FU Berlin Kennedy- Institut für Nordamerikastudien 23.4.1996
SS 1996
Hauptseminar 32511: Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentIn: Margit Mayer/Stefan Schneider

Protokoll zur Sitzung vom 16.4.1996
Protokollant: Hendrik Bechmann

Zwei Referate bestimmten im wesentlichen den Inhalt der vergangenen Sitzung. Die nachfolgende Diskussion machte bereits gut deutlich, mit welchen Problemen und Fragestellungen sich die Teilnehmer auseinanderzusetzen haben werden. Das Protokoll rekapituliert zuerst in groben Zügen beide Referate mit dem Versuch einer Komparation ihrer inhaltlichen Schwerpunkte. Anschließend werden wichtige Argumente und Fragen aus der Diskussion dargestellt.


Im ersten Referat wurden die Begriffe Obdachlosigkeit und nichtseßhaft eingeführt, ihre Definitionsversuche und Unterscheidung in Deutschland dargestellt. Als Textgrundlagen dienten Beiträge der Zeitschrift "Gefährdetenhilfe", 2/90 und 1/93 von Roland Klinger und Hannes Kiebel Der Rückblick auf die hundertjährige Begriffsgeschichte machte vor allem deutlich, daß bei dem Gebrauch des einen oder anderen Begriffs Interessen sichtbar werden, die Betroffenen außerhalb eines - oder zumindest verminderten - Rechtsstatus zu drängen, oder aber eine bestimmte Begriffsverwendung - mit implizierter Definition, sei sie auch unklar bis widersprüchlich - politischen Handlungsbedarf abmelden soll. Die Begriffsunklarheit ermöglicht, das eigentliche Problem innerhalb bürokratischer Verwaltungsinstanzen zu verschieben. Die Verwaltungsterminologie transportiert immer noch die Vorstellung der Selbstverschuldung von Armut und Obdachlosigkeit. Die Betroffenen selbst und sie unterstützende Gruppen und Verbände streben eine Koppelung der Begriffe Obdachlosigkeit und Wohnungsnot an. Die von ihnen bevorzugte Bezeichnung ist Wohnungslos, und beschreibt damit gleich eine Lebensqualität, die an einen Markt gebunden ist. Letztlich spitzt sich die Frage zu, die vor allem für die Überlegung von Lösungsstrategien relevant ist, ob dem Phänomen, Menschen ohne Wohnung, externe oder interne Ursachen zugrunde liegen.

Im zweiten Referat wurden die von Peter Marcuse vertretenen Anschauungen aus dem Text: "Wohnen in New York" vorgestellt. Marcuse versucht darin klarzumachen, daß, wie er sagt, die fortgeschrittene Obdachlosigkeit keine Erscheinung sei, die vor allem von Soziologen oder gar Psychologen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht werden soll, sondern gibt dieser subkulturellen Gesellschaftsentwicklung eine politische Dimension. Marcuse bietet eine neue Definition von Obdachlosigkeit, mit der eindeutigen Implikation, daß die Ursachen in ökonomischen Prozessen und politischen Machtverhältnissen zu finden sind. In veränderten Strukturverhältnisse erkennt er einen Wandel in der Stadtentwicklung. Marcuse spricht von der Vierteilung der Stadt, in denen nicht nur die soziale Disparität sichtbar wird, sondern diese auch antreibt. Obdachlosigkeit ist nach Marcuse, das Ergebnis einer verfehlten Wohnungs- und Sozialpolitik.


Haben beide Referate zwar nicht den gleichen Fragenkreis bei dem Problem der Wohnungslosigkeit unmittelbar zum Gegenstand, läßt sich dennoch ein gewisser Vergleich ziehen. Deutlich wurde vor allem, daß es um die Schwierigkeit der begrifflichen Definition geht.


Am Beispiel Deutschland wurde klar, daß allein schon die Benennung des auftretenden Phänomens der Wohnungslosigkeit denunziatorischen Charakter hat. Marcuse bietet dafür eine Definition, welche die Sachlage präziser erfassen soll. Aber inwieweit sich diese auch administrativ durchsetzen läßt, wissen wir nicht. In beiden Fällen wurde auch nach möglichen Ursachen für Wohnungslosigkeit gefragt. Die Diskussion darüber scheint in Deutschland noch bei dem dualistischen Gegensatzpaar, interne versus externe Ursachen stehen geblieben zu sein. Dagegen liefert der Beitrag aus amerikanischer Sicht, die konkrete Aussage, daß wir die Entwicklung der sozio- ökonomischen Strukturen und die Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft, insbesondere in den Großstädten, als entscheidende Einflußmechanismen zu betrachten haben. Hat man in Deutschland den Eindruck, bei wachsender Zahl der Wohnungslosen verstärken sich die Forderungen nach mehr Sozialinitiativen und - leistungen, verlangt Marcuse den gesellschaftlichen Wandel. Seine Beschreibung ist nicht nur ein Plädoyer zur Solidarität für die Armen und Schwachen, sondern die politische Kampfansage.


Aufgrund der Regelung einiger organisatorischer Einzelheiten zum Seminar verblieb nicht viel Zeit für eine tiefe und erschöpfende Diskussion. Darüber hinaus müssen sich wahrscheinlich viele TeilnehmerInnen erst in die Literatur einarbeiten, um sich ein theoretisches "Wissensgerüst" des Problemfeldes anzueignen. Es kam die Frage auf, welche Tendenzen der Stadtentwicklung, im besonderen in Berlin zu beobachten sind. Kommen bestimmten Räumen (Orte) zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Nutzung zu? Zum Beispiel ist das Rote Rathaus in Berlin- Mitte am Tage Sitz des Oberbürgermeisters und gehört zu einem Areal touristischer Zielpunkte, in der Nacht aber macht dieses Gebiet den Eindruck, "außerhalb der Saison" zu sein. Die Fragen nach den Ursachen für Wohnungslosigkeit und Armut überhaupt schob sich dann bald in den Vordergrund. Dabei war nicht ganz deutlich, ob eine gute Kenntnis der Sachlage oder emotionsgeladene Anschauungen die Argumente leiteten.

Solidarische Hinweise

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