Siegfried Kracauer
Städtische Wärmehalle
Die Natur in ihrer Güte behandelt alle Menschen trotz ihres ungleichen Einkommens gleich, und so müssen bei sinkender Temperatur auch die Armen frieren. Da wir nicht die segensreiche Erfindung des Winterschlafs kennen, sind jetzt vor allem die aus dem Arbeitsprozeß ausgeschalteten Personen in eine schwierige Lage versetzt. Sie empfinden bittere Kälte, ohne die Mittel zu ihrer Abhilfe zu haben. Um die gröbste leibliche Not zu lindern, unterhalten die verschiedenen Berliner Stadtbezirke und auch private Wohltäter Wärmehallen, die vom Oktober bis April in Betrieb sind. Der Gedanke an ihr Vorhandensein mag gerade denen zum Trost gereichen, die in Gegenden mit Zentralheizung wohnen. Übrigens funktionieren noch nicht einmal alle Zentralheizungen richtig; was vermutlich mit dem Zwang zum Sparen und der allgemeinen Verarmung zusammenhängt. Zum Glück werden wir in Bälde ein prächtiges Rundfunkhaus besitzen.
In der Ackerstraße liegt die große Wärmehalle des Wohlfahrtsamts Mitte, die jedermann ohne Ausweis betreten kann. Ursprünglich war sie ein Depot, in dem statt der Menschen Trambahnen aufbewahrt wurden. Man sieht es dem Raum noch heute an. Er hat Oberlicht und enthält lauter sachliche Stützen - eine fachmännische Innenkonstruktion, die der Gleise bedürfte, um vollkommen zu sein.
Wo einst die Wagen geputzt wurden, wimmelt es jetzt von Menschen, die schon lange nicht mehr geblinkt haben. Trübe und Armut sind bis auf weiteres Geschwister. Wieviele Leute sich hier täglich versammeln? "Ungefähr 1800 bis 2500", bedeutet mir der Hallenleiter, ein wohlmeinender Mann, der sein Stammpublikum kennt und mit den Besuchern anscheinend auf gute Art fertig wird. Sie stehen - junge Burschen, Männer und Greise - in Gruppen zusammen, sitzen wie in den Arbeitsnachweisen auf Wartesaalbänken und genießen die Wärme, die eine Voraussetzung nackten Lebens ist, als besondere Wohltat. Gespendet wird sie von einem in der Mitte des Raumes untergebrachten Ofen, dessen Rohr sich beflissen an den Stützen vorbeizieht und rein durch seine unermeßliche Ausdehnung den Hauptzweck der Halle versinnlicht. Die Überdeutlichkeit der Wärmevorrichtung ruft mir jene Ofenanlage ins Gedächtnis zurück, die wir während unserer Militärzeit benutzten, um dünne Kartoffelscheiben zu rösten. An die Kasernen erinnern nicht zuletzt auch die Aborte, deren Türen fehlen, weil man es sonst, wie mein Führer erklärt, vor Geklapper nicht aushalten könnte. In dieser vielbenutzten Örtlichkeit waltet ein Schuhputzer seines Amtes. Eine andere Stube, die an die Halle grenzt, ist der Arbeitsraum des Friseurs. Sein Schönheitssalon unterscheidet sich von denen des Westens nicht nur durch seine billigen Preise - Rasieren 10 Pfennige, Haarschneiden 30 Pfennige -, sondern auch durch den Umstand, daß er ein ausgeräumtes Zimmer ist, in dem die Klienten vor spiegellosen Wänden sitzen. Aber schließlich geht es ja so, und wer wollte gern das eigene Elend bespiegeln?
Der Müßiggang, der sicher auch dort, wo er zwangsweise herrscht, aller Laster Anfang ist, erzeugt ein Geflüster, das die Halle genau so erfüllt wie das Ofenrohr. Aus diesem Raunen heben sich nach und nach immer wiederkehrende Gespräche heraus, die sich auf Rauchwaren, Schule, Sweater und andere Objekte beziehen. Obwohl auf den Wänden geschrieben steht: "Handeln strengstens verboten", wird eben doch in gewissem Umfang gehandelt, und die Verwaltung tut recht daran, daß sie die Leute stillschweigend gewähren läßt. Denn die paar Dinge, die hier von Hand zu Hand gehen, sind schlechterdings lebensnotwendig. Ich habe sie betrachtet, die Zigaretten und Gummisohlen, und es war mir dabei zumute, als hätte ich sie zum ersten Male gesehen. In der Hallenwelt hören sie auf, bloße Waren zu sein, sie werden zu unersetzlichen Gütern, und nichts vermöchte mehr zu rühren als der Schimmer, der ihre Armseligkeit umgibt.
Ausgesteuerte und Leute, die in der Wohlfahrt sind, bilden den Gros. Auch Doktoren sind unter ihnen zu finden, betont der Leiter nicht ohne einen Anflug von Trauer und Stolz...
"Wie leben diese Leute?" erkundige ich mich beim Leiter. "Viele von ihnen", erwidert er, "verbringen hier die Zeit zwischen 7 und 3; solange ist die Halle täglich, auch Sonntags geöffnet. Um 5 Uhr suchen sie das Asyl auf, wo sie schlafen können und verköstigt werden. Das Asyl schließt um 6 Uhr in der Frühe und dann kommen sie wieder zu uns." - - -
Nach einer Pause: "Arbeit zu finden ist schwer. Und wenn sie gefunden wäre, müßten die Leute erst noch eine Zeit lang unterstützt werden, um sich wieder um ein menschenwürdiges Dasein zu gewöhnen."
Geboten wird den Besuchern ein halber Liter Kaffee für 5 Pfennige und vier Brötchen zu 10 Pfennigen. Eine Kostprobe überzeugt mich davon, daß der Kaffee anständig schmeckt. Die mehr geistigen Ansprüche werden durch einen Radioapparat und eine Bibliothek zu befriedigen gesucht. Das Lesebedürfnis soll kurioserweise an den eigentlichen Sonntagen größer sein als an den werktägigen; vielleicht aus dem Wunsch heraus, die Erinnerung an jene Feierzeit zu bannen, die mit dem Einerlei des notgedrungenen Feierns nichts gemein hat. Ich durchstöbere die sogenannte Bibliothek, eine Zufallskollektion abgelegter Werke, die wer weiß wo ihren Weltlauf begann, dann vielleicht in ein Krankenhaus gekommen ist, und nun in einem Schrank von mittlerer Größer ihre letzte Ruhestatt gefunden hat. Sie bestreitet ihre Existenz mit Harbours und Brachvogels, erstreckt sich von den "Quitzows und ihre Zeit" bis zu Anzengruber und erhebt sich in einem Anfall von Übermut zu Knechts Kommentar zur biblischen Geschichte. Am meisten Gewicht haben die pensionierten Zeitschriftenbände von "Nord und Süd" und der "Gartenlaube" aus den achtziger Jahren. Die Unterhaltung, die sie liefern, ist den Interessen der Gegenwart nicht weniger entrückt wie die Halle selber und ihre Besucher.
(Siegfried Kracauer, Wärmehallen, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 46 vom 18.1.1931.)
Hannes Kiebel
Obdachlose in den 20er Jahren in Berlin
- Aus dem dunkelsten Berlin
- Großstadtvagabondage
- "Gute Zeiten für Penner und Schaler"
- In der Pennerkneipe
- Die armen "Warter" von Berlin
- Im städtischen Asyl für Obdachlose
Auch Obdachlosigkeit hat ihre eigene Geschichte. Landstreicher, Vagabunden, Tippelbrüder nannten sich die "Vorfahren" unserer heutigen Berber - und es ist erschreckend, wie sehr Bilder der 20er Jahre denen unserer Zeit ähneln. Hannes Kiebel aus Bochum beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte der Obdachlosigkeit. Für Asphalt griff er für diese collagierten Gedanken tief in sein umfangreiches Archiv:
Aus dem dunkelsten Berlin
Karin Kerner und Klaus Trappmann erzählen zum Januar 1927 eine Geschichte: "Es kommen die "Glücksritter" vom Land am Schlesischen Bahnhof an. Harry S., 40 Jahre alt, arbeitslos, verläßt den Zug. Er kennt sich aus. Zielsicher geht er die Breslauer Straße entlang, über den Holzmarkt in der Alexanderstraße zur "Kruke", der Wärmehalle am Alexanderplatz. Die "Kruke" ist überfüllt. Nach zwei Stunden Wartezeit wird er eingelassen. Obwohl offiziell verboten, wird in de Halle reger Handel getrieben: Stullen, Kleidungsstücke, Gegenstände aller Art, erbettelt oder geklaut, werden verhökert oder getauscht. In einem spiegellosen Raum schneidet ein Frisör die Haare billig, in einer Ecke wienert ein Schuhputzer denen, die noch etwas auf sich halten, die Schuhe. Tips werden gegeben, die neuesten Informationen über das städtische Asyl, die "Palme", ausgetauscht. Harry S. macht sich auf den Weg. Vom " Alex " die Prenzlauer Allee entlang, kommt er direkt zu "Fröbels Festsälen" in der Fröbelstraße. Das Obdach ist überfüllt. Sie schicken ihn in die "Wiesenburg". Die Stadt hat mit dem "Berliner Asylverein" einen Nutzungsvertrag.
Großstadtvagabondage
Aus den persönlichen Erlebnissen erfahren wir, von Georg Eck, daß er zerschlagen und müde sich durch die endlosen StraBen vom Westen nach dem Nordosten von Berlin schleppte. "Es ist Abend geworden. Am Alexanderplatz biege ich nach Norden ab. Die Prenzlauer Allee liegt fast leblos, von einer Kette spärlicher Lichter erhellt. Ich steige mühsam, von übermäßiger Wanderung erschöpft, die Straße bergan. Da plötzlich flammt in riesigen Leuchtbuchstaben ein Wort am Nachthimmel auf, über mageren Mietskasernen, halbzerfallenen Schuppen, Scheunen, Budiken, Kaschemmen leuchtetes strahlend: "Elysium". Elysium, Gefilde der Glücklichen! Hier ist es der Name eines Kinos, gleisnerische Lockung geschickter Unternehmer; aber wer vermöchte in dieser Hölle ohne ein solches eingebildetes Himmelreich, ohne die Vortäuschung eines Glückes leben? Ich bin am Ziele. Hinter dem Kinopalast erhebt sich dunkel, von jenem verschönenden Lichtschein nicht mehr getroffen, das Asyl für Obdachlose, die Palme. Augen, die gewohnt sind, nach Steckbriefen zu vergleichen, mustern mich scharf. Beamte in weißen Kitteln notieren meine Personalien, untersuchen meine Papiere. Ich vermag mich kaum auf den Füßen zu halten. Endlich, endlich öffnet sich mir ein hoher halbdunkler Schlafsaal, eine Luft, verbraucht und von dem Gestank beizender Desinfektionsmittel erfüllt, nimmt mir einen Augenblick den Atem. Ich suche mir eine freie Pritsche und sinke hin."
"Gute Zeiten für Penner und Schaler"
Die Obdachlosen haben "gute Zeit". Das Wetter gestattet ihnen, ab und zu im Freien zu schlafen, wenn es nicht gerade regnet. In solchen Fällen muß dann das Versäumte am Tage nachgeholt werden. Da es verboten ist, nachts in Parks und Anlagen zu schlafen, so sieht man heute täglich auf den Banken der Anlagen übermüdete Obdachlose schlafen. Die göttliche Weltordnung will es, daß einerseits die Proleten in engen Löchern eingepfercht sind, aber auf Straßen und Plätzen kampieren müssen. Auch für die sogenannten "Schaler" sind die Sommermonate eine "segensreiche Zeit". Ist doch ihnen jetzt die Gelegenheit gegeben, aus den Abfällen der Markthallen, oder aus den Überresten der Wochenmärkte etwas Brauchbares herauszusuchen. In den verdorbenen Tomaten, die manchmal korbweise weggeworfen werden, ist manchmal eine brauchbare zu finden, die nach Entfernung der faulen Stelle noch als Brotbelag dienen kann. Ein besonderes Glück ist es, wenn unter den Blumenkohlblättern plötzlich ein kleines Köpfchen unverfaulter Blumenkohl gefunden wird. In der Markthalle Andreasstraße und in der Zentralmarkthalle gibt es eine Reihe verschiedener Frauen und Männer, die ihr Gemüse restlos aus den Abfällen heraussuchen.
In der Pennerkneipe
In einer Oktobernacht 1926 erfahren zwei Journalisten folgende Situation: "Zum Beginn einer regnerischen Nacht treten wir in eins dieser sogenannten "Pennerlokale" des Prenzlauer Bezirks. Zunächst befinden wir uns im Schankraum. Junge Burschen mit Elendsgesichtern stehen vor der Theke; hier und dort steht ein Glas Bier, zu dem der letzte Groschen noch reicht, aber das jüngere Leben ist nur eine Attrappe dieses Lokals. Schon in dem Vorraume in der Ecke an kleinen Tischen sehen wir ältere Männer im dürftigsten Aufzuge. Lumpen hängen an ihren Leibern herab. Schmutziges Haar sprießt aus Kinn und Backe. In den geröteten Augenhöhlen liegt jener geschwächte, elendsergebene Blick, jene toten Augen, die ein furchtbarer Ausdruck für das Schicksal dieser Menschen sind. Alles ist nur ein Vorspiel! Durch eine zweite Tür treten wir hinein in einen halbdunklen Raum, der von der unangenehmen Wärme ausgedunsteter Körper erfüllt ist. In der Mitte ein Tisch. Über das harte Holz geworfen, dicht nebeneinander die Körper von Schlafenden. Oder auch auf dem Stuhl sitzend, schnarchen einzelne in bleiernem Schlaf. Hier und da ein Mädchen in zerrissenen Kleidern, das sich schlafend gegen die Schulter eines Armutsgenossen lehnt.
Aber weit zahlreicher sind gealterte Frauen, die hier den Rest ihrer schweren Tage verbringen. Gähnend erwacht dieser oder jener und schaut uns mit schlaftrunkenen, wässerigen Blicken an. Was stört ihr hier unsere dürftige Ruhe? Komrnt ihr aus jener Welt der satten Zufriedenheit, dann verschwindet schnell von der Bildfläche! Gehört ihr zu uns, dann reiht euch schweigend in die Elendsgarde ein!"
Die armen "Warter" von Berlin
Aus den Endzwanziger Jahren werden unmögliche Zustände in den Wartesälen der Berliner Bahnhöfe gemeldet. Die Wartesäle der III. und IV. Klasse enthalten alle den gleichen Typ des Gelegenheitsreisenden: Männer und Frauen der ärmeren und ärmsten Bevölkerungsschichten, die ein ganz dringender Grund zur Reise veranlaßt hat, die sich auf dem Wege zu einer neuen Arbeitsstätte befinden und daher mit Kind und Kegel, Hab und Gut erschienen sind. Überall auf den Bänken Schlafende. Für den ganzen Raum eine einzige Lampe, so daß der Hintergrund vollständig dunkel ist. Wer keine Fahrkarte hat, muß den Raum verlassen.
Im städtischen Asyl für Obdachlose
1927, es ist halb vier, die Stunde, in der die "Palme" geöffnet wird. Eine Pyramide von Emaillenäpfen, abgestoßen; wer vor sieben da ist, bekommt einen halben Liter Schleimsuppe, morgens jeder 3/4 Liter und I/7 Brot. In den Schlafsalen stehen je 60 schmale Bettstellen aus Eisendraht, je zwei und zwei aneinander, dazwischen ein schmaler Gang zur Wand. Jeder bekommt zur Nacht eine Wolldecke, nichts weiter. Matratzen, Kopfkissen, waren ja nicht sauber zu halten. Die Decken werden täglich desinfiziert. (Bericht einer Fürsorgerin)
Quellen zum Beitrag gibt es bei
Hannes Kiebel
Girondelle 8
Bochum
aus: Asphalt - Magazin. Auf Straßen und Plätzen. Nr. 13 vom September '95. Hannover 1995, S. 32 - 33.
Georg Eck
Großstadtvagabondage.
I.
Wenn man, aus dem Westen Deutschlands kommend, in Berlin Bleibe für die Nacht sucht, weist einen schon der Polizeibeamte in Halensee nach der Fröbelstraße. Zerschlagen und müde schleppt man sich durch die endlosen Straßen, und doch, so stumpf man auch ist, dieser Querschnitt vom Westen nach dem Nordosten enthüllt einem langsam das ganze Wesen der Stadt.
Berlin lebt. Ein Organismus, dessen Stoffwechsel ausgezeichnet funktioniert, dem es nicht darauf ankommt, daß einige nebensächliche Glieder verkümmern, verkommen, absterben, denn andere, reichere bilden sich neu und wachsen.
Im Villenviertel verhaltener Reichtum, überlegene Vornehmheit, das Gewissen mit Kunst und gutem Geschmack beruhigt. In den luxuriösen Geschäftsgegenden sinnlose, schreiende, schamlose Pracht, Gegenden, die fortwährend ihr Gesicht verändern, unermüdlich im Erfinden neuer raffinierter Arten der Verschwendung, dem Zeichen letzter Verantwortungslosigkeit vor allem, was Mensch heißt. In jenen grauen Vierteln aber, die seit Jahrzehnten einer zermürbten Masse dasselbe trostlose Antlitz zeigt, verändert sich nichts. Die Not hält die Zügel straff, sie gestattet keine freundliche Abwechslung, grau in grau wie das Bild der Straße ist das Leben ihrer Bewohner. Der Tod ist der einzige erlösende Wechsel.
Es ist Abend geworden. Am Alexanderplatz biege ich nach Norden ab. Die Prenzlauer Allee liegt fast leblos, von einer Kette spärlicher Lichter erhellt. Ich steige mühsam, von übermäßiger Wanderung erschöpft, die Straße bergan. Da plötzlich flammt in riesigen Leuchtbuchstaben ein Wort am Nachthimmel auf, über mageren Mietkasernen, halbzerfallenen Schuppen, Scheunen, Budiken, Kaschemmen leuchtet es strahlend: "Elysium".
Elysium, Gefilde der Glücklichen! Hier ist es der Name eines Kinos, gleißnerische Lockung geschickter Unternehmer; aber wer vermöchte in dieser Hölle ohne ein solches eingebildetes Himmelreich, ohne die Vortäuschung eines Glückes zu leben?
Ich bin am Ziele. Hinter dem Kinopalast erhebt sich dunkel, von jenem verschönerden Lichtschein nicht mehr getroffen, das Asyl für Obdachlose, die Palme.
Augen, die gewohnt sind nach Steckbriefen zu vergleichen, mustern mich schaft. Beamte in weißen Kitteln notieren meine Personalien, untersuchen meine Papiere. Ich vermag mich kaum auf den Füßen zu halten. Endlich, endlich öffnet sich mir ein hoher, halbdunkler Schlafsaal, eine Luft, verbraucht und von dem Gestank beizender Desinfektionsmittel erfüllt, nimmt mir einen Augenblick den Atem, ich suche mir eine freie Pritsche und sinke hin.
Mit geschlossenen Lidern fühle ich den Raum: kahl, trostlos, leer, eine Gefängniszelle müßte heimischer sein. Im Einschalfen höre ich das Schnarchen der anderen, einige singen, manche fluchen, neben mir wird eindringlich und leise eine Unterhaltung geführt.
Wirre Bilder der Großstadt springen mir durch den Kopf, von Autohupen zerrissen, dann wird es stumm.
II.
Am Morgen um 6 Uhr werden wir geweckt. Durch die kleinen Fenster hoch oben fällt der kalte fade Schein des Novembermorgens. Es gibt Suppe und ein Stück Brot, dann: "Nu aber raus."
Dann stehen wir, ein verschlafener, unentschlossener Haufen im kalten Morgenwind in der Fröbelstraße. Was weiter?
Ich bin mit der Absicht nach Berlin gekommen, zu arbeiten. Gleichgültig ws, Berlin ist groß, ich bin jung und zu manchen Dingen geschickt. Aber jetzt, da ich hier bin, merke ich, wie schwer es ist. Wer von diesen Männern möchte nicht arbeiten, tauschte nicht die elendeste Schlafstelle gegen diese Nächte in Herbergen und Asylen?
Nach Tagen unerhörtester Bemühungen, Tagen, an denen ich nichts anderes zu essen hatte, als morgens und abends die Schüssel Suppe im Asyl, nach unzähligen Niederlagen, nutzlos gelaufenen Wegen, Entmutigungen, Demütigungen, bin ich nun - Zeitungshändler. Mittags stehe ich mit der "B.Z." in der Jägerstraße, abends mit der "Vossischen Zeitung" am Primuspalast. Von 12 Uhr mittags bis 1 Uhr nachts macht 13 Stunden, ich erhalte dafür eine Mark fünfzig. Ich kann es mir leisten, für eine halbe Mark in der Heilsarmee zu schlafen und für fünfundzwanzig Pfennig in der Volksküche zu speisen. Wenn meine Einkünfte steigen, kann ich mir eine Schlafstelle mieten. Ich bin glücklich.
Heute, nach kaum vierzehn Tagen, hat man mir keine Zeitungen mehr gegeben, es war nur eine Aushilfsstellung. Jemand war erkrankt und ist nun wiedergekommen. Ich habe mir zwei Mark achtzig gespart.
III.
Im Osten Berlins hat man auf einer Brücke der Heiligen Gertrud, der Schutzpatronin der Landsteicher, ein Standbild errichtet. Sie ist abgebildet, wie sie einem abgerissenen Kerl ein Stück Brot zusteckt, aber das ist eine Lüge, sie steckt niemandem etwas zu. Obwohl es ihre Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß ihre Schutzbefohlenen etwas zu beißen haben und nicht erfrieren, funktioniert ihre vom himmlischen Vater eingerichtete Wohlfahrtsstelle ebenso wenig wie die des Magistrats. Es ist nichts mit Berlin.
Wie war der Vagabundensommer auf dem Lande herrlich! Beim Bauer gabs Arbeit, die Kleinstädter sind gutmütig; wie gut schläft es sich in den Feldscheunen oder im Korn. Die weißen Landstraßen, in deren warmen Staub es sich barfuß gut trabt, die kühlen Waldwege, die Teiche, in denen man badet.
Freichlich, es ist alles nichts gegen Arbeithaben, Geldverdienen, Menschsein. Wie würde ich arbeiten für Sattessen und ein sauberes Hemd, wie in schwarzer Bude schuften für einen Abend mit Freunden im Wirtshausgarten! Ich bin ein tüchtiger Schlosser und möchte arbeiten!
Georg Eck
(aus: Vorwärts, Berlin, 23.05.1925; Nr. 241)
PAUL GRULICH
DÄMON BERLIN
Der Maler Paul Grulich zog ohne irgendwelche Mittel 4 Wochen lang durch Berlin. Oftmals wird seine Situation so bedrohlich, daß er aufzugeben gedenkt. Er erlebt an seiner eigenen Person das Schicksal der Obdachlosen. Nur so ist die Dichte und Unmittelbarkeit seines Berichtes zu erklären. Seine Beschreibungen des Hungers, der Kälte, des Regens, der schwierigen Arbeitssuche, der ausgesprochen schlechten Arbeitsbedingungen stehen in einem bezeichnenden Kontrast zu den Darstellungen C. Liebichs und Fr. v. Bodelschwinghs.
Donnerstag, den 20. September
(...) Ich lief noch ein wenig herum und fragte mich dann geraden Weges nach der Fröbelstraße durch, wo, wie ich inzwischen erfahren, das städtische Obdach liegt. Das Haus war unschwer zu erkennen. Der Menschenstrom, der sich zu ihm hinbewegte, würde mir überdies seine Bestimmung sicher verraten haben. Alte und Junge, Lahme und Aufrechte, Ansehnliche und bitter Häßliche, aber alle gestempelt mit dem untrüglichen Zeichen der Not und des Hungers. Neben mir humpelte ein uraltes Männchen mit einer grünen, verschossenen Mütze und einem völlig ausgeblichenen Kittel. Der Alte schien Bescheid zu wissen. Als wenn er hineingehörte, ging er in das Haus, dann einen Gang hinunter, durch eine Türe in ein großes, viereckiges Gemach, an dessen Wänden Bänke entlang liefen. Ich hielt mich an des Alten Seite und fragte ihn nach dem und jenem. Dies sei ein Wartesaal, erklärte er mir, wo wir bis sieben verweilen müßten. Dann gäbe es ein gemeinsames warmes Brausebad. So war also noch ein wenig Zeit, meine neuen Schicksalsgefährten etwas zu mustern, die, etwa fünfundsiebzig an der Zahl, auf den Bänken saßen, oder auch standen und vor sich hinbrüteten. Es wurde kaum ein lautes Wort gesprochen. Die meisten waren stumm; wer etwas zu sagen hatte, sagte es im Flüstertone. Ich hatte den Eindruck, daß sich diese Menschen über den Klang ihrer eigenen Stimmen erschrecken würden. Dazu herrschte, obwohl ein Fenster offen stand, eine furchtbare Luft in dem Raume, die zusammengesetzt war aus den Ausdünstungen nie gewechselter, völlig durchnäßter Kleider und einem fuseligen Alkoholdunst. Die Wände waren, wie ich sah, feucht beschlagen.
Aber was war dieser Anblick im Vergleich zu dem, der sich mir in dem Baderaum offenbarte! Dieses armselige, von Ungeziefer zerfressene Fleisch, gehörte es wirklich menschlichen Leibern? Waren das Gestalten, denen das Bibelwort nachsagt, Sie seien nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen? Diese zermürbte, lederfarbene Haut, diese dürren Arme und Beine, diese Füße, deren Sohlen vielfach offene Wunden bedeckten! Dutzende solcher Menschen standen hier, eng aneinandergepreßt und ließen die "Segnungen" einer zweckmäßigen Körperpflege über sich ergehen. Dieweil das heiße Wasser aus den Brausen auf sie herniederströmte und sie sich seiften, stöhnten und schrien sie laut auf unter dem Schmerz, den die "Segnung" ihren bresthaften Gliedern verursachte. Das alte Männlein, das mein Führer gewesen, hatte ich auch wiedergefunden. Ich sah es im Hemd, in einem Hemd, wie ich es nie zuvor erblickt habe. Es war so zerfetzt, daß es einem grobmaschigen Netz von schmutzigen, grauschwarzen Leinwandstreifen glich. (...)
Im Schlafsaal gab es dann einen Teller Mehlsuppe und ein Stück groben Brotes. Beides war genießbar, aber auch nicht mehr. Als Lagerstatt dienten Holzpritschen mit einer dünnen Drelldecke. Man muß, um der Kälte einigermaßen zu wehren, angekleidet schlafen. Mir fiel auf, daß die meisten die Pritschenfüße in die Stiefel stellten. Auch hier traf man Maßnahmen gegen Diebe. Eine Ironie des Schicksals.
Freitag, den 21. September
Wer jemals eine Nacht auf einer Holzpritsche verbracht hat, kennt den Zustand völliger - körperlicher und geistiger - Zerschlagenheit, in dem man sein Lager des Morgens verläßt. Man ist alles andere eher, als ausgeruht und fühlt förmlich die Einbuße an Lebensenergie, die man während der verhältnismäßig kurzen Zeit erlitten. - Und nun sich sagen zu müssen, daß in Berlin allnächtlich Tausende und Abertausende derart "Ruhe finden" von den qualvollen Kämpfen des Tages, und daß diesen Tausenden und Abertausenden wochen-, monate-, oft auch jahrelang nicht ein einziges Mal eine Schlafstatt beschieden, wie sie jedem versteuerten Hunde zu Teil wird: ist das nicht ein Elend, dessen tragische Größe unser tiefstes Mitleid wachrufen muß! Berlin ist, das weiß ich wohl, stolz auf seine sogenannten Wohlfahrtseinrichtungen, zu deren bedeutendsten mindestens dem Umfange nach - das Asyl für Obdachlose zweifellos zu zählen ist. In diesem Asyl empfindet man nicht, daß es ein Werk der Nächstenliebe ist. Es ist ein großes, weites Haus, das so und so vielen Schutz vor den Unbilden der Nacht gewährt; eine straffe Beamtenorganisation verwaltet es, und es wird niemals etwas Ungesetzliches sich darin ereignen. Die Kälte aber, die in seinen Mauern herrscht, die Disziplin, mit der man die durch harte Entbehrungen willenlos Gemachten zu "königlich-preußischen" oder "städtisch berlinischen Almosenempfängern" drillen will, läßt von den ursprünglich edlen Motiven, aus denen heraus die Anstalt entstanden ist, wenig mehr verspüren. Die Stunden, die ich in dem Asyl durchlebte, sind vielleicht die traurigsten, deren ich mich überhaupt zu erinnern vermag. Obwohl ich einer in jeder Beziehung ungewissen Zukunft entgegenblickte, verließ ich am frühen Morgen das Haus mit dem unerschütterlich festen Vorsatz, nie wieder dorthin zurückzukehren. (...)
Sonnabend, den 22. September
(...) Alles, was recht ist, für ein Asyl macht dieses Haus einen ganz anheimelnden Eindruck. Wenigstens im Vergleich mit dem in der Fröbelstraße. Vor allem die Menschen, die es aufsuchen, stehen, in ihrer sozialen Verkommenheit, um eine Stufe höher als die Besucher der "Palme". Man sieht hier das Elend nicht in so unästhetisch anmutender Form wie dort. Den Leuten, die hier zusammenkommen, merkt man es an, daß sie hie und da einmal satt zu essen und wohl auch mal einen Groschen zu Bier oder einem Päckchen Tabak in der Tasche haben. Auch sind die Kleider weniger zerfetzt, die Gesichter blicken minder stumpfsinnig drein. Das Baden geschieht hier freiwillig; ein Zwang besteht nicht. Die Wäsche wird nicht ohne weiteres desinfiziert, sondern erst, wenn sich der Träger auf Befragen als "verlaust" bekennt. Dem wird dann Befreiung von diesen lästigen Gästen zuteil.
Auch das Essen geschieht hier unter Umständen, die durchaus erträglich sind, selbst für einen, der noch nicht abgebrüht ist. In der "Palme" ist dies nicht der Fall. Hier, in der "Wiesenburg" liegen Eß- und Schlafraum getrennt. Man sitzt auf Bänken an blitzsauber gescheuerten Tischen und hat weder den Eindruck eines Stalles, noch eines Zuchthaussaales. Die Speise selbst ist natürlich etwas dürftig, aber das Gerät ist von so wohliger Reinlichkeit, daß sie sich sogar mit Appetit verzehren läßt. Es gab Reissuppe mit einem derben Stück groben, nahrhaften Brotes; ein Gericht, das sättigte und auch vorhielt. - Um 8 Uhr heißt es, zur Ruhe gehen. Der Schlafsaal ist hoch und geräumig, als Lager dient eine Drahtmatratze, die immerhin etwas weicher ist als eine Holzpritsche, sich wohl auch besser reinigen läßt, und zum Zudecken bekommt jeder zwei Drelldecken. In kalten Nächten, wie dieser, der ich jetzt entgegen ging, muß man schon im Anzug schlafen, sonst weckt das Frostgefühl einen immer wieder auf. Ich streckte mich aus mit dem Gefühl einer gewissen Behaglichkeit, das hervorgerufen wurde durch die Hoffnung, einmal ein paar Stunden wirklich ruhen zu können, und geriet dabei in so gute Laune, daß ich nicht übel Lust hatte, mit meinen Nachbarn zur Rechten und zur Linken ein Gespräch anzufangen. (...)
Sonntag, den 23. und Montag, den 24. September
(...) Gegen sechs Uhr nachmittags langten wir am Gesundbrunnen an und beschlossen, von mehreren Übeln das kleinste zu wählen und nochmals in der "Wiesenburg" zu nächtigen. Als wir im überfüllten Saale unsere Abendmahlzeit verzehrten, hatte ich zum ersten Male Gelegenheit zu bemerken, daß das Asyl von Leuten, die billige Arbeitskräfte brauchen, gewissermaßen als Nachweisstelle benutzt wird. Es trat ein Mann in den Saal und forderte zwanzig Leute zum Kartoffelhacken. Zwölf meldeten sich, obwohl mindestens fünfzig anwesend waren. Ich wäre gern mitgegangen, wenn ich nicht die Wunde am Fuß, die wieder zu schmerzen begann, gehabt hätte. Der Mann fragte noch ein, zwei Mal, es meldete sich aber keiner mehr. Es hatte inzwischen wieder angefangen zu regnen und die Leute zogen es vor, in so furchtbarer Luft auf Drahtmatratzen zu schlafen und am nächsten Tage sich ihr Essen zusammenzubetteln, als bei schlechtem Wetter auf dem Felde zu stehen und gering bezahlte Arbeit zu verrichten. Die Meisten waren wohl auch schon zu schwach dazu, oder die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß es besser ist, ganz im Sumpf zu bleiben, als durch derlei Unterbrechungen längst erstorbene Hoffnungen künstlich neu zu beleben, denen doch fast niemals die Erfüllung folgt. -
Auszug aus dem gleichnamigen Erlebnisbericht von Paul Grulich, Berlin 1907, S.15 ff, S. 22 ff.
Abgedruckt in: Schriftenreihe Wedding e.V. (Hrsg.): Armut und Obdachlosigkeit im Wedding. Berlin 1991, S. 83 - 86. (= Schriftenreihe Wedding, Bd. 2)
Anschrift des Herausgebers: Schriftenreihe Wedding e.V., Utrechter Str. 47, 13347 Berlin, Tel: 030 - 455 40 40 (= Buchhandlung Mackensen)