Michael Holzach
"Betteln ist schwerer als arbeiten"
Er nennt sich Gustav, ist "um die 45 rum" und "seit Dien Bien Phu auf der Rolle". In einem grau-schwarzen Mantel hockt er in brütender Hitze vor dem Franziskaner-Kloster in Paderborn, den linken Unterschenkel in einem Luftschacht versteckt, eine Zigarrenkiste mit ein paar Groschen vor sich. Er macht "Stichmaloche", er bettelt. Ab und zu wirft jemand Kleingeld in den Kasten. Meist sind es Gastarbeiter, denn "Deutsche geben nur zur Weihnachtszeit", sagt Gustav, der Penner.
Nach knapp drei Stunden hat er drei Mark achtzig für eine "Bombe" Rotwein zusammen. "Ich brauch das Zeug, damit ich schlafen kann ohne zu träumen", sagt er, "denn Träume sind furchtbar."
Der gebürtige Erzgebirgler ist in einem Waisenhaus in Zwickau groß geworden, nach dem Krieg wurde er "vom Russen ins Zinnbergwerk gesteckt". 1948 packte ihn die Abenteuerlust. Er ging in den Westen und meldete sich bei der Fremdenlegion. Die Stationen der folgenden Jahre lassen sich eintätowiert auf seinen Unterarmen nachlesen: "Algier, Saigon, Battambang, Hanoi, Dien Bien Phu." Mit einem Steckschuß im Oberschenkel kam Gustav 1955 "heim ins Reich" und "seitdem nicht mehr zur Ruhe".
Jedes Jahr zieht der kleine drahtige Mann sechs- bis achtmal kreuz und quer durch die Republik, zu Fuß, per Anhalter und gelegentlich mit dem Zug und einer "Bahnbenutzungsgenehmigung" des Sozialamtes, immer unterwegs von einem der 700 Übernachtungsheime und Herbergen ("Pennen") zur nächsten, immer auf der Suche "nach was Weichem unterm Arsch und was Warmem im Bauch".
Vierzehn Tage waren wir mit Männern wie Gustav "auf der Walze": Als Penner verkleidet, das Nötigste in ein paar Plastiktüten verstaut, zogen wir mit den Tippel- und Wermutbrüdern, den "Berbern", wie sie sich selber nennen, "Nichtseßhaften" also, über die Straßen.
Victor, die "Ratte", aus Köln treffen wir, als er mit einer alten Einkaufstasche um ein Uhr morgens Papierkörbe nach Lebensmitteln und Zigarettenkippen durchwühlt. Von den Abfällen der Kölner lebt Victor "seit ich das letzte Mal aus dem Knast bin", das ist, sagt er, nun schon vier Jahre lang. Damals mußte er wegen wiederholten Kaufhausdiebstahls und Körperverletzung ins Gefängnis.
Auf der Mülldeponie des Kaufhofs findet er eine Kiste angegorener Sahnejoghurts, und aus den Abfalleimern italienischer Restaurants klaubt er trockene Pizzaränder, die mit Wasser eingeweicht jenen Brei ergeben, der Victor bei Kräften hält.
Victor haust mit drei anderen Berbern in einer abbruchreifen Fabrik in der Nähe des Rheins. Wenn die Polizei von der "Platte", seinem Nachtquartier, Wind bekommt, zieht er um: in die nächste Ruine, in den nächsten Rohbau. Im Gegensatz zum Landstreicher Gustav, der ohne die Almosen der Nichtseßhaftenhilfe - in den Sozialämtern, Herbergen und Bahnhofsmissionen - nicht leben könnte, betont Victor seine scheinbare Unabhängigkeit: "Mir wird nix geschenkt. Betteln hab ich bis oben. Das hab ich mit meinen zwölf Geschwistern getan, um von der Mutter mehr Speck und vom Vater weniger Prügel zu kriegen. Gebettelt hab ich beim Chef, auf'm Bau, um nicht rauszufliegen, dann im Sozi (Sozialamt) wegen der paar Mark Unterstützung und schließlich beim Pfaffen um einen Teller Suppe. Es hat bei mir eine Weile gedauert, bis ich kapiert hab, daß wer unten ist, im Keller bleibt. Jetzt hab ich zwar nix Bares in der Kralle, aber ich bin selbständig. Und wer mir krumm kommt, der kriegt einen drauf!"
Nach vierzehn Tagen Walze verstehen wir Victor. In unseren schäbigen Klamotten werden wir auf der Straße mißtrauisch betrachtet. Als wir, unrasiert und demütig, nach dem Übernachtungsheim fragen, wettert ein älterer Mann in Celle mit erhobenem Regenschirm: "Euch sollte man in die Gaskammer stecken, statt auf Staatskosten zu verpflegen."
Von freier Kost und Logis ist in der Celler "Herberge zur Heimat" nicht die Rede: "Wenn ihr hier pennen wollt, dann will ich Bargeld sehen", sagt Herbergsvater und Diakon Herbert Außner, 63, gleich bei der Ankunft. "Die Übernachtung kostet 1,30, die Flasche Bier 1,10."
Da über die Hälfte der Nichtseßhaften Alkoholiker ist, gehört die "Penne" in Celle nach Auskunft der lokalen Schilling-Brauerei "zu unseren besten Kunden". Tag und Nacht läßt der Diakon das Bier von den vier Kalfaktoren im Drei-Schichten-Dienst unter die Leute bringen. Bis zu 1000 Kisten "Meister-Pils" werden hier nach den Angaben der Hausgehilfen im Monat umgesetzt. Gewinnspanne pro Kiste: 9,60 Mark. Die Folge: nächtliche Schlägereien, Schnapsleichen in den verdreckten Schlafräumen und Gestank. Damit die Kasse stimmt, vermittelt Herbergsvater Außner (Spitzname "Sklavenhändler") Gelegenheitsarbeiten an seine Gäste. "Knochenmaloche, für fünf oder sechs Mark die Stunde ohne Unfallschutz und Krankenversicherung". wie mein Bettnachbar Paulemann sagt. Wegen Paulemann kann ich in Celle kaum schlafen; er schreckt mehrmals in der Nacht auf und brüllt im Traum um Hilfe. Die anderen Berber behaupten, die zwei Jahre als Wachmann in Treblinka säßen ihm noch heute in den Gliedern.
Superintendent Karl Manzke, 46, Vorstandsmitglied des Vereins Herberge zur Heimat in Celle, verteidigt den Alkoholausschank an die Penner: "Die Leute werden doch derartig diskriminiert. daß keine andere Freizeitgestaltung möglich ist." Was die Berber nicht wissen: Sie trinken für eine gute Sache. denn "jeder Pfennig, der in der Herberge erwirtschaftet wird, wandert in die Finanzierung des neuen therapeutischen Heims".
Was in Celle erst für das Jahr 1977 geplant ist - eine therapeutische Herberge -, das soll es im "Perthes-Haus" in Hamm schon seit Jahren geben: ein Heim, in dem "in einer differenzierten arbeitstherapeutischen Wiedereingliederungswerkstatt echte Resozialisierung betrieben wird". Im Gegensatz zur Herberge in Celle, wo neben 50 Nichtseßhaften auch noch 50 Rentner unter einem Dach hausen, wird in Hamm streng getrennt: Auffangstation für Neuankömmlinge; Übergangsabteilung für diejenigen, die sich in arbeitstherapeutischer Behandlung befinden: Wohnheim für Männer mit fester Arbeit und Altenheim.
Und streng sind hier auch die Sitten: Nach der knappen und korrekten Aufnahme: "Dein Ausweis? Woher? Wohin?" (an das Geduztwerden haben wir uns schnell gewöhnt) führt uns der Kalfaktor in den Keller zum "Abbienen". Wir müssen uns bis auf die Hose ausziehen und die Innenflächen von Hemd und Unterhemd nach außen krempeln. Dann fährt der Hausgehilfe mit einer Lampe dicht über die neuralgischen Zonen: Achselbereich und Kragen. Doch es rührt sich nichts - wir haben noch immer keine Läuse. Anschließend geht es unter die Dusche. Unsere Zimmer liegen gleich neben dem Duschraum. Fließend Wasser auch hier: die Wände herunter. 16 Personen teilen sich hier drei kleine naßfeuchte Räume. Aber: Es gibt frisches Bettzeug.
Im Perthes-Haus wird Ordnung großgeschrieben: Bier, in Celle unser täglich Brot, ist "strengstens verboten". Ebenso "rauchen auf den Zimmern". Wer das Haus verlassen will, muß "Abgang" und "Rückkehr" beim Pförtner minutengenau zu Protokoll geben. Besuch - nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Leitung.
Es ist 18 Uhr. Ein Gong ertönt. "Essenfassen!" Im Speisesaal stehen etwa 70 Penner um die Tische herum. Auf das Kommando "setzen" fällt der Saal wie ein Mann auf die Stühle. Nach sieben Minuten ist die Graupensuppe verschlungen, sind die Margarinebrote hinuntergewürgt. Gebetet wird heute nicht.
Der Mann, der beim Essen den Takt angibt, ist Klaus Dieter Hartmann, zuständig für die Arbeitstherapie in den Werkstätten. Ich frage Hartmann, ob ich hier arbeiten könne, da ich genug hätte von der Tippelei. Die Zigarre zwischen den Zähnen, antwortet er mir: "Wenn du hier was tun willst, dann stecken wir dich erst mal sechs Wochen in die Klammern, damit wir wissen, was für ein Windei du bist."
Gert aus Dortmund, Mitte 30, schon seit sechs Monaten ohne Gelegenheitsarbeit und seit der Scheidung vor neun Jahren "auf der Flucht vor mir selber", schildert die Folgen, die das Zusammensetzen der Wäscheklammern, einer typischen Herbergsbeschäftigung, hat: "Nach drei Stunden bluten dir die Fingerspitzen, nach drei Wochen spürste nix mehr, dann ist dat Gefühl raus." Geklammert wird im Akkord, für 1000 Klammern gibt es eine Mark. Spitzenverdiener bringen es auf 2,60 Mark am Tag. "Wenne dat vier Wochen mitgemacht hast, dann weißte, warum ich froh bin, schon morgen wieder die verdammte Landstraße unter den Schuhsohlen zu spüren."
Am nächsten Morgen verlassen wir mit Gert die Herberge und trampen und tippeln ein paar Tage gemeinsam durch die "Pennerszene" Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens.
In der Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf bei Bethel schlafen wir zu acht wie die Heringe in muffigen Duschkabinen, jeder den Kopf über einem Abflußloch.
Im städtischen Übernachtungsheim in der Dortmunder Steinstraße, einem ehemaligen Gefängnis aus der Nazizeit, hat jeder eine Zelle. "Einzelhaft kriegen sonst eigentlich nur Stammkunden", sagt Gert und wundert sich.
Und im Übernachtungsheim des DRK in Gütersloh scheucht uns Heimleiter Rudolf Krebs, 60, volltrunken aus den Betten und durchsucht das Gepäck von "euch versoffenen Arschlöchern" nach Alkoholika. Kein Berber muckt auf. "Der kann sich dat erlauben", sagt Gert, "der ist ein normaler Mensch."
Ähnliche Erfahrungen mit den "normalen Menschen" machen wir jeden Tag. In Paderborn sprechen wir beim Pfarrer der Markt-Kirche, Wilhelm Jürgens, vor, und Gert läßt seine Platte laufen: "Wir sind auf der Durchreise und bitten um eine kleine Unterstützung." Der Pfarrer antwortet durch den Türspalt: "Für mich seid ihr gottserbärmliche Schufte."
Gert erlebt solche Demütigungen häufig. Er sagt, daß "betteln schwerer ist als arbeiten, besonders heute, wo durch die Krise die Konkurrenz immer stärker wird, alle sparen müssen und die Jugend nach vorn drängt". Gert muß sich daher nach neuen Geldquellen umsehen. Er fährt zum Beispiel alle zwei Monate nach Köln, wo selbst Personen ohne festen Wohnsitz Blut spenden dürfen. Jeden Mittwoch ist hier "Berbertag". Bis zu 300 Tippelbrüder stehen dann morgens um 6 Uhr vor der "Abteilung für Transfusionswesen" Schlange, um für "400 Kubik Berberblut 40 Deutsche" zu kassieren. Dr. Doris Schulten, Ärztin der Klinik: "Wir sind auf die Nichtseßhaften angewiesen."
Gert hat sein Überleben auf der Straße organisiert. Weil man in den meisten Heimen nur noch alle sechs bis zwölf Monate übernachten darf - es sei denn, man arbeitet für ein bis zwei Mark pro Tag -, trägt er in sein Notizbuch genau ein, wann er wo war und wann er wiederkommen kann: "Dienstag: Koblenz, Mittwoch: Bonn, Donnerstag: Düsseldorf." Gert nennt das "Sozialtourismus".
Mit dem Märchen vom Romantiker der Landstraße, der frei und sorglos unter der schattigen Birke liegt, die Feldblume zwischen den Lippen, hat sein Leben nichts zu tun. "Solche Typen sind die ganz große Ausnahme. Die meisten von uns wollen nicht auf die Straße, sie müssen, weil sie vor sich selbst und den anderen auf der Flucht sind. Deshalb sind die meisten Berber auch Einzelgänger, die keinem trauen."
Über die Ursachen dieser Flucht tappt Gert ebenso im dunkeln wie die zuständigen Wissenschaftler. Selbst in der Randgruppenforschung wurden die Penner bisher benachteiligt. In den Ausbildungslehrplänen der Sozialarbeiter rangiert die "Nichtseßhaftenhilfe" meist ganz unten. Trinkerheilanstalten und psychiatrische Heilstätten können den Tippelbrüdern nicht helfen, weil es keine angemessenen Therapien gibt. Erst in jüngster Zeit bemühen sich verschiedene Forschungsgruppen, Versäumtes nachzuholen. Die Bundeszentrale für Nichtseßhaftenhilfe in Bethel betreibt mit Bundesmitteln ein Forschungsprogramm, um der Genese des Problems auf die Spur zu kommen.
Da überregionale Daten bisher fehlten, wurden zunächst in einer bundesweiten Erkundungsstudie 520 Nichtseßhafte in eigener Sache befragt. Ergebnis: Die überwiegende Mehrheit der Befragten (83,9 Prozent) gehört der Unterschicht an, ist ledig (57,9 Prozent) oder geschieden (32,6 Prozent) und war nach eigener Aussage mindestens schon einmal straffällig geworden (70,5 Prozent). Fast jeder dritte (32,5 Prozent) ist in den ehemaligen deutschen Ostgebieten geboren (Bundesdurchschnitt 1970 16,5 Prozent). In Nervenkliniken waren 15 Prozent.
Da ein weit größerer Anteil der Bevölkerung ähnliche sozialökonomische Bedingungen wie Scheidung, Flucht oder Vorstrafen kennt, ohne nichtseßhaft zu werden, ist ein kausales Verhältnis zwischen den biographischen Daten als Ursache und der Lebensform als Wirkung kaum zu vertreten. Dr. Johannes Wickert, 31, Projektleiter der Nichtseßhaftenforschung am Psychologischen Institut der Tübinger Uni, glaubt zu den Umwelteinflüssen bestimmte psychische Konstitutionen kommen, die einander wechselseitig bedingen". Psychologische Untersuchungen mit den Nichtseßhaften haben ergeben, daß Situationen, die einen gewissen Grad von Verbindlichkeit bekommen, von den Berbern als unerträglich empfunden werden. "Zwar wird die Bindung an oder jemanden oft von dieser Personengruppe als wichtigstes Ziel genannt", so Wickert, "doch wenn das Gewünschte konkret wird, scheint es Anlaß zur Angst und Flucht zu sein."
Zu dem auffälligsten statistischen Merkmal der Tippelbrüder gehört, daß sie keine "Schwestern" haben. Nur drei bis fünf Prozent aller Nichtseßhaften sind Frauen. Geraten Frauen in jene Situationen, welche die Männer auf die Landstraße treiben, landen sie oft auf dem Strich. Deshalb leben auch die wenigen weiblichen Nichtseßhaften meist in den Städten.
In Düsseldorf, wo bei der Polizei 4000 Stadtstreicher registriert sind, treffen wir Marie - klein, krummbuckling, mit struppigem Haar und fettbeschlagener Brille. Sie ist 53, sieht aus wie 75 und sitzt seit drei Wochen auf einer Bank am Schwanenmarkt, einem Park vor dem Landtagsgebäude. Nachts zieht sie den Mantel über den Kopf, tagsüber trinkt sie. Aufstehen kann sie nicht mehr. Ein Dutzend Berber versorgt Marie mit dem Nötigsten: "Komm, Oma, kipp dir noch einen!"
Die interne Fürsorge klappt, bis der Kreislauf der Frau zusammenbricht. Das dauert mal drei, mal sechs Wochen. An diesem Abend ist es soweit. Marie fällt vornüber und starrt regungslos in die Bäume. Wir alarmieren das Rote Kreuz. Dr. Winfried Dreßler, Stationsarzt im Theresienhospital, zuckt bei ihrer Ankunft mit den Achseln. "Die Frau ist bei uns schon Stammkunde, und dabei ist sie hier völlig fehl am Platz. Sie müßte in ein Pflegeheim." Doch dort gibt es endlose Wartelisten.
Auch das Sozialamt, nach Paragraph 17 BSHG (Bundessozialhilfegesetz) verpflichtet, Marie eine Bleibe "auf Dauer" zu verschaffen, ist ratlos. "Solche Fälle haben wir hier zu Hunderten", sagt Sozialarbeiter Achim Ziesel, 40, "das Problem stinkt zum Himmel, und keiner tut etwas."
Aktiv werden nur die Düsseldorfer Stadtverordneten. "Law and Order" heißt hier die Devise, nachdem der Bundestag den Landstreicherparagraphen 316 StGB gestrichen hat. Ähnlich wie ihre Kollegen in Köln oder Stuttgart überlegen sie, wie die Clochards per Polizeiverordnung aus der Stadt zu vertreiben seien.
Wenn sich Marie nach ein paar Tagen im Theresienhospital einigermaßen erholt hat, dann läßt man sie wieder laufen. Bis zum Schwanenmarkt schaffen es ihre schwachen Beine gewöhnlich, und nach etwa vier Wochen geht dann alles wieder von vorne los.
Holzach, Michael: "Betteln ist schwerer als arbeiten" - In: 'Zeit'-Magazin, Nr. 36/ 29. August 1975; wieder veröffentlicht in:
Holzach, Michael: Zeitberichte. Mit Fotos von Timm Rautert. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1989, S. 40 - 46.