Stefan Schneider - Wohnungslosigkeit und Subjektentwicklung

5.4. Narrativ-(dialogischer) Interviewansatz

In Fortführung des bisher gewählten explorativen qualitativen Forschungsansatzes ist eine Entscheidung für eine offene narrative Befragungsform naheliegend:

"Das ungelenkte Interview, auch unstrukturierte offene Befragung oder qualitatives Interview genannt, dient in der Regel der Exploration eines neuen, bislang wenig erforschten Problemfeldes."
(KRAPP/ PRELL 1975, S. 119).

Der Forscher

"verfügt über einen hohen Freiheitsspielraum, da er die Anordnung oder Formulierung seiner Fragen dem Befragten jeweils individuell anpassen kann. (...) Die Bezeichnung 'wenig strukturiert' deutet auch darauf hin, daß die Gesprächsführung flexibel ist, daß wohl Vorstellungen des Befragers vorhanden sind, daß er auch bestimmte Ziele mit seinen Fragen erreicht, daß er aber im hohen Maße den Erfahrungsbereich des Befragten zu erkunden sucht, d. h., er hört vor allem zu. Im Grunde folgt das Gespräch nicht den Fragen des Interviewers, sondern die jeweils nächste Frage ergibt sich aus den Aussagen des Befragten."
(ATTESLANDER 1984, S. 109)

Insofern unterscheidet sich die 'offene' Form des Interviews, oder besser, des Gesprächs von der 'geschlossen' bzw. standardisierten

"dadurch, daß es auf eine höhere Aktivität des Befragten gerichtet ist und diesem stärker die Steuerung des Gesprächs zufallen läßt."
(KOHLI 1978, S. 7).

Gerade in der Unstrukturiertheit der Gesprächsführung liegt der Vorteil gegenüber strukturierten Methoden, bei denen

"das eigene Vorverständnis bei der Aufstellung der Fragen oder bei der Interpretation der Daten wesentlich beteiligt ist, daß also subjektive Momente bei diesen Verfahren vielmehr hineinspielen"
(GIRTLER 1980, S. 7).

Diese Aussage von GIRTLER gilt m.E. sowohl für den Forscher / die Forscherin als auch für die Personen der Untersuchungsgruppe.

Ein weiterer bemerkenswerter Hinweis zur Begründung dieses methodischen Ansatzes findet sich an anderer Stelle bei KOHLI. Er benennt vier mögliche Wirkungen des Einbezugs von Subjektivität in sozialwissenschaftlichen Studien:

"Damit kann verschiedenes gemeint sein.
Als erstes bedeutet es (...) den Bezug auf 'Sinn' (Wissensstrukturen, Deutungsmustern etc.). (...)
 
Zweitens heißt Einbezug von Subjektivität die wissenschaftliche Wahrnehmung der eigenen Sinnstrukturen der untersuchten Subjekte. Der Forscher stellt sich auf den Standpunkt des handelnden Subjekts und versucht nachzuvollziehen, wie es die Welt, in der es lebt, ausgehend von seiner Person kognitiv konstruiert.
 
Drittens kann mit Einbezug von Subjektivität die Wahrnehmung der individuellen Besonderheiten in den Lebensverhältnissen gemeint sein. Damit wird hervorgehoben, daß über die gängigen verallgemeinernden Abstraktionen zur Kennzeichnung sozialer Lagen die wirklichen Lebensverhältnisse in ihrer jeweils besonderen Ausprägung adäquat nicht zu fassen seien.
 
Viertens kann mit Einbezug von Subjektivität der Versuch gekennzeichnet werden, die individuellen Handlungsbeiträge des Subjekts wahrzunehmen. Gegenüber den verbreiteten Spielballmodellen wird in handlungstheoretischer Sicht daran festgehalten, daß das Subjekt selber aktiv an der Gestaltung seiner Lebensverhältnisse beteiligt ist."
(KOHLI 1978, S. 24).

Daraus ergibt sich - auch in der engeren methodischen Entscheidung zur Vorgehensweise - ein weiterer zentraler Ansatzpunkt aus dem Modell der Tätigkeitstheorie, auf das in der Entwicklung der Hypothese Bezug genommen wurde:

Auch diese spezifische Ebene menschlicher Subjektivität - die erzählte Lebensgeschichte - ist mit dem Begriff Tätigkeit erfaßt. Ausgangspunkt in der Gesprächsführung wäre demnach zunächst ein sachlicher, gegenständlicher Bezug - etwa eine konkrete Frage nach der Biografie und dem Alltagshandeln -, darüber kann ein Gesprächsfluß entstehen, Vertrauen aufgebaut werden, was ermöglicht, auf dieser Grundlage in persönlichere Bereiche zu gehen. Damit werden Voraussetzungen geschaffen , die Fragerichtung gleichsam von außen nach innen zu gestalten, d.h. mit den alltäglichen Tätigkeiten anzufangen, um über die so erhaltenen Aussagen und Informationen Material für weitergehende Fragen zu erschließen, also um genauer etwas über Tätigkeiten und Dominanzwechsel innerhalb der Tätigkeiten etwas zu erfahren, genauer Ziele, Intentionen, Interessen, Absichten erfragen zu können, Widersprüche auf der Sinn-Bedeutungsebene aufzudecken. Plausibel wird das Anliegen, auf der Gesprächsebene in tiefere Schichten der Persönlichkeit vordringen zu können, durch die Struktur der sprachlichen Kommunikation selbst:

Innerhalb des Gespräches und insbesondere in den Fragen nach der Biografie und dem Alltag ist der Zugang zu den Informationen vorwiegend sprachlich vermittelt, d.h., das so produzierte Wissen ist immer durch die angeeigneten und kommunizierten sprachlichen Bedeutungen gebrochen. Da sich persönlicher Sinn in den sprachlichen Bedeutungen ausdrückt, werden immer dort, wo dieser Widerspruch kommuniziert wird, persönliche Sinnbildungsprozesse berührt. Die kommunizierten Bedeutungen sind demnach selbst eine Informationsebene, die es zu in zweifacher Hinsicht zu untersuchen gilt. Zum einen der Prozeß der Kommunikation (sprachliche Interaktion) als Bestandteil des Forschungsprozesses, zum anderen die Möglichkeit der Rekonstruktion anhand der Bedeutungen, in Verbindung mit der interpretatorischen Fragestellung, welche Wirklichkeit und welcherart subjektive Sinnbildungsprozesse in den damit aus- bzw. angesprochenen angeeigneten Bedeutungen erschlossen sind. Und damit verbunden ist auch die Überprüfung der Frage möglich, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse, aber auch welche Welt der Ideologien und welche Widersprüchlichkeiten so angeeignet wurden. Weiterhin kann auch davon ausgegangen werden, daß in den sprachlichen Bedeutungen immer die Dimensionen von (biografischer) Vergangenheit und Zukunft miteingeschlossen sind.

Damit kann in methodischer Perspektive die Entscheidung für eine weitgehend offene Befragung, für einen narrativ-dialogischen Interviewansatz plausibilisiert und konkretisiert werden: Die Untersuchungspersonen werden zu lebensgeschichtlichen Erzählungen aufgefordert. Von besonderem Interesse ist dabei der Stellenwert der Wohnungslosigkeit im Rahmen der Lebensgeschichte. Aus diesem Grund konzentrieren sich die Erzählaufforderungen ("Stimuli") um dieses Phänomen herum: Dabei bezieht sich der erste Teil des Gesprächs auf die Situation vor der Wohnungslosigkeit, der zweite Teil auf das Entstehen von Wohnungslosigkeit, sowie der dritte Teil auf den Zeitraum der Wohnungslosigkeit bzw. die aktuelle Situation in der Wohnungslosigkeit.

In Anlehnung an die Methodik des narrativen Interviews ist es dabei von entscheidender Bedeutung, den Befragten eine weitestgehende Freiheit zu überlassen, das zu erzählen, was ihnen zu dem jeweiligen Komplex wichtig ist. Gerade diese Freiheit ermöglicht in der Analyse des Erzählmaterials Aufschlüsse über die biografische Entwicklung als Problem von persönlichem Sinn und objektiver Bedeutung, als Frage nach den Gegenständen und Bezugspunkten der Orientierung.

Im folgenden Abschnitt gehe ich zunächst auf das Feld ein, auf das ich mich beziehe, um überhaupt Daten erheben zu können. Anschließend stelle ich in Abschnitt 7. "Praktische Umsetzung" meine konkrete Vorgehensweise in den einzelnen Schritten dar.

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© Text und Gestaltung: Stefan Schneider (zosch@zedat.fu-berlin.de)
Fotos: Karin Powser - Logo: Willly Drucker
Letzte Änderung: 08.12.97