Stefan Schneider: Volle Fahrt in Schwarzer Nacht. Berlin 2010

Zwangspause. Das größere Boot überholte nicht, sondern ging auf Parallelkurs, und schon kurze Zeit später tönte es aus dem Lautsprecher: "Hier ist die Wasserschutzpolizei, bitte kommen sie längsseits!" Meine Lichterführung sei nicht vorschriftsgemäß, wurde ich belehrt. Ich hatte eine Petroleumlampe ins Rigg gehängt und war mit Motor unterwegs. Es war gegen 23:00 Uhr auf dem Langen See in der Nähe der Regattastrecke. Ich solle also außerhalb des Fahrwassers ankern und am nächsten Tag bei Tageslicht weiter fahren. Vorsichtshalber erkundigte ich mich, was denn passieren würde, wenn ich trotzdem weiter fahren würde. "Dann würden wir einen Vorsatz unterstellen und das hätte ein deutliches Bußgeld zur Folge! Einstweilen würden wir es bei einer Belehrung und Verwarnung belassen.", war die Auskunft. Eigentlich wollte ich noch bis Köpenick, fügte mich aber in mein Schicksal. Und das war besser so. Gegen 01:00 Uhr patrouillierten sie nochmals. So konnte es nicht bleiben. Ich brauchte Positionslichter.

Zeitzonen. Die Sportfreunde im Segelverein sagen auch am Mittag noch freundlich "Guten Morgen!" zu mir und erkundigen sich, ob ich denn gut geschlafen hätte. Vielleicht ist ein ironischer Unterton dabei, aber das interessiert mich nicht. Ich bin Nachtmensch und werde erst in der zweiten Hälfte des Tages wirklich aktiv. Außer an Silvester gehe ich nie vor Mitternacht ins Bett. Und wenn immer es geht, schlafe ich lange, im Urlaub um so mehr. Meine Freundin hat das früher immer persönlich genommen, wenn ich am späten Vormittag noch in der Koje lag und sie bereits mit Frühstück und Zeitungslektüre fertig war und auf mich wartete. Sie dachte, ich liebte sie nicht genug und wolle ihr den Urlaub versauen. Dabei lebten wir nur in unterschiedlichen Zeitzonen, die einige Stunden auseinander lagen. Als wir das eines Tages herausgefunden hatten, kamen wir besser miteinander klar. Ich bin einfach so.

Nach den Plänen und Ratschlägen eines mir bekannten Bootselektrikers verdrahtete ich mein Boot und baute alles ein, was mir wichtig ist. Eine laute Anlage, eine helle Kajütbeleuchtung, Anschlüsse für den Laptop und Steckdosen zum Laden des Handys und vor allem Positionslichter für die Nachtfahrt unter Segeln und unter Motor. Die Kosten des Unternehmens habe ich verdrängt, aber immerhin sind die neuen LED-Positionslichter sparsam in Stromverbrauch und praktisch unzerstörbar. Zusammen mit der Kajütbeleuchtung erweitert sich damit deutlich mein Aktionsradius. Seit dem bin ich sehr viel öfter nachts unterwegs und auch das mühsame Lesen im Lichtkegel der Petroleumlampe hat ein Ende. Mir war gar nicht klar, wie oft in der Saison gerade nachts ein schöner, moderater Wind geht. Und dass mehr Menschen um diese Zeit auf dem Wasser unterwegs sind, als man glauben möchte. Auch der Wasserschutzpolizei bin ich seit dem noch öfters nachts begegnet. Wir grüßen uns immer freundlich.

Wahrschau. Gegen Mittag war ich von Karnin aus Richtung Achterwasser aufgebrochen und stand gegen Sonnenuntergang auf der Höhe Krumminer Wieck. Der Wind war nahezu eingeschlafen und ich hatte Lust, in Wolgast noch etwas essen zu gehen. Für mich war der Weg Neuland, aber die Karte versprach eine herausragend gute Befeuerung des Fahrwassers, und so war es auch. Ich fuhr entspannt unter Motor durch die Nacht. Die übereinander angeordneten Richtfeuer luden ein zum Kurshalten und ihre Anordnung war ebenso sparsam wie effektiv. Immer wieder überprüfte ich meine Position anhand der Karte und erfreute mich an der klaren Wegführung. Plötzlich tauchte vor mir ein Lampenladen auf. Das war aber nicht geplant! Ich stoppte auf. Dieses Ungetüm machte Lärm, bewegte sich, kam offenbar langsam auf mich zu und die eigentlich in der Karte vorgesehene Fahrwasserbegrenzungstonne rot auf Steuerbord war auch nicht zu entdecken. Und der Lampenladen machte Lärm. Ein Seeungeheuer im 21. Jahrhundert – damit hätte ich nicht gerechnet. Ganz vorsichtig näherte ich mich dem Ungetüm, passierte es in großem Abstand und konnte immerhin wahrnehmen, dass es sich um eine Art Bagger handelte. Weil die Wolgaster Brücke gegen 22:30 Uhr nicht mehr öffnen würde, legte und stellte ich zwischendurch nochmal den Mast und freute mich auf einen Döner in Wolgast. Darauf hatte ich nämlich Appetit. Mein Segelkollege Nilson hatte mir auf Anfrage per sms mitgeteilt, dass ich mir wegen Liegeplätzen in Wolgast einen Kopf machen solle, es gäbe genug Auswahl. Ich linste also mit Fernglas und Taschenlampe nach einer Marina und konnte auch eine spärlich ausgeleuchtete wahrnehmen. Etwas Nebel tauchte die ganze Situation in eine unwirkliche Stimmung. Im Dunkeln konnte ich Boote und Bootsstege erkennen, allein die Anordnung war mir noch nicht klar. In langsamer Fahrt näherte ich mich, holte die Festmacheleinen aus den Schapps. Kracks! Schürf! Schreck! Im Reflex schaltete ich den Motor in den Leerlauf, griff zur Taschenlampe, sprang nach vorne. Fixiert auf einen Bootsliegeplatz auf Backbord hatte ich den Ausguck nach Steuerbord völlig vernachlässigt. Aber dort war ein schwimmender Wellenbrecher aus Stahl verankert, den ich touchiert hatte. Kein Wassereinbruch, aber eine fünfzehn Zentimeter lange und fast ein Zentimeter tiefe (!) Katsche am Steuerbordbug. Ein bisschen mehr Schwung, und es hätte ein Loch gegeben. Noch mehr Fahrt, und ich hätte mein Boot in Wolgast versenkt. Welch ein Anfängerfehler! Ich hätte es besser wissen müssen. Fixiere dich niemals auf ein Detail, sondern beachte immer das Ganze. Die ganze Nacht noch war ich wütend auf mich selbst. Und die Dönerbuden in Wolgast waren um diese Zeit auch schon alle zu.

Treibgut. Der Tag in Stettin war einfach gelungen. Ich war im Historischen Museum der Stadt, hatte vom Kirchturm die Aussicht genossen, preisgünstig meine Bordvorräte aufgefüllt, war gut essen, hatte den aktuellen Wetterbericht eingeholt und abends gab es noch ein wunderbares kostenloses Blueskonzert im Innenhof des Schlosses. Dennoch war der Liegeplatz am Kai des Stadthafens alles andere als optimal. Es war einfach zu laut. Der Verkehrslärm von der Brücke nahm kein Ende. Also riss ich den Motor an und machte mich mit ziemlichem Tempo durch den Hafen Stettins auf den Weg zu einer Bucht des nahegelegenen Dabie-Sees. Den Weg kannte ich ja, ich war ja erst am Vortag dort gesegelt, und Stellnetze gab es in diesem Bereich des Dabie-Sees auch keine. Die Lichter der Großstadt hinter mich lassend tauchte ich ein in das Schwarz der Nacht. Hier würde ich gut schlafen können. Bong! Knacks! Dongel! Plötzlich stand das Boot, ich war hellwach. Geistesgegenwärtig drehte ich den Gashebel runter, schaltete auf Leerlauf. Mein Puls schlug wie verrückt. Etwas Schreckliches war passiert. War mein Boot beschädigt? Gab es Wassereinbruch? Würde ich sinken? Niemand würde mir helfen in den nächsten Stunden. Nicht hier, nicht um diese Uhrzeit. Ich war auf einen Baumstamm aufgelaufen. Das Schwert war etwas hoch gedrückt worden, krachte aber nach einem kleinen Ruck wieder in den Bolzen hinein, Risse oder gar ein Wassereinbruch war auch nicht zu verzeichnen. Langsam gewann ich die Fassung zurück, drückte mit dem Boothaken den Baumstamm weg, fuhr rückwärts mit Motorkraft vom Hindernis weg und fuhr mit äußerster Vorsicht weiter, mit meiner Taschenlampe immer nach weiteren Baumstämmen Ausschau haltend, zu meinem Ankerplatz. Dort lag ich noch lange wach.

Die Besichtigung der Kollisionsstelle am nächsten Morgen zeigte ein romantisches Bild. Einige Vögel nutzen den kaum aus dem Wasser hervorragenden Baumstamm als Verweilort. Hatte ich den Baumstamm, als ich hier segelte, einfach nicht wahrgenommen oder war er in der Zwischenzeit angetrieben worden? Egal. Im ganzen großen Dabie-Sees schwimmt irgendwo ein Baumstamm umher und ich muss den vollkant rammen. Ich lächelte und nahm mir vor, in Zukunft etwas genauer das Fahrwasser auszuleuchten.

Sommernachtstraum. Keine Frage, Nachtfahrt – egal ob unter Segeln oder unter Motor – ist ein ganzes Stück weit risikoreicher als Tagfahrt und wird deshalb von vielen Wassersportlern auch vermieden. Die visuelle Wahrnehmung ist deutlich reduziert auf wenige, bisweilen missverständliche und verwirrende Quellen und Reflektionen. Es wird kühler und ungemütlicher an Bord. Wetterbeobachtung ist kaum möglich, Bewölkung, Nebel oder Regen schränken die Sichtverhältnisse zusätzlich ein. Und wenn dann noch Unvorhergesehenes eintritt, können Situationen schnell schwierig werden. Vertrauen erweckend ist die nächtliche Befeuerung, die ganz offensichtlich von Seeleuten für Seeleute gemacht worden ist. Aber auch die ist nicht immer vorhanden oder in sicherem Betrieb. Und gerade nachts ist es wenig wahrscheinlich, dass eine Notsituation von anderen wahrgenommen und erkannt wird oder dass überhaupt Hilfe erreichbar ist. Die von mir geschilderten Situationen wären bei Tag so gar nicht entstanden oder hätten einen anderen Verlauf genommen. Immerhin habe ich nachts einhand mir unbekannte Gewässer befahren. Und schließlich ist Nachtfahrt auch nicht immer und unter allen Umständen sinnvoll. Bei schlechtem Wetter oder bei voraussagbar unübersichtlichen Situation würde ich ohne Not auch gar nicht erst los oder weiter fahren. Vor zwei Jahren auf der Elbe beispielsweise war es für meine Begriffe schlichtweg zu dunkel, um weiter zu segeln. Es gab um meinen Ankerplatz herum nicht eine einzige Lichtquelle, ich hätte beim Segeln schnell mal eine Buhne übersehen können. Dennoch donnerte mitten in der Nacht ein Frachter mit hoher Fahrt talwärts, wahrscheinlich ausgerüstet mit GPS und Radar – Technik, die ich an Bord meines 15er Jollenkreuzers nicht habe. Oder letztens auf dem Stettiner Haff, wo ich mir über die Befeuerung nicht wirklich im Klaren war und auch merkte, dass ein beleuchteter Kompass an Bord sehr nützlich wäre auf diesem großen Gewässer. Ich zog es dann vor, den Hafen von Kamminke anzulaufen, den ich aber erst erreichte, als es schon vollständig dunkel war.

Es sind unvergessliche Momente, in denen ein langer roter Sonnenuntergang übergeht in ein Segelerlebnis in sternenklarer Sommernacht und anschließendem Ankern in einer geschützten Bucht, deren wahre Schönheit sich erst mit dem Licht des kommenden Tages offenbaren wird. Nach einem langen Segeltag in der Einsamkeit der Nacht bei einem schönen nächtlichen Espresso noch ein paar Seiten aus einem guten Buch zu lesen und in der Koje Musik hören, das nenne ich Glück. Vermissen möchte ich diesen immer wieder möglichen Sommernachtstraum jedenfalls nicht mehr.

Stefan Schneider

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