Jonny G. Rieger - Ein Balkon über dem Lago Maggiore - Verzeichnis der Zeichnungen (Friedr. Meinhard)
Tessin - Karte (Umschlaginnenseiten)
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[78] - (Carlo Vester)
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[181] - (Brücke im Onsernonetal)
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Zeichnungen: Friedrich Meinhard
Fotos: Jonny G. Rieger
Blick auf dem Lago Maggiore - von Fontana Martina [40]
Die beiden Brissago-Inseln [85]
Ronco und der Gambarogno [153]
Das Kloster Madonna del Sasso [165]
Lavertezzo im Verzascatal [215]
Bosco-Gurin mit dem Sonnenborn [217]
La Banca in Sornico [235]
Tessiner Bergbauer [253]
Vorbei ist ein Frühling und ein langer Sommer im Tessin. Es ist der letzte Tag auf meinem Balkon.
Vorbei ist es mit den glühenden Farbenträumen, mit den hurtig wechselnden Eindrücken, mit dem fiebernden Blühen, vorbei mit dem verschwenderischen Reichtum des Sonnenlichtes. Schon sehe ich das alles mit leiser Wehmut, mit etwas Abstand, mit dem nachdenklichen Zögern des Abschiednehmenden.
Ich habe so viel gesehen.
Und ich habe so vieles nicht gesehen: Das Bavonatal mit dem Gletscher des Basodino. Die Pässe, die ich noch überschreiten wollte. Die Dörfer, die ich noch zu sehen wünschte. Ich kam nicht mehr dazu. Ich ließ mir Zeit für das, was ich erlebte. Das andere verbleibt mir, es wartet auf mich. Und die Kleinigkeiten, die auftauchen und auf einmal doch keine Kleinigkeiten sind: Das Museum in Locarno, das so herrliche Funde aus der Römerzeit birgt, und in das ich nie einzudringen vermochte. Wohl ein halbes dutzendmal versuchte ich es. Es war immer verrammelt und geschlossen. Vipern und Nattern habe ich gesehen, aber ich traf nie die zwei Meter lange grüne Schlange, die sie Pfeilnatter oder auch Zornnatter nennen. Ganze Kolonien der verhältnismäßig seltenen Hirschkäfer habe ich angetroffen, und nie [273] dieses seltsame Insekt, die Gottesanbeterin. Vieles habe ich zugute.
Längst sind die Palmen unter meinem Balkon verblüht. Und ich lasse die Hand über die hölzerne Ballustrade gleiten und nicke: ja, ich komme wieder. Ich werde wieder hier sein und alles, alles sehen. Die unerfüllten Träume, die unerreichten Täler, die unbeschrittenen Bergpässe. Es ist gut, ruhen. Ich habe von ihnen gelernt, wie das Leben auch gelebt werden kann. Weder besser noch schlechter. Aber anders – sie wollen nicht mehr sein und vorstellen, als sie sind: Menschen, die ihr Tempo selbst bestimmen, die im Einklang mit ihrer Natur und ihrer Wesensart leben und sich da nicht dreinreden lassen.
Das alles zieht noch einmal an mir vorüber. Dann nicke ich dem blauen Seespiegel und den beiden Brissagoinseln vertraulich zu und halte ihnen eine kleine Abschiedsrede:
Ich weiß, der melodische Klang der Holzsandalen, der Zoccoli, die dickbäuchigen Weinkännchen, die Boccalini, und mancher andere bunte Zauber, das ist nicht das Tessin. Ich habe ein anderes Tessin kennengelernt und davon zu sprechen versucht. Und zudem gibt es noch etwas ganz anderes: die Wirtschaft, die Exportziffern, die Politik... Das ist eure Sache. Ich bin als ein Liebender zu euch gekommen und mische mich da nicht ein. Ich weiß, ihr habt eure Steinbrüche, Granit und Marmor, eure Tabaksfabriken, eure Linoleum- und Textilindustrie, ihr stellt synthetische Edelsteine und Gerbstoff her und manches andere. Damit schlagen wir uns zu Haus auch herum. Das habe ich aus dem Spiel gelassen.
Und die Menschen im Tessin, die so ganz in sich selbst das zu wissen. [274]
Eure Losung ist: Liberi e svizzeri – Freie und doch Schweizer. Das habe ich immer bei euch gefühlt, es hat mich erfreut und gewärmt. Und auch das, was ihr nicht exportieren könnt: eure landschaftliche Schönheit, euren Frohsinn, euer Temperament und euer Lächeln – auch unter harten Bedingungen.
Ihr habt eure ernsten Probleme, mit dem euch bedrängenden Deutschschweizertum, ihr habt eure Minderheitenfrage, und ihr habt euren Stolz und eure Kulturtraditionen, die ihr bedroht seht. Vieles erbittert euch. Und sicher zu Recht.
Ich verstehe das, aber ich habe keinen Stimmzettel und keine politischen Rechte in eurem Lande. Ich bin nur ein Gast, dem es vergönnt war, auf einem Balkon zu sitzen und das Land rund um den Lago Maggiore zu betrachten. Und nun, da ich gehen muß, will ich es sagen: ich fühle mich heimisch bei euch, und die tiefe Dankbarkeit, die ich spüre, sie kommt von einem aufrichtig liebenden Herzen.
Also: Arrivedérci – auf ein Wiedersehen!
Die Palmen unter meinem Balkon klappern beifällig mit ihren steifen Blättern. Der See glänzt vor warmer Heiterkeit.
Die Glyzinien blühen bereits zum drittenmal.
An einem späten Nachmittag mit einer überwältigend kupferroten Sonne, sengendem Staub und einem Hitzedunst wie Gelee, sitze ich am Rande einer Ansammlung schläfriger Steinhütten, die sich Magliaso nennt. Das kann mir egal sein, denn ich bin schon den ganzen Tag unterwegs und bin müde, hungrig, sehr durstig und sonst gleichgültig gegen alles andere. Ich strecke die Beine unter den Steintisch vor einer Gastwirtschaft, gähne und erwäge müde die Möglichkeit, hier zu übernachten. Dann rufe ich die Signorina. Ein schlampiges Mädchen mit einem schlampigen Lächeln kommt und schenkt mir auf eine schlampige Art einen Viertelliter Rotwein ein. Der Wein ist sauer. Er ist so sauer, daß sich meine Zunge wie ein rasender Lindwurm im Munde windet, und bei jedem Schluck fühle ich es wie Krämpfe bis unten in den Zehenspitzen. Das weckt mich wieder. Die Sauerkeit weckt eine merkwürdige Mischung von Enttäuschung und Raserei in mir, die meinen trägen Blutkreislauf vergiftet und ihn kleine böse Energiestöße produzieren läßt. Um alles in der Welt weiter und weg von hier, bevor Hunger und Durst erst richtig in mir rumoren und sich mit kolossaler Macht melden, mich überwinden und hier länger festhalten, an diesem abscheulichen Ort. [257]
Zwanzig Minuten später sitze ich in einem Postauto und fahre in Richtung Astano. Ein paar Kilometer vor Astano, bei einem kleinen Posthaus, steige ich aus. Der Weg, auf dem ich mich nun befinde, führt zu dem recht ansehnlichen Klumpen Steinhäuser hin, der den Namen Novaggio trägt. Aber bevor ich noch das Dorf erreiche, werde ich bei den Häusern am Rande der Straße von einem unverkennbaren Duft angelockt. Dieser Aromamischung von frischgebratenem Fleisch, Olivenöl, Knoblauch und Rotwein kann ich nicht widerstehen. Und darum befinde ich mich auch noch dort, sehr wohlig und äußerst beredsam, als mein Blick zufällig eine Uhr streift. Es ist fast Mitternacht geworden. Wieder und wieder füllten sie mein Glas mit der rubinroten Glut des Nostrano. Ich muß hier immerhin bei einem freundlich gesinnten Volk gelandet sein, stelle ich fest und versuche darüber nachzudenken, während ich trinke. Dabei fließen die Gespräche am Tisch in munteren Strömen. Es fing damit an, erinnere ich mich, daß sie fragten. Und als sie aus meinen Antworten darüber klar wurden, daß ich weder von der Nordschweizerischen Bundesregierung ausgeschickt noch Steuereinnehmer bin, da nahmen sie mich in ihrem Kreis auf und füllten mich mit herrlichen Speisen und ihrem guten Rotwein Nostrano, der frohe Seelen und gesunde Körper schafft.
Ein Bett, fällt mir ein: »Wie steht es mit einer Schlafgelegenheit für die Nacht?« Sie blicken auf. Ein Bett? Sie rufen, quer durch die Gaststube, zur Signora. Ein Bett? Leider sei hier im Hause nichts mehr frei, aber das würden sie schon für mich ordnen, nur ruhig, das geht in Ordnung. Es wird wieder glühender Nostrano eingeschenkt. Salute!
Endlich erheben wir uns und schlendern selig durch einen [258] glühendroten Nostranonebel zur Tür hinaus und zu dem rabenschwarzen und mir unbekannten Novaggio hinauf.
Zwei meiner Zechkumpanen begleiten mich durch düstere Steinlabyrinthe zu dem Zimmer, das sie mir auf irgendeine geheimnisvolle Art verschafft haben. Es geht durch nachtdunkle, schweigende Gassen, die schräg aufwärts führen, im Bogen und im Zickzack. Und dann ist da ein großer Hausschlüssel, mit dem wir eine Tür öffnen, und wir sagen uns Gute Nacht, und ich bin allein. Wohltuende Kühle umfängt mich im Flur des alten Steinhauses, der knirschende Laut meiner einsamen Schritte über Steinfliesen, die Steintreppen hinauf, während ich meine feuchtwarme Hand über das Eisengeländer gleiten lasse. Oben stecke ich ein Streichholz an, sehe eine offene Tür zu einem kleinen Raum. Und da steht wahrhaftig ein frischgemachtes, blütenweißes Bett. Einen Augenblick stehe ich still und lasse das Schweigen auf mich einwirken, das mich umgibt und das schwarz und massiv vor dem offenen Fenster lagert. Und dann fühle ich die beruhigende Kühle des Bettleinens am heißen Körper.
Am Morgen sehe ich von meinem Fenster aus zum erstenmal in Novaggios Herz hinein. Es ist ein überraschender und verwirrender Anblick. Gerade unter meinem Fenster kreuzen sich zwei Gassen. Die Häuser sind uralt und sehr sonderbar, nach eigenartigen, unbegreiflichen Plänen gebaut. Deutlich ersichtlich ist nur, daß sich hartnäckige Individualisten hier die Freiheit genommen haben, einfach draufloszubauen, jeder nach seinem Kopf, wie es ihnen paßte. Das Resultat der Phantasien und Wunschträume dieser Bauherren ist sehr mannigfaltig und keineswegs langweilig. Allein die vier Gassenecken bieten erstaunliche Beispiele. An der einen Ecke erhebt sich ein Haus wie ein [259] Burgturm. Gerade gegenüber liegt eine winzige eingeschrumpfte Schöpfung, die auf den ersten Blick an eine mißglückte Retirade erinnert. Ein rätselhafter kleiner Kasten, ohne Fenster, schweigend und scheinbar unbewohnt, düster wie eine alte Folterkammer. Ein Rätsel – unbestimmbar. An der dritten Ecke stehe ich am Fenster und sehe mir diese merkwürdige Welt an. Die vierte und letzte Ecke hat den Bauch so weit eingezogen, daß da noch ein kleiner freier Platz übrig geblieben ist. Und dann sehe ich auf einmal die Inschrift auf der Hausmauer schräg gegenüber. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Es ist keine Täuschung, ich habe richtig gelesen. Es steht sogar mit halbmetergroßen Buchstaben da:
PIAZZA DI MATT – Platz der Verrückten!
Bin ich besoffen oder bin ich verrückt? Ich glaube, mich auf meine Augen verlassen zu können, aber nicht auf meine Kenntnisse der italienischen Sprache. Darum beeile ich mich, aus dem Haus zu kommen und einen meiner Freunde von der letzten Nacht zu erwischen. Und ihn frage ich: »Stimmt das – Platz der Verrückten?«
»Selbstverständlich«, antwortet er.
»Na, das paßt ja ausgezeichnet, dann wohne ich doch auf dem richtigen Fleck«, sage ich.
»Natürlich«, meint er mit dem herzlichsten Lächeln und erzählt mir die ganze Geschichte des Platzes.
Piazza di Matt ist ein Begriff für Novaggio, der Kern, charakteristisch für dieses Dorf. Dort befindet sich die liebenswürdigste Sammlung wunderlicher Persönlichkeiten. Und das konnte mir keiner besser erklären als Novaggios Dichterin, la poetessa Armida Demarta. Sie hat ein herrliches Gedicht auf den 'Platz der Verrückten' geschrieben. [260; Zeichnung]

PIAZZA DI MATT
L'è'n titul un poo strambo,
E a diserii sicür:
Chi ével chél bambo
O' ha scricc sü chi parol li in sur mür?
Piazza di matt:
Ogni èser un uriginâl
Un mes-cioeuzz de filosuf, petégul e ciucatt,
Ur titul èl mia assee nurmâl?
Und das ganze Gedicht sieht frei übersetzt folgendermaßen aus:
PLATZ DER VERRÜCKTEN
Ein seltsamer Titel,
Werdet ihr denken:
Wer war wohl dieser komische Kauz,
Der diese Worte hier auf die Mauer schrieb?
Platz der Verrückten:
Jedes Wesen ein Original,
Ein Durcheinander von Philosophen, Klatschweibern und Trinkern,
Der Titel, ist er nicht mehr als normal?
Aus einer Tür schleppt sich die 'Parüsciora',
Eine sympathische und rundliche Frau.
Ich erinnere mich, daß, wenn ich abends den Platz überquerte,
Sie mir scherzend zurief: »Gehst mit dem Schatz?«Sie ist der Hausgeist des Meneghin
Sie hat rebellisch verstrubelte Haare,
Seines Zeichens 'Direktor' des Konsumvereins. [262]
Hier nennen ihn alle 'Lenin',
Und das ist für ihn eine große Ehre.
Die nächste Tür ist geschlossen,
Hier wohnte die Teresa.
Eine alte Frau, immer fröhlich und sorglos.
Jetzt liegt sie bei der Kirche
Und schläft ihren letzten Schlaf.
Ihre müden, abgeplagten Beine fanden endlich die verdiente Ruhe.
Etwas weiter oben befindet sich ein kleiner Raum,
Der bis in den Herbst zu schlafen scheint.
Dann aber sieht man durch das Fenster
Ein klein bißchen Rauch entweichen –
Kein Zweifel, da wird 'Grapa' gebrannt,
Ruhelos, Tag und Nacht,
Herrscht ein emsiges Kommen und Gehen und fortwährendes Probieren,
Und am frühen Morgen sieht man manchen mit müden Augen und schwachen Knien!
Die 'Piscek', pensionierte Lehrerin,
Eine ältere Jungfrau mit verschämtem Getue,
Und mit noch einigen Illusionen,
Wirklich ein origineller Typ!
Eine Brille der letzten Schöpfung,
Die Kleider sind in steter Unordnung
Und die Strümpfe baumeln ihr um die Beine.
Die Ginevra und der Macin
Sind ein fröhliches altes Paar, [263]
Sie ist ein liebes Frauchen,
Und er verliebt in seine Lena.
Er ist der Philosoph des Platzes der Verrückten,
Voller Witz und Poesie.
Er verehrt die Tiere, besonders seine Katzen,
Er ist Maler und König der Verse.
La Neta ist ein Frauchen,
Ganz Haut und Knochen.
Sie lebt nur für ihren Pepin,
Einen großen, kräftigen Mann.
Ihre ganze Arbeit besteht darin,
In stetem Laufschritt
Von einem Laden zum anderen zu rennen
Und für fünf Rappen Konserven und einen Liter Wein zu kaufen.
Da wäre auch noch die Iva und der Beli,
Die ab und zu zu streiten pflegen.
Und dann auch die Fiora und der Titi,
Die ein ganzes Nest voll Kinder haben.
Urteilt nun selbst und ohne Ironie
Und laßt die Benennung stehen, auch wenn sie etwas ausgefallen scheint;
In all diesen Leuten steckt viel Poesie,
Dem ironischen Typ ziehe ich den gefühlvollen vor.
Ja, da hätten wir sie also, alle diese netten Sonderlinge vom Platz der Verrückten. Und dort wohne ich, mittendrin, und habe die Ehre, der Nachbar des El Macin zu sein, des Philosophen, Malers und Königs der Verse, und von ihm zu seinem selbstgebrannten Branntwein eingeladen zu [264] werden. Was kann man mehr verlangen? Und doch, ich wünschte, daß ich seine berühmte Ferkeltaufe miterlebt hätte.
El Macin konnte es nicht lassen, den katholischen Geistlichen des Dorfes, Don Fernando zu nennen. Vielleicht kann man auch sagen, El Macin liebt und schätzt die Tiere all zu sehr. Denn als er einmal zeitig im Frühjahr ein kleines Ferkelchen bekam, beschloß El Macin, das Schweinchen zu taufen. Es sollte ein Fest werden. El Macin liebt Festlichkeiten, zu jeder Zeit, das ganze Jahr hindurch. Für die Ferkeltaufe hatte er die Kinder des Dorfes zu Limonade und Kuchen eingeladen. Alle kamen, es wurde ein großes Fest. Das Schweinchen hatte eine knallrote Seidenschleife um den Hals bekommen, und El Macin vollzog die allerniedlichste und rührend poetische Taufzeremonie. Er hielt eine Rede über dieses kleine süße rosarote Ferkelchen, das rein und unschuldsvoll sein schnaufendes Dasein in dieser sündigen Welt begann, um dereinst Opfer der sündigen Menschen zu werden, für sie sein Leben lassen zu müssen, um ihnen sein Blut und Fleisch zu geben.
Es war ein wohlgelungenes Fest. Aber der Pater Don Fernando hatte eine andere Auffassung davon. Er hielt an dem darauffolgenden Sonntag eine Donnerpredigt in der Kirche und ließ auf den Täufer vom Piazza di Matt Feuer und Schwefel herabregnen. Ganz gewiß ist Novaggio im allgemeinen ein katholisches Dorf, aber im besonderen scheint man der Auffassung zu huldigen: daß die reichlich vorhandenen Möglichkeiten der Sündenvergebung schließlich auch ein bißchen Sündhaftigkeit erfordern. Und übrigens, worin bestand die Sünde im Grunde genommen? Wenn man es recht besah, so war doch niemand verunglimpft wor-[265]den. Ganz im Gegenteil! Hatte El Macin sich vielleicht nicht liebevoll um alles bemüht und sich in allerliebenswürdigster Weise der Kinder und der Tiere angenommen? Es war, als ob sich nun langsam ein Glorienschein von Frieden und leuchtender Liebe um das Haupt des vollkommen unberührten El Macin legte. Wenn schon von Sünde die Rede sein sollte, dann waren sie letzten Endes doch allesamt Sünder, sie alle im Dorf. Waren sie es etwa nicht, die in den Gassen kicherten und klatschten und im schützenden Dunkel der Steinportale so laut grinsten, daß es unter den Wölbungen kullernde Echos gab, weil sie nun mal so albern eingerichtet waren und sowohl El Macins sprudelnden Humor als auch Don Fernandos großartig dramatischen Auftritt in der Kirche zu schätzen wußten, der ihm so eine gute Gelegenheit zum Brillieren gegeben hatte. Du lieber Gott, das ganze Dorf konnte das Urkomische darin erkennen, und Novaggio kann nun mal alles andere vertragen, nur keine Langeweile. Und ist das vielleicht Sünde?
Während diese ganze Geschichte noch frisch in Erinnerung war, ging El Macin friedlich und erhaben wie ein Heiliger in den schmalen Gassen des Dorfes umher und grüßte freundlich und lächelnd nach allen Seiten. Ein großes schwarzes Schaf folgte ihm treu wie ein Hund auf seinen Spaziergängen. Selbst der Pater Don Fernando hätte gegen diesen unschuldigen Aufzug nichts einwenden können. Aber dann geschah es, daß El Macin sich ab und zu nach seinem langsam hinter ihm her trödelnden schwarzen Schaf umdrehte und rief: »Nando, Nando, komm nun, Nando!« Abermals hatte der Philosoph vom Piazza di Matt das Gelächter auf seiner Seite.
Man sagt, zu jener Zeit wären zornige Predigten in der [266] Kirche gehalten worden. Es wurde Herbst und der Winter näherte sich, die Zeit des Schweinebratens rückte heran, und El Macin schloß die irdische Wanderung seines inzwischen rund und fett gewordenen Schweines mit einem Abschiedsfest und einigen Worten über das tragische Ende des unschuldigen Wesens, dessen Blut und Fleisch nun in uns Menschen auferstehen würde. Das letzte Wort dazu soll dann am folgenden Sonntag von der Kanzel zu hören gewesen sein.
Aber sowohl El Macin als auch Novaggio und seine Piazza di Matt existieren beständig unangefochten und in unschuldiger Erwartung der festlichen Tage und munteren Stunden, die kommende Zeiten mit sich bringen werden. Natürlich kann man immer selbst etwas nachhelfen, um die Feiertage des Jahres gebührend zu vermehren. Was Novaggio auch keinesfalls unterläßt. In jedem Frühjahr veranstaltet das Dorf seinen großen Risotto-Schmaus. Lange Zeit im voraus fahren sie herum und sammeln dazu ein. Jeder gibt nach Möglichkeit: Reis oder Fett oder Fleisch oder Olivenöl oder Wein. Es heißt, daß die Wein-Einsammler nach vollbrachtem Tagewerk ganz besonders lustig und seliger Stimmung sein sollen. Und dann beginnt das Fest, das mehrere Tage andauert. Tische und Bänke stehen unter freiem Himmel auf dem Kirchplatz, unter der warmen Frühlingssonne des Südens. Alt und jung, arm und reich, das ganze Dorf sitzt dann gemeinschaftlich beisammen beim Risotto-Essen. Sie speisen und trinken drauflos, sie singen und tanzen. Novaggio versteht zu feiern.
Drum hat Novaggio auch nicht die uralte Sitte vergessen, daß ein Mann von einem fremden Dorf, der ein Mädchen aus Novaggio zur Braut haben will, sie freikaufen muß. [267]
Die Wege werden gesperrt, und der Fremde muß bezahlen, wenn er mit seiner Braut das Dorf verlassen will. Das Geld wird umgehend für einen Extrafeiertag in Novaggio verwendet. Dagegen brauchen fremde Mädchen, die sich einen Mann aus Novaggio holen, nichts für ihn zu bezahlen. Sie bekommen ihn vollständig gratis. Raus mit ihm!
Selbst die Natur kann es sich nicht verkneifen und muß sich in Novaggio einen besonderen Scherz erlauben. Sie ließ oben auf dem Kirchturm einen Baum wachsen, der grünt und gedeiht. Und gleich hinter der Kirche gibt es eine andere Merkwürdigkeit. Eines Tages treffe ich bei der Kirche eine schwarze Schar, katholische Geistliche, auf einem Ausflug nach Novaggio. Da sind drei oder vier fertige, behäbige Priester, und mit sich führen sie ein ganzes Priesterseminar von jungen Bengeln in schwarzen Röcken, Lehrlinge der Priesterzunft. Sie besichtigen die Kirche von innen und von außen. Die jungen Kerle haben die würdigen Bewegungen in den langen Röcken noch nicht richtig erlernt und flattern wie eine Schar schwarzer Hühner vor der Kirche herum. Jetzt sind sie hinter der Kirche, wo sich ein freier Platz öffnet und die Kirchenmauer an den Bau des Gemeindekontors grenzt. Da entdecken sie eine feine und große Bronzetafel, und sammeln sich wieder zu einem schwarzen Klumpen und lesen eifrig die Inschrift, schnurren plötzlich erschrocken herum und flüchten panikartig zum Kirchenportal zurück. Denn auf der Bronzetafel steht geschrieben, dieser Platz hinter der Kirche in Novaggio sei Piazza Francisco Ferrer benannt, zum Gedenken an den Mann, der für den freien Schulunterricht kämpfte, der die Schulen von der katholischen Kirchenherrschaft geschieden und befreit haben wollte. Der Ketzer wurde dann auch aus dem Wege ge-[268]räumt, im Jahre 1909 hat man ihn in Barcelona hingerichtet, erschossen. Man konnte seinen Körper vernichten, steht auf der Tafel, aber nicht seinen Geist! Was Novaggio aber besonders mit der Erinnerung an Francisco Ferrer verband, hat mir keiner im Dorf erzählen können.
In einem anderen Winkel des Dorfes kann man plötzlich an der Ecke eines grauen und staubigen Gasseneinschnittes, der lächlerlich bescheiden und nichtssagend ist, eine hochherrschaftliche Marmortafel angebracht finden. Wo die Gasse blind endet, kommt eine Quelle aus dem Berggestein. Da hat man ein Rohr angebracht und einen großen Steintrog druntergestellt. Aber die Quelle gibt nur so hin und wieder mal ein kleines Strählchen von sich. Sie ist eben so neckisch wie alles andere in Novaggio. Doch auf der stolzen Marmortafel steht in feinsten Goldbuchstaben: AL PISSAROTINO. Das wage ich gar nicht zu übersetzen und verweise von vornherein alle diesbezüglichen Anfragen an das jeweilige zuständige Schweizer Konsulat. Ja, in Novaggio hat man Sinn für viele merkwürdige Seiten des Daseins.
Vor allem soll man sich hüten, einem Mann aus Novaggio etwa einen Schlips zu schenken. Das Geschenk würde ziemlich sicher als grobe Beleidigung ausgelegt werden. Denn der Mann aus Novaggio wählt seinen Sonntagsschlips sehr sorgfältig in einer ganz bestimmten Farbennuance, die genauestens der Färbung seiner politischen Überzeugung entspricht. Mein persönliches Problem habe ich praktisch gelöst, indem ich auch Sonntags ohne Schlips gehe – was hier ein sicheres Kennzeichen für Dummköpfe, Narren und Lazzarone ist.
Die Zeit vergeht schnell in dem wunderschönen Novag-[269]gio. Über den Rotwein ist nicht zu klagen. Die Bevölkerung besteht aus den liebenswürdigsten Menschen, die ich jemals getroffen habe, und das Dorf ist voll von seliger Gemütlichkeit. El Macin sitzt im strahlenden Sonnenschein auf der Steintreppe vor seinem Haus, unterhält sich mit seinen geliebten Katzen und bietet mir schon am frühen Vormittag ein Glas Branntwein an. Ach, die Zeit vergeht allzu schnell hier. Einen Tag oder höchstens zwei, hatte ich mir gedacht, um mir Novaggio ein bißchen anzusehen. Den Gedanken habe ich längst aufgegeben. Ich habe vergessen, an die Zeit zu denken. Die Zeit besteht nur noch aus einer unablässig strömenden Folge sonnenglitzernder Tage und heißer Nächte. Aus diesem beneidenswerten Zustand wecken mich eines Tages beunruhigt fragende Briefe von daheim. Sie erkundigen sich, ob ich krank geworden sei oder ob ich mich hier für den Rest meines Lebens niederzulassen gedenke? Und sie beklagen sich über die Schrift in meinen Briefen, die so komplett unleserlich geworden sei und nur noch aus wunderlichen Schnörkeln bestehe. Nachschrift: ob ich etwa Fieber habe?
Zu gleicher Zeit erfahre ich etwas, das zunächst mal eben so unglaublich und verheißungsvoll klingt wie das Märchen vom Schlaraffenland. Meinem Fenster gegenüber liegt doch jenes kleine, dunkle und verstaubte Bauwerk, diese unbestimmbare Kreuzung zwischen einer Folterkammer und einer mißglückten Retirade. Und nun höre ich, daß ich gar nicht einmal so sehr verkehrt geraten habe. Denn in dieses Häuschen ziehen sich die Männer in gewissen Zeiten zu ernster Beschäftigung zurück, und dann kann es unter Umständen auch zur Folterkammer werden. Es ist nämlich dieses kleine Häuschen, das vom ganzen Dorfe gemein-[270]schaftlich als Grapa-Brennerei benützt wird. Grapa – so nennen sie ihren ganz schön kräftigen Branntwein. Jeder Bürger Novaggios hat das Recht, sich jeden Herbst ein bestimmtes Quantum steuerfreien Branntwein zu brennen. Mit dem bestimmten Quantum nimmt man es wohl nicht allzu genau. Schließlich stehen sie nicht unter Aufsicht bei dieser feierlichen Handlung. Und dann kommt also die Zeit der reichlichen Proben. In Novaggio wohnen immerhin einige hundert Menschen, und das bedeutet, daß die Brennerei Tag und Nacht in Betrieb ist. Da ist ein reges Kommen und Gehen, und jeder der dort vorbei muß, wird natürlich zu einer kleinen Kostprobe eingeladen, um das erfolgreiche Resultat zu loben. Zu allen Zeiten des Tages wird dort probiert und geschmeckt, und die Geschmacksproben werden eifrig diskutiert. Bis die Augen schwimmen und die Knie schwach werden.
Und das soll jetzt bald beginnen, in der allernächsten Zeit.
Allein die Vorstellung davon ist überwältigend. Ich sehe es deutlich vor mir, dieses Leben, das sich hier auf der Piazza di Matt entfalten wird. Und plötzlich wird es mir klar, daß diese gewaltige Branntweinbrennerei des gesamten Dorfes sich gerade vor meinem Fenster abspielen wird. Sie können mir also einen Riesenrausch nach dem andern direkt zum Fenster hineinreichen. Und ich zweifle keinen Augenblick daran, daß diese liebenswürdigen Menschen es mit dem größten Vergnügen tun werden. Ja, sie können mich sogar beschwipsen, während ich im Bett liege. Die Leute sind so unglaublich nett hier. Und wer könnte es übers Herz bringen, ihre große Gastfreiheit abzuschlagen und sie zu beleidigen und nicht ihr neues Gebräu zu probieren? Dieser Gedanke gibt den Ausschlag. [271]
In einer wachen Morgenstunde packe ich zusammen und flüchte – erschreckt von der Vorstellung, daß Novaggios Spaßvögel mich auf dem Platz der Verrückten sicher mit ihrer grandiosen Gemütlichkeit um die Ecke bringen würden. [272]