Erwin Jordan
Thesen zur aktuellen Diskussion um "Straßenkinder" in der Bundesrepublik
1. Kinder und Jugendliche, die sich den Einwirkungen von Erziehung in Elternhaus, Schule und Jugendhilfe (Heim) entziehen, sich an "jugendgefährdenden" Orten aufhalten, in jugendeigenen Szenen untertauchen, am Rande der bzw. in der lllegalität leben, haben in der Vergangenheit nicht nur die sozialpädagogische Diskussion bestimmt, sondern auch die Massenmedien beschäftigt (vgl. beispielsweise die große Beachtung des 1978 erschienen Buches: Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo).
Das öffentliche Interesse ergibt sich schon daher, daß diese Kinder und Jugendlichen in augenfälliger und nachhaltiger Weise gegen zentrale gesellschaftliche Sinn-Normen, gegen
- das Gebot der Seßhaftigkeit,
- das der Akzeptanz elterlicher oder anderer Autoritäten,
- die gesellschaftliche Forderung nach Arbeits- bzw. Lernbereitschaft und
- häufig auch gegen das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit im Jugendalter
verstoßen und damit zumindest partiell den Mißerfolg/das Scheitern des Ziels gelungener gesellschaftlicher (sozialer) Integration sichtbar werden lassen.
In diesem Kontext sind in jüngster Zeit vor allem Kinder und Jugendliche "auf der Straße", in riskanten Situationen und unkontrollierten Räumen, Gegenstand der Medien gewesen. In der öffentlichen Etikettierung waren und sind dies u.a. die sog. "S-Bahn-Surfer", die "Crash-Kids" und nunmehr die "Straßen- oder Bahnhofskinder" (vgl. dazu z.B. DER SPIEGEL 15 und 28/1993; STERN 34/1993).
2. Der Begriff "Straßenkinder" ist dabei in mehrerlei Hinsicht eher dem plakativen Skandalisierungsbedürfnis der Massenmedien als einer angemessenen Erfassung des Phänomens geschuldet. Der in Analogie zur Situation der Straßenkinder in Lateinamerika verwendete Begriff unterschlägt nämlich die enormen qualitativen Unterschiede, die zwischen der Existenz von hungernden, um ihre Existenz kämpfenden, kranken und von sozialer Unterstützung weitestgehend ausgegrenzten Kindern in den lateinamerikanischen Metropolen, die von bezahlten "Killerkommandos'' verfolgt werden, und dem Leben von "Bahnhofskindern" in Hamburg bestehen
3. Zur aktuellen Botschaft der Massenmedien gehört gegenwärtig, daß die "Straßenkinder" nicht nur immer zahlreicher, sondern auch immer jünger werden (vgl. z.B. Spiegel-Artikel "Notausgang für kaputte Seelen" 15/1993). Rückfragen bei Vertreterlnnen von Großstadtjugendämtern haben allerdings die Aussage, daß immer mehr und immer jüngere Kinder ohne Ausweich- und Rückzugsmöglichkeiten auf der Straße (z.B. im Bahnhofsmilieu) leben, nicht bestätigt. Die Zahl der obdachlosen Kinder wird als eher klein eingeschätzt. Wichtig im Zusammenhang mit einer seriösen Diskussion ist also eine deutliche Unterscheidung zwischen den Ablösungskonflikten älterer Jugendlicher (16- bis 18jährige) und den Lebenssituationen von Kindern (12- bis 14jährige). Die Bahnhofsszene, die Straße wird - als Treffpunkt bzw. Lebensort - nach wie vor eher durch ältere Jugendliche (in der Ablösungsphase) und junge Erwachsene geprägt.
4. Das plakative Bild von den Straßenkindern ist auch deshalb trügerisch, weil es hier in Wirklichkeit nicht um "klassische" Obdachlosigkeit geht. Dies entspricht auch den Feststellungen von Sozialarbeiterlnnen des Frankfurter "sleep in": "lch möchte in dem Zusammenhang weder bei ausländischen noch bei deutschen Jugendlichen und jungen Menschen von der klassischen Obdachlosigkeit sprechen. Also diese klassische Obdachlosigkeit, die man bei Berbern kennt oder bei älteren Menschen. Die sind völlig rausgefallen und müssen ohne ein Dach über dem Kopf leben. Unsere Kinder und Jugendlichen leben nicht über einen so langen Zeitraum ohne Obdach. Es sind bei uns sehr wenige gewesen, die über mehr als zwei Monate wirklich draußen waren und über uns zum Jugendamt vermittelt werden mußten." (M. Zimmermann-Freitag, in: taz v. 24.7.1993)
Dies schließt natürlich nicht aus, daß in einer Reihe von Fällen von "verdeckter Wohnungslosigkeit" gesprochen werden kann, nämlich immer dort, wo die gegebene Wohnsituation den Bedürfnissen und Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht wird. Hierzu gehört beispielsweise, daß immer mehr Familien in unzulänglichen Wohnsituationen leben, Kinder durch Hotel- bzw. Containerunterbringungen (Asylbewerberlnnen, Umsiedlerlnnen) in kinder- bzw. familienfeindlichen Umwelten aufwachsen müssen .
5. Das Reden von den Kindern auf der Straße bzw. der Flucht unterscheidet nicht mehr zwischen denjenigen, die mangels Alternativen ihren Lebensmittelpunkt an ungeschützten Orten, auf der Straße, haben und jenen, die die öffentlichen Orte als Szenetreff, als Freizeitort, nutzen.
So sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß die Bahnhofsszenen etc. für Kinder und Jugendliche große Anziehungskraft haben. Dies jedoch nicht im Sinne eines frei gewählten oder erzwungenen Lebensmittelpunktes ("Der Schlafsack liegt im Schließfach."), sondern im Sinne eines Szenetreffs (ein Ort, wo etwas los ist). Dies ergibt sich insbesondere aus den Möglichkeiten, dort etwas zu erleben (action), Gleichgesinnte zu treffen (Geselligkeit) und auch Akzeptanz und Nähe (Beziehung) zu erfahren. Mit ihren sprunghaften Aktionen, den Unberechenbarkeiten, den kleinen (und großen) Abenteuern, Risiken, den Gefahren und Herausforderungen bietet diese Szene offensichtlich attraktive Alternativen zu der oft eintönigen und deprimierenden und von Mißerfolgserlebnissen geprägten - Tristesse des Alltags.
Damit geraten jugendliche (subkulturelle) Szenen ins Blickfeld der Öffentlichkeit und wird auch sichtbar, daß es Kinder und Jugendliche gibt, die offensichtlich relativ ungesteuert vom Elternhaus etc. einen großen Teil ihrer freien Zeit an öffentlichen Orten in selbst gewählten Cliquen verbringen.
6. Die bisherigen Anmerkungen sollen nun keinesfalls die Bedeutung bzw. Brisanz des Problems insgesamt in Frage stellen. Es sollte hiermit lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, daß es zuverlässiger Recherchen und quantitativer Bestimmungen bedarf, um die handlungsrelevanten Quantitäten und Anforderungen an die Jugendhilfe genauer zu bestimmen. Auch wenn es in Wirklichkeit keine 40.000 Kinder sind, die im "Milieu", auf der Straße leben, so besteht doch kein Zweifel, daß die Lebenssituation dieser Kinder und jüngeren Jugendlichen (10 - 15 Jahre) nicht selten dramatisch und von vielfältigen Gewalt-, Mißbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen geprägt ist und diese Kinder und Jugendlichen eine große Herausforderung an die Jugendhilfe darstellen.
7. Der Hinweis auf die Verantwortlichkeit von Jugendhilfe gewinnt vor dem Hintergrund noch an Brisanz, daß der größte Teil der in Bahnhofs- und Straßenmilieus, am Rande bzw. in der lllegalität lebenden Kinder und Jugendlichen aus Betreuungsverhältnissen der Jugendhilfe stammt. Hier geht es in der praktischen Arbeit also nicht primär um die Sicherung bzw. Schaffung eines "Obdachs", sondern um die Reintegration in (befriedigende) Betreuungs- und Lebenssituationen, also um die Überwindung von Heimat- und Beziehungslosigkeit, nicht schlicht um die Vermeidung von Obdachlosigkeit!
Es scheint so, daß eine Reihe der in der Szene lebenden Kinder und jüngeren Jugendlichen sich auf die "klassischen" gruppenpädagogischen Angebote nicht (mehr) einlassen können oder wollen. Auf der anderen Seite ist die Verselbständigungshilfe im Rahmen flexibler Betreuungen keine altersentsprechende Hilfe. Für die 12- bis 15jährigen Kinder und jungen Jugendlichen sind daher neue Betreuungsangebote zu entwickeln. Verselbständigung kann für diese Altersgruppe kein primäres pädagogisches Ziel sein. Vielmehr müssen soziale Beziehungen und soziale Bindungsfähigkeit ermöglicht und gepflegt werden. Es muß Versorgung bereit gestellt werden und es muß der Schutz der Kinder vor Gefährdungen organisiert werden.
8. Um die Kinder und Jugendlichen zu erreichen, die aus ihren bisherigen Lebenskontexten (Familie oder Heim) ausgebrochen sind und nun in über weite Strecken auch illegalen und gefährlichen Szenen leben, sind niedrigschwellige und akzeptierende Ansätze in der Jugendhilfe mit dem Ziel Vertrauens- und Betreuungsverhältnisse aufzubauen und zu stabilisieren erforderlich. Hierzu gehören Streetworkangebote, offene Beratungsstellen und Anlaufpunkte in Szenenähe. Aufgabe dieser Dienste wäre es vor allem herauszufinden, aus welchen Kontexten heraus die Kinder und Jugendlichen in die Milieus gekommen sind, in welchem Umfang Chancen zur Reintegration bestehen bzw. welche Alternativangebote für die weitere Entwicklung erfolgversprechend sein konnten.
9. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, daß - gerade mit Blick auf die "Straßenkinder" - in der politischen Diskussion zunehmend häufiger die "geschlossene Unterbringung" von sozial auffälligen Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Jugendhilfeangeboten gefordert wird und damit die alte- Kontroverse um Integration bzw. Ausgrenzung erneut in aller Schärfe aufbricht. Begünstigt auch durch restaurative Tendenzen im allgemeinen politischen und sozialen Leben werden wieder Argumente "gesellschaftsfähig", die in der gefängnisähnlichen Kasernierung von Kindern und Jugendlichen ("geschlossene Unterbringung", verharmlosend auch "gesicherte Unterbringung" genannt) eine notwendige Alternative zu einer offenen und reformorientierten (angeblich gescheiterten) Sozialarbeit zu erkennen glauben. Es sind alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, diesen restaurativen Tendenzen entgegenzutreten.
Literatur
Allert, T.: Auto-crashing. Eine Fallstudie zur jugendlichen Selbst- und Fremdgefährdung, in: Neue Praxis, H. 5/1993, S. 393 - 414
Birtsch, V. u.a. (Hrsg.): Autocrashing, S-Bahn-Surfen, Drogenkonsum Analysen jugendlichen Risikoverhaltens, IGFH-Dokumentation, Frankfurt 1993
Elger, W. u.a.: Ausbruchsversuche von Jugendlichen - Selbstaussagen, Familienbeziehungen, Biographien, Weinheim/Basel 1984
F., Christiane: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, Hamburg 1978
Jordan, E. Trauernicht, G.: Ausreißer und Trebegänger. Grenzsituationen sozialpädagogischen Handelns, München 1981
Langhanky, M.: Annäherung an Lebenslagen und Sichtweisen der Hamburger Straßenkinder, in: Neue Praxis, H. 3/1993, S. 271-277
SPIEGEL, DER: Notausgang für kaputte Seelen - über das Elend deutscher Straßenkinder, 15/1993, S. 84 - 90
SPIEGEL, DER: Monster im Ziegenstall, 28/1993, S. 104 - 109
STERN: Die Leipziger Trümmer-Kinder - Eine Generation geht verloren, 34/1993, S. 14-21
Trauernicht, G.: Ausreißerinnen und Trebegängerinnen. Theoretische Erklärungsansätze, Problemdefinition der Jugendhilfe, strukturelle Verursachung der Familienflucht und Selbstaussagen der Mädchen, Münster 1989
ZElT-Magazin: Endstation Straße, 49/1986, S. 54 - 63
in: wohnungslos. Aktuelles aus Theorie und Praxis zur Armut und Wohnungslosigkeit. 37. Jahrgang. Nr. 1/95, Bielefeld 1995, S. 2 - 3.