Geschichten erzählen zu lassen, wagte, zu diskutieren, zu widersprechen, wollte etwas erfahren, etwas wissen, herausfinden. Zunächst gab es Vorbehalte, Mißtrauen, berechtigte Ängste und kritische Nachfragen von seiten meiner wohnungslosen GesprächspartnerInnen - ich hätte ja von der Polizei, von der Presse sein können, und überhaupt, was ginge mich das alles an und was würde ich mit alledem machen, was ich so in Erfahrung brächte?

Alles in allem war die Resonanz der Wohnungslosen auf das Forschungsprojekt jedoch überwiegend positiv. Gründe hierfür sind in den methodologischen Vorentscheidungen zu sehen, die Wohnungslosen über einen längeren Zeitraum hinweg kontinuierlich in den Räumen ihrer Lebenswelt aufzusuchen, mit ihnen Aktivitäten durchzuführen, die an ihren eigenen Interessen orientiert waren, sie über Inhalte und Ziele des Forschungsvorhabens zu informieren und eine vertrauensvolle und in den Vereinbarungen verbindliche Beziehung herzustellen, die sich beispielsweise von einem von den Wohnungslosen durchweg kritisierten oberflächlich-kurzzeitigen Medieninteresse unterschied. Die Wohnungslosen hatten in der Person des Forschers einen Gesprächspartner, der sich für sie, ihre Sichtweise und Situation interessierte, zu ihnen Kontakt suchte, aufrecht erhielt, pflegte und sie als Subjekte ihrer Lebenslage und Biografie und als Experten in Sachen Wohnungslosigkeit ernstnahm. Die befragten Wohnungslosen thematisierten dann auch, daß noch immer die Öffentlichkeit auf Wohnungslose mehrheitlich negativ und ablehnend reagiert und daß ihre weitgehende gesellschaftliche Isolation - abgesehen von Beziehungen untereinander - häufig nur in Kontakten zu spezifischen Berufsgruppen (JournalistInnen, SozialarbeiterInnen und -pädagogInnen in problemnahen Tätigkeitsfeldern) durchbrochen wird, die in der Regel widersprüchlich - weil als materielle Abhängigkeitsbeziehungen - erlebt werden. Es war für die befragten Wohnungslosen wichtig, ihre Lebenslage und die damit verbundenen Schwierigkeiten (Alkohol, Kriminalität, Übernachtungsproblem) darzustellen und - auch gegenüber den Einrichtungen und Institutionen des Hilfesystems und des Systems der Sozialen Sicherheit - Kritik zu äußern, ohne Sanktionen oder Verfälschungen befürchten zu müssen. Auch die Darstellung der eigenen Biografie konnte auf der Basis dieser subjektorientierten und unabhängigen Herangehensweise erklärend, und mußte nicht rechtfertigend sein.

"Und wenn du einen richtigen Bericht schreiben willst, mußt du das nämlich mit verhaken, verstehst du, mit einbauen."
(ACHIM).

Das ist überhaupt wichtig. Nicht aber bloß aus moralischen, forschungsethischen Erwägungen, sondern vor allem auch aus methodischen Gründen, d.h. aus Gründen einer Herangehensweise, in deren Verlauf die Ergebnisse durch beiderseitige Tätigkeit zustande kamen, sollten meine "Partner" auch individuell zur Sprache kommen:

Die Motive der Wohnungslosen zur Mitarbeit bei der Forschung waren dabei im einzelnen durchaus unterschiedlich: Einigen war es wichtig, einen Gesprächspartner zu haben (HERBERT), andere äußerten, daß solche Begegnungen ihnen Mut machten (GERHARD), ein großer Teil äußerte die Hoffnung, mir damit bei der Bewerkstelligung einer Arbeit, deren Intention sie für richtig erachten, geholfen zu haben (MARTINA, MARTIN, ACHIM). Es war den Wohnungslosen vielfach ein Bedürfnis, auch über ihre individuelle Situation hinaus zum Problem der Wohnungslosigkeit aus ihrer Sicht Stellung zu nehmen. Thematisiert wurde dabei häufig, daß

Dennoch darf nicht übersehen werden, daß es auch Vorbehalte gegen das Forschungsprojekt gab. Viele der Befragten wollten genau und ausführlich über Inhalt, Zielsetzung und Vorgehensweise des Projekts informiert werden. Sie wollten wissen, was mit ihren Angaben geschieht. Wichtig war vielen die Zusicherung der Anonymität ihrer Daten, weil sie teils negative Reaktionen durch Behörden (z.B. bei offenen Haftstrafen o.ä.) befürchteten, teils vermeiden wollten, daß nahe Angehörige oder Bekannte von ihrer Situation erfahren. Eine zweite Linie der Vorbehalte war die gelegentlich geäußerte Kritik, es wäre besser, die für das Forschungsprojekt verwendeten Mittel für den Wohnungsbau einzusetzen. Gleichwohl wurde eingeräumt, daß es auch wichtig sei, auf den Wohnungsnotstand und das Problem der Wohnungslosigkeit aufmerksam zu machen, indem Wohnungslose die Möglichkeit erhalten, sich zu Wort zu melden. Die trotzdem überwiegend positive Reaktion der Untersuchungsgruppe auf die Projektintention war eine der Grundvoraussetzungen für das Gelingen der Interviewgespräche. Einige der befragten Personen wollten das Ergebnis der Arbeit ("das Buch", das ich hiermit auch ihnen vorlege) kennenlernen und erwarteten in erster Linie eine faire, der Problematik Wohnungslosigkeit angemessene und sachlich zutreffende Wiedergabe "ihrer" Situation, die sie in den Kontakten und bei der direkten Befragung (Gesprächsaufzeichnung) zum Ausdruck brachten. Die Mehrzahl der Befragten verband mit ihrer Mitarbeit dann auch die Hoffnung, durch ihren persönlichen Beitrag und ihr Beispiel Verständnis in der Öffentlichkeit für die Situation der Wohnungslosen und die Ursachen der Wohnungslosigkeit herzustellen, sowie die Mißstände der Wohnungs(bau)politik und des Systems der Sozialen Sicherung und Hilfe für Wohnungslose aufzeigen zu können und darüber indirekt an der Verbesserung und Veränderung ihrer Situation mitzuwirken. Eine gute Bereitschaft zur Mitarbeit war vor allem bei denjenigen Wohnungslosen zu konstatieren, die sich innerhalb der Institutionen und Angebote für Wohnungslose (vor allem: Tageswohnungen, Wärmestuben) engagierten. Und ein besonderes Interesse gegenüber dem Projekt bestand bei den Wohnungslosen, die sich an den verschiedenen Selbstorganisationsformen und Aktionen (Bauwagensiedlung, Verein "Obdachlose helfen Obdachlosen", Hegelplatz-Containerbesetzung, Theatergruppe) beteiligten. Ihnen war die vermittelnde, verständnisgenerierende Funktion einer solchen Forschungsarbeit wichtig, sie erhofften sich mittel- und langfristige positive Effekte (Öffentlichkeit, Bündnispartner) für ihr eigenes Engagement.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97