Hannes Kiebel
Obdachlose in den 20er Jahren in Berlin
- Aus dem dunkelsten Berlin
- Großstadtvagabondage
- "Gute Zeiten für Penner und Schaler"
- In der Pennerkneipe
- Die armen "Warter" von Berlin
- Im städtischen Asyl für Obdachlose
Auch Obdachlosigkeit hat ihre eigene Geschichte. Landstreicher, Vagabunden, Tippelbrüder nannten sich die "Vorfahren" unserer heutigen Berber - und es ist erschreckend, wie sehr Bilder der 20er Jahre denen unserer Zeit ähneln. Hannes Kiebel aus Bochum beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der Obdachlosigkeit. Für Asphalt griff er für diese collagierten Gedanken tief in sein umfangreiches Archiv:
Aus dem dunkelsten Berlin
Karin Kerner und Klaus Trappmann erzählen zum Januar 1927 eine Geschichte: "Es kommen die "Glücksritter" vom Land am Schlesischen Bahnhof an. Harry S., 40 Jahre alt, arbeitslos, verläßt den Zug. Er kennt sich aus. Zielsicher geht er die Breslauer Straße entlang, über den Holzmarkt in der Alexanderstraße zur "Kruke", der Wärmehalle am Alexanderplatz. Die "Kruke" ist überfüllt. Nach zwei Stunden Wartezeit wird er eingelassen. Obwohl offiziell verboten, wird in de Halle reger Handel getrieben: Stullen, Kleidungsstücke, Gegenstände aller Art, erbettelt oder geklaut, werden verhökert oder getauscht. In einem spiegellosen Raum schneidet ein Frisör die Haare billig, in einer Ecke wienert ein Schuhputzer denen, die noch etwas auf sich halten, die Schuhe. Tips werden gegeben, die neuesten Informationen über das städtische Asyl, die "Palme", ausgetauscht. Harry S. macht sich auf den Weg. Vom " Alex " die Prenzlauer Allee entlang, kommt er direkt zu "Fröbels Festsälen" in der Fröbelstraße. Das Obdach ist überfüllt. Sie schicken ihn in die "Wiesenburg". Die Stadt hat mit dem "Berliner Asylverein" einen Nutzungsvertrag.
Großstadtvagabondage
Aus den persönlichen Erlebnissen erfahren wir, von Georg Eck, daß er zerschlagen und müde sich durch die endlosen StraBen vom Westen nach dem Nordosten von Berlin schleppte. "Es ist Abend geworden. Am Alexanderplatz biege ich nach Norden ab. Die Prenzlauer Allee liegt fast leblos, von einer Kette spärlicher Lichter erhellt. Ich steige mühsam, von übermäßiger Wanderung erschöpft, die Straße bergan. Da plötzlich flammt in riesigen Leuchtbuchstaben ein Wort am Nachthimmel auf, über mageren Mietskasernen, halbzerfallenen Schuppen, Scheunen, Budiken, Kaschemmen leuchtetes strahlend: "Elysium". Elysium, Gefilde der Glücklichen! Hier ist es der Name eines Kinos, gleisnerische Lockung geschickter Unternehmer; aber wer vermöchte in dieser Hölle ohne ein solches eingebildetes Himmelreich, ohne die Vortäuschung eines Glückes leben? Ich bin am Ziele. Hinter dem Kinopalast erhebt sich dunkel, von jenem verschönenden Lichtschein nicht mehr getroffen, das Asyl für Obdachlose, die Palme. Augen, die gewohnt sind, nach Steckbriefen zu vergleichen, mustern mich scharf. Beamte in weißen Kitteln notieren meine Personalien, untersuchen meine Papiere. Ich vermag mich kaum auf den Füßen zu halten. Endlich, endlich öffnet sich mir ein hoher halbdunkler Schlafsaal, eine Luft, verbraucht und von dem Gestank beizender Desinfektionsmittel erfüllt, nimmt mir einen Augenblick den Atem. Ich suche mir eine freie Pritsche und sinke hin."
"Gute Zeiten für Penner und Schaler"
Die Obdachlosen haben "gute Zeit". Das Wetter gestattet ihnen, ab und zu im Freien zu schlafen, wenn es nicht gerade regnet. In solchen Fällen muß dann das Versäumte am Tage nachgeholt werden. Da es verboten ist, nachts in Parks und Anlagen zu schlafen, so sieht man heute täglich auf den Banken der Anlagen übermüdete Obdachlose schlafen. Die göttliche Weltordnung will es, daß einerseits die Proleten in engen Löchern eingepfercht sind, aber auf Straßen und Plätzen kampieren müssen. Auch für die sogenannten "Schaler" sind die Sommermonate eine "segensreiche Zeit". Ist doch ihnen jetzt die Gelegenheit gegeben, aus den Abfällen der Markthallen, oder aus den Überresten der Wochenmärkte etwas Brauchbares herauszusuchen. In den verdorbenen Tomaten, die manchmal korbweise weggeworfen werden, ist manchmal eine brauchbare zu finden, die nach Entfernung der faulen Stelle noch als Brotbelag dienen kann. Ein besonderes Glück ist es, wenn unter den Blumenkohlblättern plötzlich ein kleines Köpfchen unverfaulter Blumenkohl gefunden wird. In der Markthalle Andreasstraße und in der Zentralmarkthalle gibt es eine Reihe verschiedener Frauen und Männer, die ihr Gemüse restlos aus den Abfällen heraussuchen.
In der Pennerkneipe
In einer Oktobernacht 1926 erfahren zwei Journalisten folgende Situation: "Zum Beginn einer regnerischen Nacht treten wir in eins dieser sogenannten "Pennerlokale" des Prenzlauer Bezirks. Zunächst befinden wir uns im Schankraum. Junge Burschen mit Elendsgesichtern stehen vor der Theke; hier und dort steht ein Glas Bier, zu dem der letzte Groschen noch reicht, aber das jüngere Leben ist nur eine Attrappe dieses Lokals. Schon in dem Vorraume in der Ecke an kleinen Tischen sehen wir ältere Männer im dürftigsten Aufzuge. Lumpen hängen an ihren Leibern herab. Schmutziges Haar sprießt aus Kinn und Backe. In den geröteten Augenhöhlen liegt jener geschwächte, elendsergebene Blick, jene toten Augen, die ein furchtbarer Ausdruck für das Schicksal dieser Menschen sind. Alles ist nur ein Vorspiel! Durch eine zweite Tür treten wir hinein in einen halbdunklen Raum, der von der unangenehmen Wärme ausgedunsteter Körper erfüllt ist. In der Mitte ein Tisch. Über das harte Holz geworfen, dicht nebeneinander die Körper von Schlafenden. Oder auch auf dem Stuhl sitzend, schnarchen einzelne in bleiernem Schlaf. Hier und da ein Mädchen in zerrissenen Kleidern, das sich schlafend gegen die Schulter eines Armutsgenossen lehnt.
Aber weit zahlreicher sind gealterte Frauen, die hier den Rest ihrer schweren Tage verbringen. Gähnend erwacht dieser oder jener und schaut uns mit schlaftrunkenen, wässerigen Blicken an. Was stört ihr hier unsere dürftige Ruhe? Komrnt ihr aus jener Welt der satten Zufriedenheit, dann verschwindet schnell von der Bildfläche! Gehört ihr zu uns, dann reiht euch schweigend in die Elendsgarde ein!"
Die armen "Warter" von Berlin
Aus den Endzwanziger Jahren werden unmögliche Zustände in den Wartesälen der Berliner Bahnhöfe gemeldet. Die Wartesäle der III. und IV. Klasse enthalten alle den gleichen Typ des Gelegenheitsreisenden: Männer und Frauen der ärmeren und ärmsten Bevölkerungsschichten, die ein ganz dringender Grund zur Reise veranlaßt hat, die sich auf dem Wege zu einer neuen Arbeitsstätte befinden und daher mit Kind und Kegel, Hab und Gut erschienen sind. Überall auf den Bänken Schlafende. Für den ganzen Raum eine einzige Lampe, so daß der Hintergrund vollständig dunkel ist. Wer keine Fahrkarte hat, muß den Raum verlassen.
Im städtischen Asyl für Obdachlose
1927, es ist halb vier, die Stunde, in der die "Palme" geöffnet wird. Eine Pyramide von Emaillenäpfen, abgestoßen; wer vor sieben da ist, bekommt einen halben Liter Schleimsuppe, morgens jeder 3/4 Liter und I/7 Brot. In den Schlafsalen stehen je 60 schmale Bettstellen aus Eisendraht, je zwei und zwei aneinander, dazwischen ein schmaler Gang zur Wand. Jeder bekommt zur Nacht eine Wolldecke, nichts weiter. Matratzen, Kopfkissen, waren ja nicht sauber zu halten. Die Decken werden täglich desinfiziert. (Bericht einer Fürsorgerin)
Quellen zum Beitrag gibt es bei
Hannes Kiebel
Girondelle 8
Bochum
aus: Asphalt - Magazin. Auf Straßen und Plätzen. Nr. 13 vom September '95. Hannover 1995, S. 32 - 33.