28.03.2004 - Welt am Sonntag - Maria Voigt - Der Berg ruft!
Kaum ein Stadtteil ist über die Grenzen Berlins hinaus so bekannt wie Prenzlauer Berg. Zu Recht: Hier vermählen sich Ost und West, Gründerzeit und Plattenbau, Kunst und Kommerz zu einem Ort der Lebenslust
von Maria Voigt
Der Prenzlauer Berg ist sehr elastisch. Er nimmt alles auf, was er kriegen kann: Studentinnen, die in den Cafés lernen. Russen, die Spezialitätenläden eröffnen. Furiose Zigeunerkapellen, die des Nachts durch die Lokale ziehen. Alle möglichen Arten von Einsamen. Jede Menge Anwälte und Zahnärzte mit goldenen Türschildern. Erfolgreiche und noch mehr erfolglose Künstler. Inder, Araber, Polen, Chinesen, Türken. Swingbands, Szenefriseure und Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, betuchten Mittelstand und sogar Bundestagspräsident Thierse, der hier nie weggezogen ist.
Jeder nur denkbare Menschentypus scheint im Prenzlauer Berg zu verkehren. Irgendwie findet jeder einen Platz. Vom Obdachlosen, der auf den Treppen am U-Bahnhof um Fahrscheine bettelt. Bis zum Manager im feinen Zwirn, der nicht abschalten kann und beim Nachtmahl im "Pasternak" lange, lange einen Untergebenen zutextet. Vor dem Café verkauft einer die Obdachlosenzeitung "Straßenfeger". Drinnen am weißen Tischtuch kriegen sich zwei in die Haare über die Frage, wer daheim in Westdeutschland auf dem feineren Gymnasium war.
Gehobene Blumen- und Weinläden, Ökoparadiese und Designerlampengeschäfte sind mit geradezu verzweifeltem Schick eingerichtet. Daneben "Rudis Resterampe", "Connys Container" und die "Knüllerkiste". Darüber Lofts, die mehrere Etagen einnehmen. Vielleicht ist es diese komplexe Mischung aus Leuten und Schicksalen, die diesen Prenzlauer-Berg-Strudel fabriziert, in dem alles immer in Bewegung ist.
Keiner weiß übrigens, wo der Berg ist.
Die größte Geschäftsstraße des ehemaligen Ostberliner Bezirks Prenzlauer Berg ist die Schönhauser Allee. So schief und hässlich liegt sie rechts und links der U-Bahn-Brücke, so lärmend tobt der Verkehr, dass die Passanten Zahnschmerzen kriegen. Die U-Bahn rast hier nicht im Untergrund, sondern auf Stelzen zwischen Gründerzeitkulissen, die auch vierzehn Jahre nach der Wende noch keine frische Farbe gesehen haben. Im Einkaufszentrum "Schönhauser Allee Arcaden" sprechen die hin und her Hetzenden kein Wort, man hört nur das Trappeln der schnellen Füße. Trotzdem wird die Schönhauser Allee geliebt wie eine uralte Freundin. Besonders im Sommer. Seine wahre Schönheit zeigt der Prenzlauer Berg, wenn die Kastanien und Pappeln blühen, wenn so viele junge Menschen wie in einem Studentendorf ihr Leben auf die Straßen verlagern, wenn der Himmel blau und das Leben leicht ist, wenn mehr Fahrräder als Autos unterwegs sind.
Der Prenzlauer Berg würde nie einen Schönheitswettbewerb gewinnen, denn er zeigt sich ungeschminkt. Vielen wird er regelrecht hässlich vorkommen mit seinen Mietskasernen, Hinterhöfen, seinem Grau. Die Farbe bringen die Menschen rein, die Kulturangebote, die bunte Ost-West-Mischung und die sich in rasender Eile fortpflanzenden Cafés. Schön nennt den Prenzlauer Berg nur der, der das Leben schön nennt.
Weil er lebendig ist, ist der Prenzlauer Berg schön. Seine Straßen sind breit, die Wolken jagen über die Dächer, überall siehst du Himmel. Alte Bäume mit rauschenden Kronen, die schon Mauern fallen gesehen haben. Du läufst auf den alten Granitplatten aus der Kaiserzeit deinen Slalom um den Hundekot. Du wähnst dich im Prenzlauer Berg auf der Höhe der Zeit. Die Kastanienallee musst du regelrecht erklimmen wegen des holprigen Bürgersteig-Pflasters. Sie ist die Flaniermeile mit den flippigsten Läden dieser Gegend. Im Sommer blüht hier der Prater, der größte innerstädtische Biergarten Berlins. Mitten im Kiez. Die Volksbühne, das beste Theater Berlins, unterhält im Prater eine Tochterbühne. Wer von der Kastanienallee abbiegt und die Schwedter Straße runterläuft, kann ein paar Ecken weiter die Reste vom Stacheldraht der Berliner Mauer sehen. Geschichte weht dem Besucher im Prenzlauer Berg wie Frostluft um die Nase.
Vertreter des Savoir-vivre sollten in die mondäne Gegend rund um den Kollwitzplatz eintauchen. Hier ist fast jedes Haus herausgeputzt, vor den stuckverzierten Fassaden parken Cabrios und Luxuslimousinen, edle Shops und teure Boutiquen verbreiten Großstadt-Glamour. Jeden Samstag findet auf dem Kollwitzplatz ein Markt statt, auf dem es Bio-Brote gibt, klein und teuer wie Mauersplitter. Und einen riesigen Stand mit orientalischen Keksen und Honigkerzen. Und Milchkaffee aus dem Designer-Pappbecher. Und einen Bundesaußenminister beim Gemüsekauf. Keiner guckt hin. Man ist am Kollwitzplatz Politprominenz gewöhnt. Schließlich hat Gerhard Schröder hier, gleich an der Ecke, im "Gugelhof" gesessen - mit Bill Clinton! Und da, der Breitschultrige mit dem Heiligenschein! Ist das nicht der Umweltminister? Wir blinzeln höchstens mal über unsere Vollkornwaffel mit Holunderaufstrich. Aber wir drehen uns nicht um, wir haben Kultur! Das Umdrehen überlassen wir den Touristen, die am Kollwitzplatz aus den Reisebussen steigen, einmal ums Karree laufen und vergeblich nach der im Reiseprospekt versprochenen Schönheit des Kollwitzplatzes suchen. Die bemerkt man erst, wenn man eine Weile bleibt.
Verlässt man die wohlhabende Oase, gelangt man nach wenigen Schritten zum Jüdischen Friedhof neben dem ehemaligen Polizeirevier, in dem zu DDR-Zeiten die Volkspolizei residierte. Oder es treibt Sie auf die Torstraße, die Sie aber nicht überqueren dürfen, sonst verlassen Sie den Prenzlauer Berg. Auf der anderen Straßenseite beginnt der verführerische Nachbarbezirk Mitte - der Bezirk der Kunst, der Mode, des Tourismus, der Prostitution und des Nachtlebens. Sie können in der Torstraße nach Mitte rübergucken wie über die Meerenge von Gibraltar nach Afrika. Sie sehen drüben das berühmte "Kaffee Burger", in dem die berühmte Russendisko braust. Sie sehen auf der anderen Straßenseite Petersburger Musiker sich schwankend aneinander festhalten. Und deutsche Dichter in schwarzem Leder. Wenn Sie gute Augen haben, sehen Sie auch katholische Künstler aus Polen in ihrem "Club der polnischen Versager" sitzen, Männer unter sich.
Wem nach einer Zeitreise in die DDR zu Mute ist, dem sei empfohlen, im Ernst-Thälmann-Park spazieren zu gehen, wo sich die wenigen Bäume zwischen Plattenbauten und wuchtigem Thälmann-Monument fast verlieren. Anschließend vielleicht ein Abstecher ins Cantian-Stadion, wo seit eh und je der BFC-Dynamo trainiert. Hier befindet sich auch die meistfrequentierte Jogging-Bahn der Stadt, wenn nicht der ganzen Welt. Besser vorher reservieren! Hinter der angrenzenden Max-Schmeling-Halle (wo schon Madonna und David Bowie auftraten) liegt der Mauerpark - früher gut bewachter Grenzstreifen, heute eine Installation aus Kronkorken, Granit und Liegewiese mit Blick auf die Kehrseite des früheren Westberlin, den etwas niedergeschlagenen Arbeiterbezirk Wedding. Wer Fernweh aufkommen lassen will, dreht den Kopf nach rechts und sieht die Flieger über dem Norden der Stadt vom Flughafen Tegel aufsteigen. Oben auf dem Mauerpark-Hügel stehen Schaukeln. Wer darauf sitzt, schaukelt wie im Himmel über Berlin. Eine Reise in den Sonnenuntergang.
Unterkunft: "Myers Hotel", Metzer Str. 26 gemütliches 41-Zimmer-Haus mit Dachterrasse, restaurierter Altbau aus dem 19. Jahrhundert, DZ ab 115 Euro inkl. Frühstück, Tel. 030/44 01 40, www.myershotel.de; "Ackselhaus", Belforter Str. 21 nahe Kollwitzplatz, Zimmer und Apartments in stilvollem Gründerzeithaus, 66 bis 200 Euro, Tel. 030/44 33 76 33, www.ackselhaus.de; "Transit Loft", Greifswalder Str. 219, hell und funktional, junges Publikum, in ehemaligem Fabrikgebäude, DZ ab 69 Euro inkl. Frühstück, Tel. 030/48 49 37 73, www.transit-loft.de
Artikel erschienen am 28. März 2004
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