FU Berlin
FB Politische Wissenschaft
HS 32 511 Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentInnen: Margit Mayer, Stefan Schneider
Susi Amersberger
Interview mit einem Mitglied des Obdachlosenprojektes "Die Ratten 07"
Um die - im Rahmen des Seminares "Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland" geführte - theoretische Diskussion und Reflexion durch ein konkretes Beispiel zu beleben, sowie aufgeworfene Fragen zu beantworten und empirisch zu überprüfen, habe ich ein Interview mit Abel, Mitglied des Theaterprojektes von und mit Obdachlosen "Die Ratten 07", geführt. Ich habe dieses Projekt gewählt, weil mir der Zugang dazu durch die persönliche Bekanntschaft mit Abel erleichtert war und weil ich die provozierende These eines Seminarteilnehmers entkräften wollte, bei diesem Projekt handele es sich nur um ein Karriereprojekt für einige wenige aus der großen Masse der in Deutschland von Obdachlosigkeit Betroffenen.
Nach der, nur um wenige Fragen meinerseits ergänzten, freien Darstellung Abels nimmt das Projekt folgende Form an:
Das Projekt wurde 1993 von 7 Leuten gegründet - daher der Zusatz "07" an den Namen des Projektes.
Vorgeschichte war, daß der englische Regisseur Jeremy Wellers - bekannt für Randgruppentheater - Camus' "Die Pest" mit Obdachlosen einstudieren wollte und dazu Menschen aus Obdachlosenheimen und von der Straße holte. Den an diesem Stück Beteiligten eröffnete sich eine neue Perspektive, ein Lebensinhalt bzw. eine positive Veränderung ihrer bisherigen Situation. So konnten sie sich nach der Absetzung des Stückes nicht damit abfinden, wieder auf der Straße zu stehen. Aus dem einmal geweckten Bewußtsein heraus schlossen sie sich zu dem Projekt "Die Ratten 07" zusammen und fanden Leitung und Hilfe bei dem Regieassistenten Roland Brus und der australischen Schauspielerin Anne Cheer, die nach Abels Aussage ihre eigentliche Schauspiellehrerin war.
Die ersten Aufführungen fanden in besetzen Häusern und dem Mulack-Keller statt, bis Frank Castorf die Ratten schließlich an die Volksbühne holte, die auch heute noch finanzielle und materielle Hilfe gewährleistet, dem Obdachlosenprojekt sozusagen "Obdach gewährt".
Natürlich wären die "Ratten" lieber unabhängig, mit eigenen Proberäumen und Finanzbudget, zumal da sie in den Hierarchien, die auch am Theater herrschen, zahlreichen Schikanen ausgesetzt sind. Es sind vor allem die kleinen Angestellten, Hausmeister, Masken- und Bühnenbildner, Beleuchtungstechniker, die die Obdachlosen nicht ernst nehmen, ihnen deutlich zeigen, daß sie ihrer Meinung nach am Theater nichts zu suchen haben - was sich darin bemerkbar macht, daß wochenlang um bestimmte Kostüme, Scheinwerfer und technische Geräte gebettelt werden muß, gleichzeitig aber die Beobachtung gemacht wird, daß andere Regisseure, die im selben Raum proben, sofort mit allem Nötigen versehen werden. Ein weiteres Beispiel ist der Proberaum, eine ehemalige Requisitenkammer, die von den Projektmitgliedern selbst ausgeräumt und mit Linoleumboden ausgelegt wurde, nun aber plötzlich ihrem ursprünglichen Zweck wieder zugeführt werden soll.
Abel weiß zwar, daß Castorf und die leitenden Persönlichkeiten ihnen positiv gegenüber stehen, das Projekt im Rahmen des Möglichen fördern - doch die täglichen Schikanen können sie ebensowenig verhindern, wie die obdachlosen Schauspieler sich wegen jedem einzelnen Scheinwerfer an die Spitze der Theaterhierarchie wenden können. Eine bekannte Schauspielerin soll sogar gesagt haben, daß sie ihren Beruf in Frage gestellt sehe, "wenn bei Castorf an der Volksbühne schon Obdachlose spielen".
Trotz des Ressentiments innerhalb der Theaterszene findet das Projekt in der Öffentlichkeit große Resonanz. Zahlreiche Zeitungsartikel, die Abel mir vorlegte, beweisen dies. Abel selbst drückt ihr Selbstverständnis so aus, daß sie sich als Sprachrohr verstehen, für die, "die in der Gesellschaft bisher nichts zu melden hatten, von denen keiner etwas wissen wollte". Dafür sorgen die "Ratten" selber auch ganz aktiv: durch Auftritte und Performances an ungewöhnlichen Orten wie der Justizvollzugsanstalt Plötzensee, dem "Knast" in Brandenburg oder Aktionen wie "Das Bundesverfassungsgericht stellt sich dem Volk": ebenso wie bei dem Ärztekongreß in der Berliner Charité wurden in der Verkleidung von Verfassungsrichtern/Ärzten die Umstehenden oder Beteiligten durch provozierende Fragen und Kommentare aus ihrer Sicht als Obdachlose zum Nachdenken angeregt.
Besonders stolz ist Abel auch auf ihre internationalen Auftritte in Paris, Edinbourgh und Graz, sowie den "Förderpreis für darstellende Kunst des Landes Berlin". Bei der Preisverleihung, zu der die stolzen Träger auch ihre Freunde mitbrachten und zu 40 am Eingang erschienen, mußten sich die Obdachlosen über die üblichen gesellschaftlichen Diskriminierungen hinwegsetzen, eine Überprüfung der Tatsache abwarten, daß sie wirklich den Preis gewonnen hatten, bevor ihnen schließlich widerwillig der Eintritt gewährt wurde.
Obschon Abel selbst erst 1995 in das Projekt eingestiegen ist, somit nicht jeden, an der Geschichte des Projektes Beteiligten, persönlich kennt, und zudem eine große Fluktuation im Laufe der Zeit stattgefunden hat, kann er durch seine Aussagen die These es handle sich hierbei um ein "Karriereprojekt" entkräften: ca. 3 Personen haben durch ihre Arbeit Zugang zu Profivertägen an der Volksbühne bekommen, wovon einer, Wolfgang "Sisyphus" Graubart im hohen Alter und durch sein Leben auf der Straße geschwächt bereits verstorben ist; ein anderer, Max Schlüpfer, nur einen Zeitvertrag hatte. Dem Regieassistenten Roland Brus, der 1995 seine Aufgabe an Gunter Seidel weitergab, der Schauspielerin Anne Cheer, die nun nach Paris gehen wird und anderen Schauspielern, die als Gäste bei den "Ratten" mitwirkten mag dies eine Hilfe für die persönliche Karriere gewesen sein - die Obdachlosen selbst aber sind nach wie vor mit denselben Problemen konfrontiert und verlieren die Verbindung zu ihrem sozialen Umfeld nicht.
Der positive Effekt für die meisten Beteiligten war, daß sie es schafften, von der Straße wegzukommen, eigene Wohnungen zu finden. Außerdem sind zwei ehemalige Alkoholabhängige heute trocken. Dies liegt an dem guten Zusammenhalt der Gruppe, dem über die Theaterarbeit hinausgehenden Interesse aneinander. Abel zufolge geht "Regisseur Gunter Seidel schon mal mit auf's Sozialamt und seine Sekretärin macht Krankenhausbesuche", wenn, wie gerade eben, einer der Hauptakteure sich dort befindet. Für die von der Straße kommenden, die oft jeglichen familiären Zusammenhalt verloren haben, ist das Projekt die "Familie". Jeder nimmt Anteil am Leben des Anderen, seinen Problemen, denn "auf der Straße hast Du keinen mit dem Du reden kannst".
Für Abel sind dies die beiden Seiten des Projektes: der soziale Aspekt und die Theaterarbeit. Das bedinge sich auch gegenseitig, denn um gutes Theater zu spielen müsse aufeinander eingegangen werden, was ein intensives Kennenlernen erfordert, sowohl den Körper als auch den Charakter des Gegenübers. Große Offenheit im Umgang miteinander ist also Resultat als auch Vorausetzung für ein Theater solcher Art.
Die Lebensumstände der Obdachlosen stellen oft ungleich höhere Anforderungen an die Schauspieler: große Flexibilität ist erforderlich, wenn kurz vor der Aufführung, ein an sprunghaftes Leben Gewohnter entscheidet, sich doch lieber zurückzuziehen und ein anderer schnell seinen Part übernehmen muß. Auch der gewohnte Alkoholkonsum wird zwar zurückgeschraubt, aber nie völlig vermieden, was zu Aussetzern oder auch zu Prügelszenen führen kann, die vorher nicht eingeplant waren, aber von Kritikern ob ihrer Lebensechtheit und der perfekten Inszenierung gelobt werden. Dennoch wurde bisher jede Vorstellung durchgezogen, keine einzige abgesagt - denn etwas anderes als eine hohe Gage (bis auf eine geringe Aufwandsentschädigung sind die "Ratten" nach wie vor auf ihre Sozialhilfe angewiesen) und schauspielerische Berühmtheit hält die "Familie" bei der Stange. Man will sowohl einander nicht hängen lassen, als auch die Verantwortung für eine große Gruppe von gesellschaftlich zur Sprachlosigkeit Verurteilten zu reden, nicht abgeben.
Ich hoffe, somit die These eines "Karriereprojektes" entkräftet zu haben und mit den "Ratten 07" ein positives Beispiel für die Selbstorganisation von Obdachlosen bzw. das selbstbewußte Auftreten gesellschaftlicher Randgruppen mit dem Anspruch einer Kritik an gesellschaftlicher Normalität vor Augen geführt zu haben.
M.E. kann nur durch die Existenz solcher Projekte vermieden werden, daß der Gegensatz zwischen Gesellschaft und Randgruppen, wie den Obdachlosen, immer größer, der dazwischenliegende Abgrund immer unüberwindlicher wird. "Die Ratten 07" können als Brücke fungieren und eine Kommunikation aufrechterhalten, die für Verständnis auf beiden Seiten sorgt und Vorurteile abbaut.
Susi Amersberger
Freie Universität Berlin
Fachbereich Politische Wissenschaft (Otto-Suhr-lnstitut)
Zentralinstitut John-F.-Kennedy-lnstitut für Nordamerikastudien
HS Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland, SoSe 1996
Margit Mayer/Stefan Schneider
Sabine Rehder
Protokoll zur Sitzung vom 2.7.1996
Obdachlosigkeit in der gesellschaftlichen Reflexion:
im Spiegel von Öffentlichkeit, Kunst, Kultur, Literatur
1. Referat: Obdachlosigkeit in der gesellschaftlichen Reflexion: ein Problem im Spiegel von Öffentlichkeit, Kunst, Literatur, Wissenschaft
Da es schwierig ist, das Thema einzugrenzen - inhaltlich sowie historisch - wurden Beispiele gesellschaftlicher Reflexion von Obdachlosigkeit aus zwei Epochen vorgestellt. Grundsätzlich scheint sich die Perspektive auf das Phänomen Obdachlosigkeit zwischen zwei Polen zu bewegen:
Erstens, einer positiven Vorstellung von Obdachlosigkeit als einer selbst gewählten Situation, mit der Freiheit und Individualität assoziert werden. Zweitens, das negative Bild von Obdachlosigkeit als einem Zustand, der ungewollt eingetreten ist und der als bedrohlich empfunden wird.
Zunächst benennt die Referentin gesellschaftliche Hintergründe für Obdachlosigkeit in der Zwischenkriegszeit. Zu Beispielen selbst gewählter Obdachlosigkeit zählen die Jugend- und Wanderbewegung der 20ger Jahre, religiöse Bewegungen, letzte Formen der Wanderarbeit sowie die sogenannten "echten Vagahunden", die sich z.T. nach 1927 in der "Bruderscbaft der Vagabunden" mit Treffen, Ausstellungen und einer eigenen Zeitung organisiert haben. Die Mitglieder dieser Bruderschaft verstanden ihr Leben auf der Straße als Rebellion gegen die Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft.
Im Gegensatz hierzu stand die weitaus größere Zahl derjenigen, die durch widrige Umstände der Nachkriegszeit ungewollt obdachlos geworden sind. Unter ihnen viele Kriegsversehrte sowie Opfer der Wirtschaftskrise, während der die Zahl der Obdachlosen von 70.000 (1927) auf 450.000 (1933) angestiegen war. Insbesondere in Berlin formierten sich eine Reihe von karitativen Einrichtungen und Initiativen. Sämtliche Strukturen dieser Obdachlosenhilfe zerbrachen nach 1933.
Erst in dcn 80ger Jahren wurde Armut wieder zum Thema in der Kunst. Beispiele, wie die Kölner Klagemauer sind allerdings rar. Meist wird der negative Aspekt von Obdachlosigkeit aufgegriffen. Von Gruppen, die in der Obdachlosigkeit eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung sehen, wie die "Vagabullden'' der 2Oger Jahre, ist nichts bekannt. Wie allerdings aus dem Plenum eingebracht wird, lassen sich normadische Lebensformen auch heute durchaus finden (z.B. in Wagenburgen und bei denen, die meist in wärmeren Regionen in Zelten und VW-Bussen umherziehen). Jedoch scheint es hier keine Organisationen zu geben und der Begriff Obdachlosigkeit wird offenbar auf Grund seiner Stigmatisierung gemieden. In der Belletristik lassen sich einige Darstellungen von Obdachlosen finden, in denen meist die bewußte Entscheidung der Romanfiguren für ihr "abenteuerliches" Lehen auf der Straße ausschlaggebend ist. Mit der Frage, ob solche Darstellungen zu einem Problembewußtsein in der Bevölkerung beitragen oder eher zur Romantisirung und Verschleierung von von Obdachlosigkeit führten, wurde die Diskussion eingeleitet.
Zunächst scheint von Bedeutung, WER über Obdachlosigkeit schreibt, bzw. das Thema in der Kunst aufgreift und mit welchem Ziel: Die Betroffenen selbst oder Außenstehende?
Unterschieden wurde zwischen kreativen Arbeiten der Betroffenen selbst mit dem Ziel der aktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Situation und eventuell der Chance, diese auf diese Weise zu verändern. Aktuelle Beispiele aus der Praxis konnten dafür nicht benannt werden. Auf der anderen seite stehen Künstler, die selbst nicht betroffen sind und die das Thema aufgreifen, weil es "in" erscheint oder die den Anspruch haben, Obdachlosigkeit (mehr oder weniger realistisch) der bürgerlichen Gesellschaft zu vermitteln.
2. Referat: "Der Untergrund in Geschichte, Literatur und Kultur"
Hier ging es um den Wandel in der Bewertung des Untergrunds im Hinblick auf seinen metaphorischen Gehalt. Zunächst dienten Beispiele aus Geschichte und Literatur dazu, diesen Wandel zu charakterisieren: Während Untergrund früher positiv mit Nährmutter, Heiligtum und Zufluchtsstätte assoziiert wurde, verbindet man mit dem Untergrund heute eher das Dunkle, die Hölle, aus der Unheil und Böses droht.
Im Zusammenhang mit den wechselnden Bedeutungen wurde der Untergrund auch als Refugium der Obdachlosen gesehen, als deren Schutz gegen die "Oberwelt". Beispiele aus dem Bergbau zeigen über Jahrhunderte, daß die negative Assoziation von Untergrund dazu geführt hat, in erster Linie soziale Außenseiter dort arbeiten zu Iassen. Von allen anderen wurde der Bereich unter der Erde bis zum Bau der ersten U-Bahn (um 1900) gemieden.
Die Aussage der Referentin, die Furcht vor dem Untergrund sei zeitlich mit der Furcht vor dem technischen Fortschritt gewachsen, wurde erweitert um die These, der eigentliche Wandel der Begrifflichkeit habe bereits während der Ablösung matriarchaler Strukturen durch das Patriarchat eingesetzt.
Im zweiten Teil des Referats wurde Graffiti als Kunstform des Untergrunds in den 60ger Jahren vorgestellt. Diese Form wurde von Jugendlichen als eine Möglichkeit des Selbstausdrucks in der U-Bahn von NYC entwickelt (siehe Thesenpapier).
Von einigen wurde in der abschließenden Diskussion die Frage aufgeworfen, ob der Untergrund in allen Mythen grundsätzlich rein negativ dargestellt sei. Da es an Zeit und Hintergrundwissen fehlte, blieb die Frage ungeklärt. Auf eine Gesamtauswertung des Seminars mußte ebenfalls verzichtet werden.
Fu Berlin
SoSe 1996
FB Politische Wissenschaft
HS 32511 Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentInnen: Margit Mayer/Stefan Schneider
Susi Amersberger
Obdachlosigkeit in der gesellschaftlichen Reflexion: ein Problem im Spiegel von Öffentlichkeit, Kunst, Kultur, Literatur, Wissenschaft
(Referat am 2.7.)
Von den 3 Phasen, in denen sich Obdachlosigkeit im Spiegel der gesellschaftlichen Reflexion festmachen läßt, konzentriere ich mich auf die Zwischenkriegszeit und die Jetztzeit.
In der Zwischenkriegszeit haben verschiedene Faktoren, d.h. Gründe,Ursachen die meist nicht monokausal als Erklärung herangezogen werden können, zu verschiedenen Formen von Obdachlosigkeit oder Nicht-Seßhaftigkeit geführt. Entsprechend dieser Formen ist auch ihr Spiegelbild in der gesellschaftlichen Reflexion und das jeweilige Medium (Kunst, Literatur, Wissenschaft...) völlig unterschiedlich.
In der Jetztzeit, d.h. seit Anfang der 80er Jahre, bildet sich nach der langen Periode allgemeinen Wohlstands eine homogenere Gruppe von an den Rand der Gesellschaft Gedrängten heraus.
These: Obdachlosigkeit bewegt sich in der gesellschaftlichen Reflexion immer zwischen den beiden Polen eines positiven Ideals, d.h. einer Verkörperung von Sehnsüchten, Träumen und Wünschen und dem negativen einer permanenten unterschwelligen Bedrohung für den Großteil der Menschen, die ihr Leben im Rahmen der gesellschaftlichen Normalität führen.
Als positives Gegenbild zu einer extrem seßhaften Gesellschaft verbindet sich mit dem Begriff "Nicht-Seßhaftigkeit" Freiheit, Wandern, Ungebundenheit und ein eher selbstbestimmtes Leben.
Die "seßhafte" Obdachlosigkeit steht für Verelendung, Armut, Konfrontation mit dem Rand, den untersten Schichten der Gesellschaft,d.h. Abstieg, Scheitern, eine Angst und Schreckensvision.
Literatur:
- Anemon 3 SMD - die Wohnung der Stadtnomaden. In : Vardenews Nr. 4; S.11
- Künstlerhaus Bethanien (Hrsg.): Wohnsitz: Nirgendwo Vom Leben und Überleben auf der Straße, Berlin 1982
- Mattenklott, Gert und Gundel: Wolkenschieber und Asyle. In: Mattenklott, Gert und Gundel: Berlin Transit. Eine Stadt als Station, Hamburg 1987
- Tietze, Barbara: Neue Nomaden - nomadische Arbeitskulturen? Berlin 1993
- Zupancic, Andrea: Die Darstellung der Armut in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts. In: ArmutsZeugnisse, Berlin 1995
Belletristik:
- Hugo, Victor: Die Elenden, Berlin 1987
- Malot, Hector: Heimatlos, München 1980
- Orwell, George: Erledigt in Paris und London, Zürich 1978
- Ossowski, Leonie: Die Maklerin, Hamburg 1994
- Reschke, Karin: Asphaltvenus. Toscas Groschenroman. Hamburg 1994
Freie Universität Berlin
Fachbereich Politische Wissenschaft (Otto-Suhr-lnstitut)
Zentralinstitut John-F.-Kennedy-lnstitut für Nordamerikastudien
HS Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland, SoSe 1996
Margit Mayer/Stefan Schneider
Peter Gebauer
Protokoll vom 18.06.1996
Rückblick auf die letzte Sitzung
Am Anfang der Sitzung referierte Jo Baars kurz die letzte Sitzung vom 11.06.1996. Thema der letzten Sitzung "Stadtentwicklung und Obdachlosigkeit", Vorstellung eines Forschungsprojekt von Jens Sambale und Dominik Veith. Als wichtige Kernaussage des vorgestellten Forschungsprojekt stellte Jo Baars die Regulierung des Wohnungsmarkt heraus, die (Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau) nicht erst mit der "Wende", sondern bereits 1987 statt fand
Anmerkungen zum Verfassen eines Protokolls
Ein Probleme für den Protokollanten der letzten Sitzung war das vorgetragene Forschungsprojekt niederzuschreiben, da es sehr schnell vorgetragene wurd, was auch von anderen Teilnehmer und der Dozentin Margit Mayer nachvollzogen werden konnte. Die Dozentin Margit Mayer gab dann auch Empfehlungen, wie man Protokolle verfaßt und vorträgt. Protokolle sollen eine Überblick nur das wesentliche einer Seminarsitzung wiedergeben - daher sollen keine Nebensächlichkeiten mitgeschrieben werden. Wichtige Punkte, die beim Protokollieren berücksichtigt werden sollten:
- nur das Wichtige hervorheben, keine Nebensächlichkeiten protokollieren
- Fragen mitschreiben
- Was kam als Ergebnis heraus (auch offene, ungeklärte Fragen erwähnen)?
3. Sektor-Organisationen in den USA (1.2.3 Sektor)
In der Bundesrepublik Deutschland und anderen Staaten wie z.B. den USA werden Wirschaftssubjekte in drei große Bereiche unterteilt:
- Markt bzw. Unternehmenssektor: (profitorientiert, selbstständig handelnde Unternehmen.
- Staat: (vom Staat getragene Einrichtungen, bspw. Kindertagesstätten, Jugendfreizeiteinrichtungen etc.).
- privater Sektor: freie Träger, nicht direkt vom Staat getragen: große Wohlfahrsverbände, bspw. Caritas, kleine stadtteilorientierte Verbände, Kirchen (können sich die Arbeitnehmer aussuchen, bspw. nur Katholiken etc.).
Die Anfänge der Wohlfahrtsorganisationen in den USA
In den USA gibt es heute kaum noch staatliche soziale Einrichtungen für hilfsbedürftige Menschen, dieser Bereich wird heute zum größten Teil im sogenannten 3. Sektor von Nonprofit-Organisationen übernommen. Staatliche als auch private Wohlfahrt hat in den USA keine so lange Tradition wie in Deutschland. In Deutschland forderten im vorigen Jahrhundert vom Bürger getragene Selbsthilfegruppen Anspruch auf Staatshilfe. Aufgrund des politischen Drucks => Bismarcks
Sozialgesetzgebung. In den USA gab (und gibt) es keinen (so weitreichenden) universellen Anspruch auf soziale Staatshilfe. Statt dessen liegt die soziale Verantwortung in den USA im privaten Sektor. Die Verlagerung vom 2. Sektor in den 3. Sektor ist eine Rückbesinnung auf die Anfänge sozialer Hilfsorganisationen in den USA. Damals gründeten oder unterstützten vorwiegen reiche Bürger Hilfsorganisationen für sozialbedürftige Bürger oder unterstützten diese mit Spenden. Der Staat war im (diesen) sozialen Bereich so gut wie nicht aktiv, die Bürger sollten selbst die Verantwortung übernehmen und entscheiden, wem sie helfen wollen => zivilstaatliches Prinzip (Bürgergesellschaft). Die ersten Selbsthilfeorganisationen waren, da sie keine finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten haben, in ihrem Handeln unabhängig. Insbesondere Frauen haben sich in Hilfsorganisationen betätigt, da ihnen der Zugang zur männerdominierten Politik und den Wissenschaften erschwert wurde.
Die Dezentralisierung von sozialen Einrichtungen (für Obdachlose) nach dem "New Deal"
Die Regierung unter Ronald Reagan hat sich gegen ein staatliche Lösung des Obdachlosenproblems gewandt. Nur noch für die Grundversorgung soll der Staat zuständig sein. Stattdessen sollen die Bundesstaaten und insb. im privaten Sektor Nonprofit-Organisationen mehr Verantwortung im sozialen Bereich übernehmen. Nonprofits sind zu vergleichen mit den Freien Trägern in der Bundesrepublik Deutschland. Nonprofit-Organisationen können von sich aus alleine nicht bestehen, denn zum einen sind die Einnahmen, die sie selbst erwirtschaften, viel zu gering, zum anderen reichen auch die Spenden vorwiegend reicher Bürger nicht aus. Um ihre Arbeit verrichten zu können, sind Nonprofits auf staatliche Zuschüsse angewiesen. Nonprofits erhalten etwa 50% Zuschüsse vom Staat. Da der Staat zum einen Verträge mit dem Nonprofit-Organisationen abschließt, zum anderen die Anzahl der Nonprofits gestiegen sind, hat der Staat erheblichen Einfluß auf die freien Träger, er kann frei auswählen, welche Hilfsorganisationen unterstützen möchte und welche nicht. Die Unabhängigkeit der freien Träger ist damit nicht mehr gewährleistet. Da Nonprofits zum einen unbürokratischer als der Staat arbeiten, zum anderen wegen des größeren Engagements, ist eine individuellere Betreuung möglich. Aufgrund staatlicher Unterstützung sind viele Hilfsorganisationen in den Staaten gegründet worden. Ein Teil der Hilfsorganisationen ist profitorientiert, ein anderer Teil nicht. Staatliche Hilfe und ein zunehmendes profitorientiertes Handeln hat zur Folge, daß das Konkurrenzdenken zunimmt. Zunehmend werden auch Selbsthilfeorganisationen (Volunteers) von Betroffen aus Eigeninteresse, aber auch aus der Vision heraus, uneigennützig zu helfen, getragen. Die von den Betroffenen getragenen Hilfsorganisation handeln sehr unbürokratisch, haben aber auch eine geringe finanzielle Basis, was sie aber andererseits von staatlicher Bevormundung unabhängig macht.
HS Mayer/Schneider, 11.06.1996, 18.00 - 20.00
HS Mayer/Schneider, 11.06.1996, 18.00 - 20.00
Jens Sambale/ Dominik Veith
Wohnraumversorgung und Obdachlosigkeit in 3 Städten:
Hauptstadt, Frontstadt, Metropole Berlin.*
Einführung
1. Berlin - Hauptstadt der DDR
2. Frontstadt Westberlin
3. Obdachlosigkeit und Wohnungsmarkt
4. Metropole Berlin
Anmerkungen
Einführung
Eine Annahme unseres Forschungsprojektes Das Neue Gesicht metropolitaner Obdachlosigkeit in Berlin lautet, daß die Verarmungsdynamik in Berlin weniger der nationalen Vereinigung als der Integration Berlins in den Weltmarkt geschuldet ist. Die Standortkonkurrenz der Kommunen um Investoren und bestimmte Arbeitskräfte führt vielerorts zu einer Reorientierung lokaler Politik - insbesondere das Ausgabeverhalten der Städte ändert sich. Der Wandel von der distributiven Lokalpolitik, die gesellschaftlichen Reichtum umverteilt zu einer unternehmerisch orientierten, die ihre Stärken global offensiv vermarktet, bringt den lokalen Sozialstaat in Bedrängnis. Insbesondere die weltweite Zunahme der urbanen Obdachlosenpopulation artikuliert die Abkehr von einer integrativen Stadtentwicklungspolitik hinzu einer, die bereit ist soziale Desorganisation dauerhaft in Kauf zu nehmen, oder wie es der Senat formuliert: "Auf der Straße lebende Menschen werden auch weiterhin für alle im Stadtbild sichtbar bleiben" (Abgeordnetenhaus 12/3162:6).
Obdachlosigkeit wird in diesem Spannungsfeld von globalen Zwängen und lokaler Politik produziert und reproduziert. Damit ist ein deutlich anderer Ansatz beschreiben als der subjektorientierte, der von dem betroffenen Individuum her die Ursachen der Obdachlosigkeit analysiert. Als strukturalistisch wollen wir unser Vorgehen jedoch auch nicht verstanden wissen, da immer konkret handelnde Akteure die Rahmenbedingung der Obdachlosigkeit herstellen. Wir werden im folgenden den Wandel der Wohnraumversorgung in Berlin nachzeichnen, wohl wissend, daß Obdachlosigkeit nicht allein der fehlenden Wohnung geschuldet ist sondern der fehlenden gleichberechtigten Teilhabe an dem städtischen Leben ...
1. Berlin - Hauptstadt der DDR
Das sozialistische Berlin stellte die Wohnungsfrage immer in den Mittelpunkt staatlicher Politik. Nicht allein die Beseitigung der Kriegsschäden, sondern mehr noch der legitime Affekt gegen die Mietskasernenstadt nährte den DDR-Aufbaueifer. Wohnungsbau war explizit das Kernstück der Sozialpolitik. 1973 wird die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 zur Hauptaufgabe der Sozialpolitik. Bald darauf fällt der Beschluß zur Formation Ostberlins als Metropole. Extensiver Wohnungsbau dominiert nun zuungunsten städtebaulicher Planungen das Terrain - mit voraussagbaren Konsequenzen. Die nationalen Ressourcen (Mensch und Material) werden in Ostberlin lokal konzentriert und führen zur "Verwüstung" ganzer Landstriche. Der Wohnungsbau an der Peripherie wird ein wirksames Instrument bei der Allokation junger Fachkräfte. In den Platten am Stadtrand residieren sozialistische Eliten. Die verfallenden Innenstadt wird zum Abschieberesevoir. Hier siedeln in erster Linie die, die keine der modernen Wohnungen zugewiesen bekamen und weniger die, die keine wollten. Auch in der sozialistischen Stadt verräumlichten sich soziale Beziehungen. War es der DDR einerseits gelungen den Zusammenhang der kapitalistischen Stadt zwischen der Position ihrer BewohnerInnen im Arbeitsmarkt und ihrem Wohnstandort aufzulösen und so eine klassische Ursache der Obdachlosigkeit/Wohnarmut zu beseitigen, gelang es ihr trotz beeindruckender Wohnungsbaubilanz nicht, die Bevölkerung mit bedarfsgerechten Wohnraum zu versorgen wie es die Verfassung von 1949 versprochen hatte. Jede zweite Neubauwohnung war nicht wirklich neu, sondern notwendiger Ersatz für die unbewohnbar gewordenen Altbauten der Innenstadt zudem war die Mehrzahl der Wohnungen einseitig an den Bedürfnissen der Kleinfamilie orientiert und wies einen eklatanten Mangel an Kleinraumwohnungen auf, die sich jedoch noch in den Arbeiterbezirken wie dem Prenzlauer Berg finden ließen. Veränderte Haushaltsstrukturen (bspw. durch Scheidung) führten also beinahe zwangsläufig in die Altbauquartiere. Hier finden sich nach der Wende die Wohnungsnotfälle der DDR wieder. Plötzlich sehen sich die OstmieterInnen einem Bodenmarkt gegenüber der internationale Begehrlichkeiten weckt; die Mieten, eingefroren auf dem Stand von 1943, erscheinen dem Westen absurd. Trotzdem blieb die große Ostobdachlosigkeit nach der Wende aus. Im technischen Sinne obdachlos (Marcuse DEF.) wurden zuerst die, die es schon in der DDR waren. Die VertragsarbeiterInnen der sozialistischen Bruderländer waren zwar Teil der internationalistischen Rhetorik aber nicht Zielgruppe nationaler Wohnungspolitik. Statt Integration gab es alle fünf Jahre Rotation. Die billigen Arbeitskräfte machen die maroden Branchen der Kommandowirtschaft kurzfristig wieder konkurrenzfähig (Textilproduktion, Kohlentagebau) und rentabel, notwendige Investitionen bleiben aus. Die ArbeiterInnen werden nach Geschlechtern getrennt untergebracht und rigiden disziplinarischen Auflagen unterworfen, bei Krankheit und Schwangerschaft droht Rückführung (Alternative: Abtreibung). Den VertragsarbeiterInnen steht eine durchschnittliche Wohnfläche von fünf qm in den Heimen zur Verfügung. Durch die kleinräumig konzentrierte Isolation bleiben die VertragsarbeiterInnen außerhalb des Arbeitsplatzes unsichtbar für die deutsche Bevölkerung. Nach der Vereinigung verlieren diese VertragsarbeiterInnen schnell die billigen Unterkünften und ihre Arbeit. Die Unterbringungskosten schießen in die Höhe, die BewohnerInnen werden der informellen Ökonomie überantwortet, anschließend kriminalisiert. Dann werden 1995 die stigmatisierten Heime ("vietnamesische Mafia") aufgelöst und die Deportation der Arbeiter eingeleitet.
2. Frontstadt Westberlin
Auch in Westberlin gelang es der lange hegemonialen Sozialdemokratie die Funktion zwischen Einkommen und Wohnraumversorgung aufzulösen. Die Mietpreisbindung, ein Nachkriegsrelikt, sorgte bis Mitte der 80er Jahre (1987) für niedrige Mieten, ein Gleiches bewirkte der stete Bevölkerungsschwund. Sozialwohnungen wurden zwar als Großsiedlungen lokal konzentriert an der internen Peripherie errichtet ( Märkisches Viertel, Gropius Stadt, Staakener Felder), fanden sich aber auch in Zehlendorf. Die zutiefst sozialdemokratische Abneigung gegen das steinerne Berlin (so der Titel von Hegemanns einflußreichen Buch über die Lebensrealität der proletarischen Bevölkerungsmehrheit vor dem WKII) führte in der Westberliner Sanierungsvariante zu großflächigem Abriß mit anschließenden Neubau (erst das bürgerliche Hansaviertel, dann die Arbeiterquartiere um die Brunnenstraße und das Kottbuser Tor): Finanzierung war in der Systemkonkurrenz der bipolaren Weltordnung kein Thema. Obdachlosigkeit war lange ein lokales Phänomen (Mauer), das sich gut innerhalb der Logik sozialpädagogischer Ansätze erklären und behandeln. ließ. Das ändert sich schlagartig 1987 als sich die 3.500 registrierten Obdachlosen der Stadt auf fast 5.000 erhöhen. 27% dieser Obdachlosen waren in Kreuzberg registriert, die Zahl sprang von 277 Personen 1986 auf 1280 1987. Am Vorabend des Mauerfalls leben in Westberlin über 6.000 obdachlose Menschen, mehrheitlich in den innerstädtischen Arbeiterquartieren. Diese stete Zunahme läßt sich aus unserer Perspektive nicht mit dem massenhaften Versagen krisenhafter Biographien erklären und auch nicht mit den Lasten der Vereinigung, (wir sind immer noch in Westberlin), sondern mit der Abkehr von der integrativen Stadtpolitik. Mitte der 80er Jahre war Westberlin Schauplatz diverser Spektakel (750 Jahr Feier, Kulturhauptstadt, IBA), die öffentliche Mittel zum Zwecke des Standortmarketings mobilisierten. Den Berliner Eliten war zu diesem Zeitpunkt klar, daß sich unter dem Signum weltweiter Entspannung und Abrüstung die Kudammökonomie aus Bundessubventionen und lokalem Filz nicht länger halten läßt: Eine Millionenstadt kann sich nicht mittels der Zigarettenindustrie reproduzieren, die damals den zweitgrößten Industriesektor stellte (nach Beschäftigten). Daß sich hinter der glitzernden Fassaden der Kulturfestivals dynamische Armutsprozesse verbargen, wurde spätestens am 01. Mai 1987 in Kreuzberg deutlich. Die Verriegelung des Bezirkes anläßlich des Reaganbesuches versinnbildlicht schließlich den Umgang mit den unerwünschten Elementen der Stadt, die sich in der Behandlung Obdachloser und Armer im öffentlichen Raum reproduziert: Ausgrenzen und überwachen. An die Stelle bekämpfter Armut treten bekämpfte Arme. Ausgrenzung statt Ausbeutung ist die zentrale Erfahrung der Obdachlosen, Jugendliche und der Arbeiter- und Einwanderergemeinden in den deindustrialisierten Metropolen der Welt. Auch in Westberlin hatte sich bereits Mitte der 80er Jahre ein veritabler Armutsgürtel gebildet (Wedding, Tiergarten, Kreuzberg), der nach Osten durch die Mauer begrenzt war und gen Westen durch die sozial heterogenen Bezirke von den reichen Enklaven im Südosten geschieden war. Das interne Ost-West-Gefälle wiederholt sich bei den Einwandererzahlen. Steglitz nahm auch 1995 wenig mehr als 10% der Obdachlosen auf, die Kreuzberg zu versorgen hatte.
3. Obdachlosigkeit und Wohnungsmarkt
Der Situation auf dem Arbeitsmarkt stehen Umstrukturierungen in der Wohnraumversorgung gegenüber. Der Westberliner Wohnungsmarkt zerfällt spätestens seit Beginn der 80er Jahre in eine Vielzahl konkurrierender Teilmärkte mit ungleichen Zugangschancen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Die MieterInnen in langfristig sozialgebundenen Wohnungen öffentlicher Vermieter, genießen eine Vertrags- und Mietsicherheit, von denen MieterInnen in den Wohnungen freier, verwertungsorientierter Besitzer nur träumen können. In der Hierarchie folgen all jene, die in prekären, ungesicherten Mietverhältnissen wohnen: Die flexible Reservearmee der UntermieterInnen, ZwischennutzerInnen und auch der (Ehe-) Frauen, die häufig nicht im Mietvertrag auftauchen, ist nicht allein der Willkür des Vermieters ausgeliefert, sondern auch der des Hauptmieters. Darunter kommen die, die polizeirechtlich in Notunterkünften beherbergt sind und keinen Schutz durch das Mietrecht genießen. Die Endstation des Berliner Wohnungsmarktes ist wie überall auf der Welt die Straße. Wer sich wo auf diesen Teilmärkten positioniert, wird immer stärker von Marktkräften bestimmt.
Mit der Deregulierung des Mietwohnungsmarktes in Westberlin Mitte der 80er Jahre (Aufhebung der Mietpreisbindung und der Gemeinnützigkeit der Wohnungsbaugesellschaften, Rückzug aus dem öffentlichen Wohnungsbau usw.) verschärfen sich die Konflikte auf dem Wohnungsmarkt erheblich. Der fordistische Anspruch der Wohnungspolitik in Westberlin, die einkommensschwache Bevölkerung mit angemessenem, günstigen Wohnraum zu versorgen, wird aufgegeben, der Senat zieht sich fast vollständig aus der Bautätigkeit zurück:
Der Senat zieht sich zu dem Zeitpunkt aus der Bautätigkeit zurück als die ersten Sozialwohnungen aus der Bindung fallen und erste Sanierungsgebiete entlassen werden. Damit gibt die öffentliche Hand wesentliche Kontrollmöglichkeiten über Miethöhe und Belegung auf. Die Abkehr von der sozialen Durchmischung der Gebiete zugunsten der Versorgung von Wohnungsnotfällen bei verminderten Bestand wird zur Destabilisierung ganzer Gebiete führen aus denen sich dann die Obdachlosen der Zukunft rekrutieren werden.
4. Metropole Berlin
Die skizzierten Entwicklungstendenzen des alten Westberlins bestimmen die Realität auf dem Wohnungsmarkt im Formationsprozeß der Metropole.
1990 werden 170.000 fehlende Wohnungen ermittelt, doch die Wohnungspolitik der Mieterstadt Berlin ist durch einen komplizierten Mix von Förderprogrammen gekennzeichnet, unter denen rhetorisch die Eigentumsbildung dominiert. Bei über 10.000 registrierten Obdachlosen und einem sinkenden Haushaltsnettoeinkommen von 2650 DM (1994) wird deutlich, daß die Eigenheimförderung weniger der Wohnungsversorgung dient als der Standortsicherung (so Kleeman explizit vgl. der Berliner Zeitung, 30.05.96: 24, oder Taz 12.06.). Die Eigentumsinitiative des Senates ist der Versuch die Bezieher hoher Einkommen mitsamt ihrem Steueraufkommen in der Stadt zu halten. Der klassische soziale Wohnungsbau gerät in die Defensive und mit ihm der Anspruch die Wohnraumversorgung von dem Haushaltseinkommen zu emanzipieren: "Das jetzige System des sogenannten sozialen Wohnungsbaus hat sich in großen Teilen überholt" weis die CDU und fordert eine Eigentumsoffensive (CDU- Wahlaussagen, . .95: 11-13). Die Mieten im sozialen Wohnungsbau werden erhöht, die Fehlbelegungsabgabe wird gesteigert[1] , das Altschuldengesetz zwingt zu Privatisierungen im Osten der Stadt (bereits über 10.000 WE an Firmen, nicht an Mieter), ein Senatsbeschluß fordert die Veräußerung von 30.000 öffentlich geförderten Wohnungen: "Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand" (Tagesspiegel, 28.04.96: 41) wie Berlins größtes Wohnungsunternehmen (GSW) den Versuch nennt, 8.000 Wohnungen an Mieter zu verkaufen (Preise zwischen 1.900 und 2.900 DM)[2]. Forderungen nach Schlichtwohnungsbau für Bedürftige feiern Konjunktur, die wachsende Schere zwischen Mietbelastung und verfügbarem Einkommen soll nicht etwa durch preiswerten Wohnraum, sondern durch die Erhöhung des Wohngeldes (das zahlt der Bund)geschlossen werden. Es werden jährlich nur noch 2.500 Wohnungen im ersten Förderungsweg erbaut, jedoch doppelt so viele im flexibleren zweiten Förderungsweg. Die Umstellung vom ersten Förderungsweg, der langfristig günstige Mieten und Belegungsrechte sichert zugunsten des investorenfreundlichen zweiten, wird der Stadt in nächster Zukunft eine veritable Pleitewelle und eine Halde unvermietbarer Wohnungen bescheren. Ähnlich wie im Bürobau ließen sich die Bauherren in der Vereinigungseuphorie von völlig überzogenen Gewinnerwartungen leiten (Spekulation statt Kalkulation). Solange die Miete noch öffentlich gebunden ist, finden sich auch Mieter. Da Wohnungen im 2. Förderungsweg nach wenigen Jahren (5 Jahre) aus dieser Bindung fallen, schnellen die Mieten auf DM 20. Für diese Preisklasse finden sich schon in Dachgeschossen keine MieterInnen mehr. Der Senat wird sich sehr bald damit auseinandersetzen müssen, wie sich 10.000 Obdachlose angesichts massiven Leerstandes legitimieren lassen.
Sanierungsgebiete werden im Westen entlassen (Klausener Platz), neue wohl noch ausgewiesen, aber nicht mehr finanziert. Im Osten werden die Gebiete mit Erneuerungsbedarf notdürftig mit juristischen Mitteln gegen eine verwertungsorientierte Aufwertung geschützt. Besonders in Teilen von Mitte und Prenzlauer Berg droht Gentrification[3], also die Verdrängung der derzeitigen MieterInnen zugunsten urbaner Eliten. Die Aufwertung dieser Bezirke wird medial und kulturell vorbereitet bevor sie materielle Realität wird. Das gleiche gilt für die Entwertung anderer Quartiere. Seit der Vereinigung gilt Kreuzberg als ausgesprochen out. Die sozialen Probleme verschärfen sich hier und werden zunehmend ethnisiert, während Fördermittel wie Arbeitgeber den Bezirk meiden. Besonders SO36 wird von einem ideologischen Konstrukt (befreite Gebiete, Rhetorik der 80er) zu einer einzigen riesigen "Dunkelziffer" (Sauter 1993). Die Abkehr von dem Bezirk artikuliert die Abkehr von der sozial und ökologisch orientierten behutsamen Stadterneuerung. Im Osten hielten die Neubaugebiete an der Peripherie lange Zeit der kulturellen Entwertung stand. Sie weisen bis in die jüngste Vergangenheit stabile sozialstrukturelle Daten auf. Allerdings besteht die Gefahr, daß die Siedlungen zu den Staubsaugern (so der ermordete Hanno Klein) werden, die die verdrängten Wohnungsnotfälle aus den gentrifizierten Innenstadtbezirken aufnehmen. Immer mehr einkommensstarke Mieter verlasen die vergleichsweisen teuren Plattenwohnungen in Richtung Umland oder in die neuen Vorstädte innerhalb der Stadt. Die weniger mobilen BewohnerInnen bleiben zurück, die freien Wohnungen werden von denen belegt, die sich für einen WBS qualifizieren.
Diese unsortierte Übersicht über Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt läßt sich für die zukünftige Entwicklung der Obdachlosigkeit in Berlin folgendermaßen zusammenfassen: Wenn die Wohnraumversorgung immer stärker Marktkriterien unterliegt, wird der Zugang zu Geld zum entscheidenden Kriterium bei der Positionierung auf dem Wohnungsmarkt. Geld verdient man zumeist durch Arbeit, die Bevölkerungsmehrheit durch Lohnarbeit. Die massiven Restruktierungen auf dem Berliner Arbeitsmarkt haben zu einem Rückgang des Nettohaushaltseinkommens seit 1993 geführt. Aber es sind mitnichten alle Haushalte gleich betroffen. So leben über 50% der Kreuzberger Haushalte von unter 16.000 DM im Jahr. Kreuzberg hat gleichzeitig die höchste Quote von Einpersonenhaushalten in Berlin, d.h. 16.000 DM sind in der Tat 16.000 DM. 1994 beträgt der Anteil an Einpersonenhaushalten im Bezirk 57%, mehrheitlich Männer im Erwerbsalter [eine bemerkenswerte Ausnahme]. Diese alleinlebenden Männer, die kaum auf familiäre oder kollektive Ressourcen zurückgreifen können, sind im Notfall auf das strapazierte staatliche Hilfesystem angewiesen, um Obdachlosigkeit abzuwenden.
Anmerkungen
1 Von den fast 400.000 Sozialwohnungen in Berlin ist ein Drittel fehlbelegt, eine Einzimmerwohnung im sozialen Wohnungsbau kostet bei einem Bruttogehalt von 3400 DM schnell 800 DM.
2 Die Gewobag verlangt sogar 5.500 DM für ihre Neubauwohnungen in Charlottenburg (Tagesspiegel, 26.05.96: 8).
3 "Der Begriff Gentrification meint den mit Hilfe von Marktmechanismen stattfindenden Bewohnerwechsel eines Viertels von Arbeiter und Armen zu Besserverdienenden .... Verdrängung ist das Wesen der Gentrifikation" (Marcuse 1992, in Helms).
* Der Text ist nicht vollständig, wenig strukturiert und durch die Abwesenheit von Literatur bestimmt. Aber Ihr wolltet ihn haben: Bitte schön!. Wir hätten dann gerne ein Exemplar des Protokolls.