Freie Universität Berlin
Otto-Suhr- Institut/ John F. Kennedy - Institut
SoSe 1996
Hauptsemiar: Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
Dozenten: Margit Meyer/ Stefan Schneider
ReferentInnen: Kai Boegner, Christiane Harmsen
Thema: Wohnungslose Frauen/ Kinder und Jugendliche in Deutschland
- 1. Kinder und Jugendliche
- Begrifflichkeiten
- Zahlen
- Hintergrund
- 2. Frauen
- Ausmaß und Wahrnehmung der Wohnungslosigkeit
- Ursachen der Wohnungslosigkeit
- Feminisierung der Armut
- Kategorisierung wohnungsloser Frauen
- 3. Literatur
Wohnungslose Frauen/ Kinder und Jugendliche in Deutschland
1. Kinder und Jugendliche
Erst in letzer Zeit zeigt die breite Öffentlichkeit Interesse an den "Straßenkindern", doch von den Massenmedien werden vorwiegend Einzelschicksale in reißerischer Aufmachung dargestellt.
Begrifflichkeiten:
- TrebegängerInnen:
- Kinder und Jugendliche, die aufgrund massiver Konflikte ihr Elternhaus verlassen und ohne festen Wohnsitz sind.
- Ausreißer:
- bleiben nur für kurze Zeit weg, wollen ein Signal setzten.
- Aussteiger:
- Abwesenheit wird von der Familie toleriert, es werden keine Vermißtmeldungen gemacht.
Verbindendes Element kann die Obdachlosigkeit sein (die es aus juristischer Sicht nach dem KJHG nicht geben dürfte.)
Die meisten obdachlosen Kinder und Jugendliche sind nicht jünger als 11 Jahre. "Obdachlos" sind ca. 30% von ihnen, die restlichen 70% unterhalten noch Kontakt zu ihren Familien (weltweit).
Zahlen:
Bundesweit geht man von 10.000 und 50.000 obdachlosen Kinder und Jugendlichen aus (Berlin: 3000). Die Zahl der Kinder steigt zum Sommer hin, im Winter gehen viele von ihnen wieder zurück. Der Anteil der jüngeren Personen nimmt überproportional zur generellen Steigerungsrate der Wohnungslosen zu (bis 25). Sie verfügen kaum über einen schulischen Abschluß oder über Arbeitserfahrungen.
Hintergrund:
Kinder und Jugendliche in besonderen Krisensituationen unterschiedlichen Ursprungs, die unter beeinträchtigenden Lebensbedingungen aufgewachsen sind. Dazu gehören allerdings nicht nur zerrüttete Familienverhältnisse, sondern auch sozio-ökonomisch intakte Familien.
- elterliche Gewalt,
- sexueller Mißbrauch, Trennungsfamilien,
- "Wende - Verlierer",
- sozialer Wandel: Wegfall der herkömmlichen Lebens- und Orientierungsmuster.
Reaktion der Kinder und Jugendlichen: Orientierungslosigkeit, das Weglaufen ist als Problemlösung zu verstehen
- Ökologische Nische:
- Die Hauptbahnhöfe der Großstädte bilden den Lebensmittelpunkt, hier beginnt die Suche nach emotionaler Zuwendung und Solidarität. So entstehen hier oft "familienähnliche" Verhältnisse.
- Lebensunterhalt:
- Diebstähle, Prostitution, Hehlerei, Drogenhandel, "elterlicher" Schutz durch ältere Nichtseßhafte, besonders bei jungen Mädchen unter 14.
- Gesundheitliche Verfassung:
- Umso schlechter, je länger sie auf der Straße leben: Übernachtungen im Freien, Drogen, Streß, Prostitution, unregelmäßige Ernährung.
- Öffentliche Jugendhilfe:
- Sie greift direkt ein und kümmert sich um kurzfristige Unterbringungsmöglichkeiten:
- Hotelscheine,
- mobile Jugendarbeit,
- Streetwork,
- Szenenahe Anlaufstellen:
- Busprojekte,
- Kontaktläden mit Wasch-, Verpflegungs- und Übernachtungsmöglichkeiten.
Im Gegensatz dazu steht die Inhaftierung und Zwangsvorführung durch die Polizei mit späterer Einweisung in ein Heim/ Rückführung zur Familie. Daß sie dort meist nur sehr kurze Zeit verweilen, ist nicht weiter verwunderlich.
2. Frauen
Ausmaß und Wahrnehmung der Wohnungslosigkeit
Wohnungslosigkeit wurde bis in die 80er Jahre hinein als ein primär männliches Phänomen gesehen und analysiert. Wohnungslose Frauen sind vom Hilfesystem der Wohlfahrtverbände oft als "sittlich Gefährdete" (Prostituierte, Straffällige) wahrgenommen worden, ohne ihre prekäre Wohnsituation als zu Grunde liegende Notlage zu definieren. Vom traditionellen Frauenbild ausgehend (Hausfrau, Ehefrau, Mutter), versuchte die Wohlfahrtspflege eine in diese Richtung korrigierende Hilfe zu gewähren.
Reintegration in die tradierte Frauenrolle
Die Schätzungen des Anteils weiblicher an der gesamten Obdachlosigkeit belaufen sich bis dahin auf Werte von 1-4 %, 1983: 1,3% (BAW). Heute ist von einem Anteil von etwa 20% auszugehen. Dies betrifft jedoch nur den Bereich manifester Wohnungslosigkeit. Ein sehr viel problematischerer Bereich für Frauen ist die latente Wohnungslosigkeit.
Schätzungen der taz von 1996:
- manifeste Obdachlosigkeit: 1 Mio (Frauen: ca. 150.000)
- latente Obdachlosigkeit: 4 Mio
darunter: 1 Mio von Obdachlosigkeit Bedrohte - 3 Mio in prek. Verhältnissen Lebende
Latente Wohnungslosigkeit ist ein frauenspezifisches Problem:
- 1. prekäre Wohnverhältnisse
- Unsicherheit der Dauer (Arbeitgeberunterkunft: Bardamen, Zimmerfrauen etc., Bekanntenkreis, Unterschlupf bei Männern) (Abhängigkeit materieller/persönlicher Art)
- 2. bevorstehende Wohnungslosigkeit
- Entlassung aus Psychatrie, Knast etc. Räumungsklage, Mietschulden
Der Anteil von Frauen an dem Phänomen Wohnungslosigkeit dürfte folglich höher liegen!
Ursachen der Wohnungslosigkeit
multidimensionales Problemszenario:
ökonomisch | sozial-psychologisch | persönlich | |
1. Frauenrolle: Pflege- u. Hausarbeit, Mutterschaft >abgebr. Schul- o. Berufsausbildung 2. geschlechts-spez. Arbeitsteilung niedrige Lohngruppen, monotone Arb. Bedrohung von Arbeitslosigkeit |
Familienzerrüttung:
|
Sozialisationstrauma:
|
|
unzureichende materielle Absicherung (geringere Sozialleistungen) |
unzureichende soziale Absicherung | unzureichende individuelle Ressourcen |
Feminisierung der Armut
In dieser Problemlage Befindliche entwickeln nach Schicksalsschlägen destruktive Bewältigungsstrategien, die den sozialen Abstieg einleiten. Heute treffen die Frauen zudem auf schwierige gesellschaftliche Bedingungen, etwa in der Mietpreisentwicklung und der Wohnraumversorgung.
Kategorisierung wohnungsloser Frauen
Nach Kriterien der sozialen Orientierung, der Deutung der Problemgenese und der anzutreffenden Bewältigungsstrategien der Frauen wird folgende Einteilung vorgenommen:
- 1. Normalitätsorientierte:
- Die wohnungslose Phase soll so kurz wie möglich gehalten werden. Streben nach einer Rückkehr ins bürgerliche Leben.
- 2. Institutionenorientierte:
- Dem Selbst werden keine adäquaten Strategien zur Erreichung von Normalität zugeschrieben. Deutung der äußeren Bedingungen als ein bürgerliches Leben nicht zulassend. Abhängigkeit vom Hilfesystem.
- 3. Alternativorientierte:
- Normalitätsmodell ist vom Reflex auf den Alltag überlagert. Neues Identitätsmuster folgt indivuduellen u. subkulturellen Regeln. Für das Hilfesystem kaum erreichbare Frauen.
Als Konsequenz aus der Kategorisierung und einer weiteren Differenzierung von Typen ergibt sich die Forderung an Hilfsinstitutionen, von dem grundsätzlichen strategischen Ziel der Wiedereingliederung abzulassen. Die Frauen müssen da abgeholt werden, wo sie sich befinden, ihre Identität muß akzeptiert werden. Es geht um die Verbesserung von krisenhaften Situationen und den Anspruch, den Interessen der Frauen gemäß zu handeln.
3. Literatur
- B. Dreifert: Warum Frauen obdachlos werde, in: Sozialmagazin 4/92
- Gefährdetenhilfe: 1/90
- M. Geiger, E. Steinert (1991): Alleinstehende Frauen ohne Wohnung. Soziale Hintergründe, Lebensmilieus, Bewältigungsstrategien, Hilfeangebote, St. Martin
- T. Kulawik: Unbeschreiblich weiblich: Die Unsichtbarkeit der Armut von Frauen, in: Neue Praxis 1/90, S. 16-25
- taz: Artikel vom 12.12.95: Sanfte Räumung nicht ausgeschlossen,
- taz: Artikel vom 24.7.93: Rund eine Million leben vergessen unter uns
John F. Kennedy-Institut/ Otto Suhr-Institut
SoSe 1996
HS 32511: Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentInnen: Margit Mayer/Stefan Schneider
Protokollant: Kai Boegner
Protokoll zur Diskussion der Sitzung am 30.4.96:
Lebensbedingungen und Überlebensstrategien von Obdachlosen
Nach Hendriks Referat zu den Lebensbedingungen und Überlebensstrategien von Obdachlosen in Deutschland, die anhand von sieben Fragen dargestellt wurden, begann im zweiten Teil der Sitzung die Diskussion über die Situation der Wohnungslosen. Stefan Schneider stellte folgende These in den Raum:
Wohnungslose treffen, durch den Abstieg auf der sozialen Leiter erst einmal in ihre schwierige Situation geraten, schließlich auf einen Apparat, der sie voll organisiert verwaltet, mit ausgereiften Strukturen umarmt und in ihrem Handlungsspielraum einengt. Diese Vorgehensweise hat zur Folge, daß die Wohnungslosen tendenziell immer weniger in der Lage sind, sich aus ihrer Not zu befreien. Sie bleiben in ihrer Situation gefangen" (ungefährer Wortlaut).
Diese These diente der Diskussion als Basis, im Raum stand deren Überprüfung und gegebenenfalls die Zustimmung oder Ablehnung. Die Aussage Stefans weise auf die wichtige Rolle des Staates zur Problematik von Obdachlosigkeit hin. Ihm komme eine große Verantwortung dafür zu, daß viele Wohnungslose sich nicht mehr aus ihrer mißlichen Lage befreien können. Die vom Staat geschaffenen und zur Verfügung stehenden Institutionen gingen also falsch vor und würden die von der Politik proklamierten Ziele verfehlen. In besonderer Weise verhinderten die zahlreichen, zur Überlebenssicherung notwendigen, täglichen Gänge auf verschiedene Ämter eine hinterfragende Beschäftigung der Wohnungslosen mit sich selbst.
Es wurde nicht intensiver darauf eingegangen, inwieweit die zuständigen Organisationen mit ihren Hilfsangeboten scheitern und wie sie ihr Klientel angemessener und produktiver unterstützen könnten. Vielmehr kam im Seminar die Frage nach der Intention des Staates für seine Hilfsstrategien auf.
Ist die These so zu deuten, daß die Institutionen gezielt darauf hinwirken, Obdachlosigkeit als gesellschaftliches Phänomen aufrecht zu erhalten und ihm den Anschein von Normalität zu geben, oder meint sie nur, daß die Auswirkungen ihres Agierens den negativen und ungewollten Effekt haben, Obdachlosigkeit zu zementieren?
Während einige Teilnehmer Stefan im ersten Sinne verstanden hatten, widersprach er diesem Eindruck und betonte noch einmal den Fokus seiner Aussage auf den Auswirkungen der institutionellen Bedingungen. Im Seminar wurde festgehalten, daß über mögliche Intentionen sowohl von Intentionen als auch von der Politik allgemein (Wohnungsbau, Sozialpolitik, Mietpolitik) noch zu diskutieren sein wird. Dies sei ein wichtiger Aspekt, über den noch keine Klarheit hergestellt werden konnte.
Die These der "Gefangennahme" der Wohnunslosen in ihrer Situation betrifft neben den staatlichen auch die nichtstaatlichen Hilfsangebote, vor allem der Kirche. Aufgrund der Kürze der Zeit (Planung der Aktionswoche!) kam dieser Teil in der Diskussion viel zu kurz und konnte nicht angemessen beantwortet werden. Das Ziel der nächsten Sitzungen wird unter anderem sein, die These intensiver zu prüfen und sowohl für den staatlichen wie den nichtstaatlichen Sektor fundiertere Aussagen herauszuarbeiten.
FU Berlin Kennedy- Institut für Nordamerikastudien 30.4.1996
SS 1996
Hauptseminar 32511: Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentIn: Margit Mayer/Stefan Schneider
Referent: Hendrik Bechmann
Lebensbedingungen und Überlebensstrategien von Obdachlose
- Vorbemerkung
- 1.Welche Informationsquellen sind zu erschließen, und wie wird dabei vorgegangen?
- 2.Welche Möglichkeiten werden vorrangig für den Tagesaufenthalt genutzt?
- 3.Welche Möglichkeiten der Nächtigung stehen zur Verfügung?
- 4.Wie sehen die Strategien des Gelderwerbs aus?
- 5.Wie kann die tägliche Ernährung gesichert werden?
- 6.Welche Möglichkeiten der Körperpflege und Bekleidung stehen zur Verfügung?
- 7.Wie ist der Gesundheitszustand und die medizinische Versorgung beschaffen?
Literatur:
- Giesbrecht, Arno: Wohnungslos - arbeitslos - mittellos: Lebenslauf und Situation Nichtseßhafter. Opladen: Leske + Budrich, 1987.
- Hanesch, Walter u. a.: Armut in Deutschland: Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 1994.
- Huttner, Georg: Die Unterbringung Obdachloser. Stuttgart; München; Hannover: Boorberg Verlag, 1990.
- Kellner, Reinhard/Wittich, Wolfgang (Hg.): Wohnen tut not: Obdachlosigkeit in der Diskussion. München: AG SPAK, 1987.
- Schmid, Carola: Die Randgruppe der Stadtstreicher. Wien - Köln: Böhlau Verlag, 1990.
- Weber, Roland: Lebensbedingungen und Alltag der Stadtstreicher in der Bundesrepublik. Bielefeld: Verlag Soziale Hilfe GmbH, 1984.
Besonderen Dank schulde ich den Bewohnern der DRK- Notunterkunft in Reinickendorf, die mir geduldig auf meine Fragen Auskunft gaben. Die Schilderungen, wie sie in ihrer extrem schwierigen Lebenslage lernen mußten, ein Dasein im Abseits der Gesellschaft zu führen, war mir in vielen Fällen aufschlußreicher als es manch wissenschaftliche Untersuchung vermochte.
Vorbemerkung
Bezeichnend für die Lebenssituation der Wohnungslosen ist ihre Randständigkeit und soziale Isolation. Von der Gesellschaft stigmatisiert, führen diese Menschen oftmals ein Leben, das dem Standard und erklärten Zielen einer modernen Zivilisation - deren ethische Grundwerte einer Jahrtausend alten christlichen Tradition und dem Programm der Aufklärung zugrunde liegen - zutiefst widerspricht. Menschen ohne Wohnung befinden sich in einer permanenten Krisensituation. Sie sind Wesen ohne "Gefäß". Die eigene Wohnung bedeutet mehr als ein Dach über den Kopf! Sie ist ein personaler Raum, der dem Bewohner nicht nur Schutz vor der Außenwelt bietet, sondern auch ein Rückzugsgebiet, in welchem und aus dem heraus der Mensch kreative und soziale Potentiale und Ressourcen mobilisieren kann. Der Alltag ohne Wohnung ist begleitet von der ständigen Sorge, wie die elementarsten Grundbedürfnisse zu organisieren und zu befriedigen sind. Dem anhaltenden Dauerstreß folgen Verhaltensmuster wie: zunehmender Alkoholmißbrauch mit oftmals begleitender aggressiven Gefühlsentladung. Nach vielen gescheiterten Versuchen der Änderung der Lebenslage beginnt ein Ergeben in Hoffnungslosigkeit bis zur Apathie und Selbstaufgabe.
Herausragend bei der Gestaltung der Lebensbedingungen von Wohnungslosen ist der Bezug von Informationen, die sich die Betroffenen beschaffen müssen. Von ihrem Kenntnisstand der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten hängt viel - aber nicht alles - von ihrer Lebensqualität ab; wenn in diesem Sinne von Qualität gesprochen werden kann. Deshalb ist die Beschaffung von Informationen und deren Weitergabe ein wichtiger Bestandteil der persönlichen Alltagsbewältigung der Wohnungslosen. Im folgenden wird versucht, durch sieben Fragen die Subsistenzmittel und die Quellen materieller Reproduktion zur Existenzsicherung Wohnungsloser deutlich zu machen.
1. Welche Informationsquellen sind zu erschließen, und wie wird dabei vorgegangen?
Bei den Informationsquellen sollten wir unterscheiden zwischen den offiziellen und inoffiziellen Informationsträgern. Als offizielle Informationsträger möchte ich die Einrichtungen und deren Mitarbeiter bezeichnen, die Wohnungslosigkeit als ein soziales Problem eindämmen oder regulieren, zumindest unmittelbare Not lindern wollen. Dazu zählen Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Hilfsorganisationen und ähnliche. Handeln solche Einrichtungen vor allem aus einem moralischen Gebot, obliegt den Sozialämtern die gesetzliche Pflicht zur Hilfe. Die persönliche Betreuung und Beratung ist vorgeschrieben in § 7 der Durchführungsverordnung (DVO) zum § 72 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG).
Erfolgversprechende Anlaufstellen sind immer die großen Bahnhöfe einer Stadt. In den dort ansässigen Bahnhofsmissionen und DRK- Stellen lassen sich immer Adressen von Tagestreffs (Wärmestuben), Notübernachtungen, Wascheinrichtungen, Kleiderkammern, medizinischer Versorgung u. ä. finden. Das gleich gilt auch für Tagestreffs und Notübernachtungen.
Die inoffizielle Informationsweitergabe ist die elementarste Hilfe zur Selbsthilfe. Die Betroffenen selbst geben Tips untereinander weiter. Diese "Mundpropaganda" ist allerdings nicht in allen Fällen für jeden frei zugänglich. Gute Tips zu geben, ist eine häufige Art, untereinander zu kommunizieren und regelt auch hier eine soziale Anpassung. Nicht nur Sympathien zueinander sind für die Weitergabe von Informationen verantwortlich, oftmals soll das Zurückhalten von Auskünften, ein Überlaufen von "guten Stellen" verhindert werden.
2. Welche Möglichkeiten werden vorrangig für den Tagesaufenthalt genutzt?
Die Wahl der Orte, die am Tage aufgesucht werden, ist gewöhnlich bestimmt durch die Handlungsmöglichkeiten, die diese bieten. Neben den verschiedenen Behörden und Einrichtungen, die von vielen immer wieder aufgesucht werden - dazu zählen die Tagestreffs (Wärmestuben, Suppenküchen), spezielle medizinische Versorgungseinrichtungen, Hallenbäder, Kleiderkammern u. ä. -, sind zentral gelegene öffentliche Plätze und Parks, Fußgängerzonen, Bahnhöfe, Bibliotheken, Musen, Markthallen und Waschsalons als Aufenthaltsorte bevorzugt. Passanten, die solche Ansammlungen von offensichtlich Wohnungslosen beobachten, meinen oft, daß sich diese Menschen vor ihnen präsentieren. Für die Wohnungslosen selbst aber bietet die dort unausweichliche Zusammenkunft mit den "Normalen" fast die letzte und einzige soziale Berührung mit anderen. Es muß unterschieden werden von Personen und Gruppen, die auffällig in der Öffentlichkeit sichtbar sind und jenen, die unauffällig und verdeckt an schützenden Orten den Tag verbringen. Diese Leute haben bestimmte Techniken der "Tarnung" entwickelt, sich dem öffentlichen Geschehen anzupassen. Meist sind das Einzelpersonen, die sich keinen Cliquen anschließen. Sie verhalten sich entsprechend wie Kunden, Besucher oder Reisende. Grundsätzlich tragen sie kein Alkohol sichtbar bei sich, noch gar wird dieser öffentlich konsumiert. Die Personen, die in Gruppen verschiedener Größen häufig an gleichen Orten auftreten, entwickeln alsbald gewisse Gewohnheitsrechte und Ansprüche auf ihre besetzten Räume. Untereinander macht eine ungeschriebene "Hackordung" Anpassung nötig. Jeder Neue wird erst einmal mit Argwohn betrachtet. Die Vorstellung, die gemeinsame Not läßt die Betroffenen zur Solidargemeinschaft verwachsen, ist nur bedingt gerechtfertigt.
3. Welche Möglichkeiten der Nächtigung stehen zur Verfügung?
Bei der Übernachtung kann der Wohnungslose prinzipiell zwei Wege gehen. Entweder er sucht die vom Staat oder von verschiedenen Hilfsorganisationen eingerichteten Heime, drittklassige, aber vom Sozialamt teuer bezahlte Pensionen ("Läusepensionen") oder Notunterkünfte auf, oder er versucht sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Fraglich ist, ob die zur Zeit vorhandenen Kapazitäten der Unterkünfte ausreichen könnten, wenn nicht viele den zweiten Weg wählten. Zu bedenken bleibt außerdem, daß eine Reihe von Quartiermöglichkeiten (Nachtcafés und Notübernachtungen) nur im Winter bereitgestellt werden. Für alle die, die nur noch die Möglichkeit haben im Freien zu nächtigen - zum Teil weil sie den Mindestforderungen der Unterkünfte nicht nachkommen können, oder aber den Aufenthalt dort als unerträglich und psychisch außerordentlich belastend empfinden -, wird die Nacht zu einem alltäglich wiederkehrenden Existenzkampf. Sie schlafen auf Parkbänken, in Hausfluren, Abrißhäusern, Ruinen, Rohbauten, öffentlichen Toiletten und im Stadtforst, das sogenannte Biwaken. Im Jargon der Wohnungslosen wird dieser Zustand mit "Platte machen" bezeichnet. Campingplätze können nur von Personen aufgesucht werden, wenn sie natürlich auch die Gebühren bezahlen. Zeitweilig versucht mancher, in einem Krankenhaus unter zu kommen. Eine Großstadt wie Berlin bietet darüber hinaus noch die Möglichkeiten, die öffentlichen Verkehrsmittel zur Nächtigung zu Nutzen, "S- Bahn- Rutsche" genannt. Ein Unterkommen bei Freunden und Verwandten ist, wenn überhaupt, meist bloß vorübergehend am Beginn der Wohnungslosigkeit möglich und nur von kurzer Dauer.
4. Wie sehen die Strategien des Gelderwerbs aus?
Ist der Wohnungslose bereit, sich offiziell bei den Behörden registrieren zu lassen und verfügt über gültige Ausweispapiere, kann er Geldleistungen des Arbeits- oder Sozialamtes beantragen. Hat er keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, erhält er bei seinem zuständigen Sozialamt - abhängig von seinem Verweilort und dem Anfangsbuchstaben seines Familiennamens - monatlich 526,- DM in Berlin. In welchen Mengenbeträgen diese Summe über den Monat ausgezahlt wird, liegt im Ermessen des Sozialamtes. Außerhalb ihres Verweilortes können Wohnungslose als sogenannte Durchreisende vom Sozialamt einen Tagessatz von ca. 17,- DM erhalten. Weiterhin gewährt das Sozialamt eine Kostenübernahme (KÜ) in bestimmten Fällen. Zum Beispiel werden Zelte, Kochgeschirr und u. ä. bezahlt, aber wo und wie ohne weitere Mittel gezeltet werden soll, bleibt ungeklärt. Es werden Gutscheine für Kleidung und Lebensmittel ausgestellt. Im Jahr einmal Sommerkleidung und einmal Winterkleidung. Teilweise wird auf den Gutscheinen genau bestimmt, was gekauft werden darf. Über den Lebensmittelgutschein darf kein Alkohol oder Tabak erworben werden. Oftmals sind für die Gutscheine Einlösungsmöglichkeiten, d. h. der entsprechende Supermarkt, vorgeschrieben.
Andere Möglichkeiten zu Geld zu kommen sind: Arbeiten über das Arbeitsamt, die "Börse" für Gelegenheitsarbeiten. Das ist aber nur möglich mit vollständig gültigen Papieren, d. h. auch Steuerkarte, die aber nur über eine Wohnadresse erhältlich ist; Schwarzarbeit ist deshalb eine oft notwendige Quelle des Gelderwerbs; und natürlich das allseits bekannte Betteln oder "Schnorren". Das Betteln ("Sitzung machen") wird von vielen als eine richtige Arbeit angesehen, verlangt aber einen hohen Grad der Selbstüberwindung und kann deshalb nur im narkotisierten Zustand verrichtet werden. Diebstähle sind zwar auch möglich, werden aber häufig nur in völliger Ausweglosigkeit begangen.
5. Wie kann die tägliche Ernährung gesichert werden?
Im allgemeinen zählen die zugenommenen Lebensmittel und die Ernährungsweise der Wohnungslosen nicht als ausgesprochen gesundheitsförderlich. Darüber hinaus steht das Essen nicht unbedingt im Vordergrund. Ursache dafür ist, daß häufig eher Alkohol getrunken wird. Zum Problem der Nahrungsbeschaffung kommt es sowieso erst bei den Leuten, die nirgendwo untergebracht sind und völlig auf der Straße leben. Die verschiedenen "Tagestreffs" bieten ausreichende Beköstigung und warme Getränke. Ansonsten wird sich durch Billigangebote und abgelaufene Waren aus Supermärkten versorgt. In den schlimmsten Fällen werden Reste und Abfälle gesammelt. Wer aber nicht hinreichende Informationen über Anlaufstellen besitzt oder nicht in der Lage ist, sich genügend anzupassen, muß wirklich Hunger leiden.
6. Welche Möglichkeiten der Körperpflege und Bekleidung stehen zur Verfügung?
Die regelmäßige Körperpflege kann problematisch werden, wenn die Betroffenen keine für sie organisierte Unterbringung haben. Für sie bieten die "Tagestreffs" die Möglichkeit zum kostenlosen Waschen (Duschen), Rasieren und Haarschneiden. Leider aber haben nicht immer alle solche Einrichtungen diesen Service. Manche gar nicht, andere nur zu bestimmten Zeiten oder nicht kostenlos. In öffentliche Schwimmbäder geht nur, wer es sich leisten kann. Wenn die Möglichkeit vorhanden ist, übernimmt das Sozialamt die Kosten für den Besuch von Wannenbädern. Das erfordert aber auch immer gleich wieder den Gang und die Auseinandersetzung mit der Behörde. Es bleiben in vielen Fällen nur öffentliche Toiletten oder stark frequentierte Restaurants.
Kleidung wird vorwiegend aus Kleiderspenden, oder wie schon gesagt durch Kostenübernahme vom Sozialamt, bezogen. Die Verteilung der Kleiderspenden ist in Berlin gut organisiert. Entweder sind die Kleidungsstücke in den "Tagestreffs" zu erhalten oder können direkt von den Kleiderkammern bezogen werden. Dort kann auch die Wäscherei und Änderungsschneiderei kostenlos in Anspruch genommen werden. Nach Aussagen von Berliner Wohnungslosen ist ausreichende und gute Bekleidung vorhanden. Einige waschen die Wäsche nicht mehr, sondern lassen sich immer wieder nur neue geben.
7. Wie ist der Gesundheitszustand und die medizinische Versorgung beschaffen?
Wohnungslose leben in Umständen und unter Bedingungen, die anerkanntermaßen krank machen. In den verschiedenen Untersuchungen konnte nicht differenziert werden, inwieweit Erkrankungen bei Wohnungslosen über dem Durchschnitt der Bevölkerung auftreten und in welchem Maße bestimmte Symptome durch Wohnungslosigkeit verstärkt werden. Fest steht aber, daß bei Wohnungslosen ein hoher Krankheitsanteil vor allem an chronischen und akut entzündlichen Krankheiten, Fehlernährung, Genußmittelmißbrauch, schlechte Hygiene und "ungesundes Freizeitverhalten" überdurchschnittlich anzutreffen ist (Kellner/Wittich, 1987, S.146). Die außerordentlichen psychischen Belastungen sind dabei noch unberücksichtigt.
Hat sich ein Wohnungsloser amtlich registrieren lassen und wird vom Sozialamt betreut, ist er darüber auch Krankenversichert. Verschiedene "Tagestreffs" und Notunterkünfte stellen regelmäßig ärztliche Betreuung zur Verfügung. Der von vielen exzessiv betriebene Alkoholgenuß macht eine wirksame medizinische Behandlung oft kompliziert, wenn gar unmöglich. In vielen Fällen muß der Betroffene sich erst einer stationären Entgiftung unterziehen, bevor operiert werden kann. Anhaltende Wohnungslosigkeit ruiniert die psychische und physische Konsistenz in zunehmenden Maße und führt zum sukzessziven Verfall des Menschen.
***
Sind Menschen in der Bundesrepublik erst einmal in die Verelendungsspirale geraten, bietet ihnen die ständig anwachsende Arbeitslosigkeit und der zunehmende Abbau der Sozialleistungen immer weniger Chancen, ein als Mitgestalter der Gesellschaft und auf ein Selbstbestimmung und Verantwortung gerichtetes Leben zu führen. Die Erfahrung - sei sie real oder eingebildet -, versagt zu haben, löst zum Teil Reaktionen aus, die von den Betroffenen wie von den Außenstehenden nicht immer in aller Klarheit eingeschätzt werden können. Die Betroffenen haben überwiegend tradierte Wertvorstellungen und Bewertungen internalisiert, daß sie in hohem Grade mit einem Gefühl der Selbstverschuldung überladen sind. Politisch gesehen ist dieses Dilemma ein willkommenes Schlupfloch für alle die eine Verantwortung für den sozialen Frieden im Lande tragen. Es fragt sich nur, wie lange noch?
FU Berlin Kennedy- Institut für Nordamerikastudien 23.4.1996
SS 1996
Hauptseminar 32511: Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
DozentIn: Margit Mayer/Stefan Schneider
Protokoll zur Sitzung vom 16.4.1996
Protokollant: Hendrik Bechmann
Zwei Referate bestimmten im wesentlichen den Inhalt der vergangenen Sitzung. Die nachfolgende Diskussion machte bereits gut deutlich, mit welchen Problemen und Fragestellungen sich die Teilnehmer auseinanderzusetzen haben werden. Das Protokoll rekapituliert zuerst in groben Zügen beide Referate mit dem Versuch einer Komparation ihrer inhaltlichen Schwerpunkte. Anschließend werden wichtige Argumente und Fragen aus der Diskussion dargestellt.
Im ersten Referat wurden die Begriffe Obdachlosigkeit und nichtseßhaft eingeführt, ihre Definitionsversuche und Unterscheidung in Deutschland dargestellt. Als Textgrundlagen dienten Beiträge der Zeitschrift "Gefährdetenhilfe", 2/90 und 1/93 von Roland Klinger und Hannes Kiebel Der Rückblick auf die hundertjährige Begriffsgeschichte machte vor allem deutlich, daß bei dem Gebrauch des einen oder anderen Begriffs Interessen sichtbar werden, die Betroffenen außerhalb eines - oder zumindest verminderten - Rechtsstatus zu drängen, oder aber eine bestimmte Begriffsverwendung - mit implizierter Definition, sei sie auch unklar bis widersprüchlich - politischen Handlungsbedarf abmelden soll. Die Begriffsunklarheit ermöglicht, das eigentliche Problem innerhalb bürokratischer Verwaltungsinstanzen zu verschieben. Die Verwaltungsterminologie transportiert immer noch die Vorstellung der Selbstverschuldung von Armut und Obdachlosigkeit. Die Betroffenen selbst und sie unterstützende Gruppen und Verbände streben eine Koppelung der Begriffe Obdachlosigkeit und Wohnungsnot an. Die von ihnen bevorzugte Bezeichnung ist Wohnungslos, und beschreibt damit gleich eine Lebensqualität, die an einen Markt gebunden ist. Letztlich spitzt sich die Frage zu, die vor allem für die Überlegung von Lösungsstrategien relevant ist, ob dem Phänomen, Menschen ohne Wohnung, externe oder interne Ursachen zugrunde liegen.
Im zweiten Referat wurden die von Peter Marcuse vertretenen Anschauungen aus dem Text: "Wohnen in New York" vorgestellt. Marcuse versucht darin klarzumachen, daß, wie er sagt, die fortgeschrittene Obdachlosigkeit keine Erscheinung sei, die vor allem von Soziologen oder gar Psychologen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht werden soll, sondern gibt dieser subkulturellen Gesellschaftsentwicklung eine politische Dimension. Marcuse bietet eine neue Definition von Obdachlosigkeit, mit der eindeutigen Implikation, daß die Ursachen in ökonomischen Prozessen und politischen Machtverhältnissen zu finden sind. In veränderten Strukturverhältnisse erkennt er einen Wandel in der Stadtentwicklung. Marcuse spricht von der Vierteilung der Stadt, in denen nicht nur die soziale Disparität sichtbar wird, sondern diese auch antreibt. Obdachlosigkeit ist nach Marcuse, das Ergebnis einer verfehlten Wohnungs- und Sozialpolitik.
Haben beide Referate zwar nicht den gleichen Fragenkreis bei dem Problem der Wohnungslosigkeit unmittelbar zum Gegenstand, läßt sich dennoch ein gewisser Vergleich ziehen. Deutlich wurde vor allem, daß es um die Schwierigkeit der begrifflichen Definition geht.
Am Beispiel Deutschland wurde klar, daß allein schon die Benennung des auftretenden Phänomens der Wohnungslosigkeit denunziatorischen Charakter hat. Marcuse bietet dafür eine Definition, welche die Sachlage präziser erfassen soll. Aber inwieweit sich diese auch administrativ durchsetzen läßt, wissen wir nicht. In beiden Fällen wurde auch nach möglichen Ursachen für Wohnungslosigkeit gefragt. Die Diskussion darüber scheint in Deutschland noch bei dem dualistischen Gegensatzpaar, interne versus externe Ursachen stehen geblieben zu sein. Dagegen liefert der Beitrag aus amerikanischer Sicht, die konkrete Aussage, daß wir die Entwicklung der sozio- ökonomischen Strukturen und die Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft, insbesondere in den Großstädten, als entscheidende Einflußmechanismen zu betrachten haben. Hat man in Deutschland den Eindruck, bei wachsender Zahl der Wohnungslosen verstärken sich die Forderungen nach mehr Sozialinitiativen und - leistungen, verlangt Marcuse den gesellschaftlichen Wandel. Seine Beschreibung ist nicht nur ein Plädoyer zur Solidarität für die Armen und Schwachen, sondern die politische Kampfansage.
Aufgrund der Regelung einiger organisatorischer Einzelheiten zum Seminar verblieb nicht viel Zeit für eine tiefe und erschöpfende Diskussion. Darüber hinaus müssen sich wahrscheinlich viele TeilnehmerInnen erst in die Literatur einarbeiten, um sich ein theoretisches "Wissensgerüst" des Problemfeldes anzueignen. Es kam die Frage auf, welche Tendenzen der Stadtentwicklung, im besonderen in Berlin zu beobachten sind. Kommen bestimmten Räumen (Orte) zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Nutzung zu? Zum Beispiel ist das Rote Rathaus in Berlin- Mitte am Tage Sitz des Oberbürgermeisters und gehört zu einem Areal touristischer Zielpunkte, in der Nacht aber macht dieses Gebiet den Eindruck, "außerhalb der Saison" zu sein. Die Fragen nach den Ursachen für Wohnungslosigkeit und Armut überhaupt schob sich dann bald in den Vordergrund. Dabei war nicht ganz deutlich, ob eine gute Kenntnis der Sachlage oder emotionsgeladene Anschauungen die Argumente leiteten.
FU Berlin
Kennedy-Institut für Nordamerikastudien
SS 1996
HS: Obdachlosigkeit in Nordamerika und Deutschland
M.Mayer/ S. Schneider
16.4.1996
Peter Marcuse: "Wohnen in New York: Segregation und fortgeschrittene Obdachlosigkeit in einer viergeteilten Stadt" (1993)
oder: Obdachlosigkeit als Manifestation politischer (Un-) Verhältnisse
In seinem in Deutschland 1993 erschienenen Aufsatz vertritt der in New York lehrende Stadtplaner die These, daß aufgrund einer Veränderung des Nachkriegskonsens und unter Einfluß der geänderten ökonomischen Prozesse und der Veränderung der Rolle des Staates die gegenwärtige Obdachlosigkeit als etwas Neues zu definieren sei, nämlich als fortgeschrittene Obdachlosigkeit.
Marcuse geht davon aus, daß die veränderten ökonomischen Prozesse auch die Machtverhältnisse ändern, und sich dies in einer räumlichen Veränderung der Struktur der Stadt niederschlägt.
Der Wandel der ökonomischen Strukturen bewirkt aber auch Veränderungen zwischen den Klassen/Gruppen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Positionen (Stärkung/ Schwächung/ Ausschluß).
Die ökonomischen und sozialen Grenzen zwischen den Klassen/ Gruppen manifestieren sich räumlich und in den Wohnbedingungen.
Marcuse geht davon aus, daß verschieden Definitionen von Obdachlosigkeit verschiedene politische Implikationen haben. Um sich von traditionellen Annahmen von Obdachlosigkeit (die diese auf persönliches Versagen u.ä. zurückführen) abzugrenzen und die politische Dimension des Phänomens deutlich zu machen, versucht er eine neue Definition:
"Obdachlosigkeit heißt, kein Zuhause zu haben, nicht in einer Wohnung (oder in einer Nachbarschaft) zu leben, die minimalen Anforderungen an Schutz, Privatheit, persönliche Sicherheit, Sicherheit der Wohndauer, Ausstattung, Raum für die wesentlichen wohnbezogenen Tätigkeiten, Kontrollierbarkeit der nächsten Umgebung und Erreichbarkeit erfüllt. 'Minimale Anforderungen' ist die historische Komponente der Definition und variiert nach Zeit und Ort. Der Standart ist also relativ, er wird sozial, nicht individuell bestimmt." (p.208)
Obdachlosigkeit beinhaltet nach dieser Definition auch verschiedene Kategorien:
- Leben ohne Unterkunft,
- Leben mit Unterkunft, aber ohne eigene Wohnung,
- Leben mit Unterkunft, aber unmittelbar von Obdachlosigkeit bedroht,
- Leben mit Unterkunft, aber ohne Zuhause (= in völlig inadäquater Unterkunft),
- Leben von Obdachlosigkeit bedroht .
Die ökonomischen wie politischen Veränderungen in den 70er Jahren manifestieren sich auch im Räumlichen und führen zur Vierteilung der Stadt in vier seperate, aber interdependente Städte. Die Bewohner dieser Städte ordnet Marcuse nach Klassen folgendermaßen zu:
"Machtelite" (= die mit realer Entscheidungsmacht) |
Stadt ist disponsibel, wohnen außerhalb |
"Yuppies" (hochgebildete Spezialisten,die für Entscheidungsmacht arbeiten) |
gentrifizierte Stadt ("Enklave der Oberschicht") |
"Mittelklasse" (qualifizierte Angestellte, besser bezahlte Fabrikarbeiter, Dienstleistungsarbeiter usw.) |
suburbane Stadt |
"Arbeiterklasse" (Fabrikarbeiter usw.) |
Stadt der Mietwohnungen |
"Ausgegrenzte" (dauerhaft Arbeitslose, Asylbewohner, Obdachlose usw.) |
aufgegebene Stadt ("abandoned city") |
Nach Marcuse liefert der Wohnungsmarkt die Verbindung zwischen der Veränderung der ökonomischen und räumlichen Struktur der Stadt. Wohnungsmangel produziere aber nicht automatisch Obdachlosigkeit: Während ersterer relativ stabil geblieben sei, sei die Obdachlosigkeit in schwindelerregende Höhe geschossen.
Doch entscheidend für den Anstieg der Obdachlosigkeit ist laut Marcuse die Wohnungspolitik, die durch die Politik seit Mitte der 70er Jahre verstärkt auf Segregation und Entsolidarisierung setzt.
Abschließend betont Marcuse nochmal seine These, daß fortgeschrittene Obdachlosigkeit als logische Reaktion des Wohnungsmarktes auf die ökonomische Umstrukturierung der Nachkriegsperiode und deren räumliche Begleiterscheinungen entstehe.
Eine Änderung der Verhältnisse sieht er nicht kommen, da keine Änderung des politischen Kräfteverhältnis zu erwarten sei.
- Klafki, Wolfgang: Pestalozzis "Stanser Brief" - Eine Interpretation. Berlin 1975
- Pestalozzi, Johann Heinrich: Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans. Stans 1799 XXX
- Schneider, Stefan: Pestalozzi und seine Anstalt in Stans. Ein pädagogisches Projekt. Berlin 1997
- Mitwirkung an Forschungsvorhaben XXXXX