Schneider, Stefan: Wohnungslose sind gesellschaftliche Subjekte. Gesellschaftliche Bedingungen und individuelle Tätigkeiten am Beispiel der Besucher der Wärmestube Warmer Otto in Berlin Moabit. Berlin 1989 (=Diplomarbeit am Fachbereich 22 Erziehungswissenschaften der TU Berlin)

6. DURCHFÜHRUNG DER UNTERSUCHUNG

6.1.     METHODISCHE UND TECHNISCHE ASPEKTE DER UNTERSUCHUNG
6.2.     SUBJEKTIVE ERFAHRUNGEN UND PROBLEME IM FELD
6.3.     DIE WÄRMESTUBE WARMER OTTO IN BERLIN - MOABIT


6. DURCHFÜHRUNG DER UNTERSUCHUNG

6.1. METHODISCHE UND TECHNISCHE ASPEKTE DER UNTERSUCHUNG

Als ich mich mit der Thematik der Situation Wohnungsloser im Herbst 1988 zu befassen beginne, suche ich nach einem praktischen Einstieg, um mit Wohnungslosen in Kontakt zu kommen. Kurt Lindner, Mitarbeiter in der Beratungsstelle für alleinstehende Wohnungslose in der Levetzowstraße in Berlin - Moabit, schlägt mir die Mitarbeit in einer der Berliner Wärmestuben vor.

Mit dem Pädagogenteam der Wärmestube "Warmer Otto" in Berlin - Moabit nehme ich Kontakt auf. Wir vereinbaren, daß ich in der Zeit von Anfang Dezember 1988 bis Ende Februar 1989 regelmäßig mehrmals in der Woche während der ganzen Öffnungszeit im Laden anwesend sein werde. Um eine Rückbindung an das Team zu gewährleisten, nehme ich an den wöchentlichen Teamsitzungen teil und kündige meine Anwesenheit im Laden jeweils ein paar Tage vorher an. Ich bin der "Praktikant", der über seine Erfahrungen im Warmen Otto auch eine Arbeit schreiben wird. Das sage ich gegenüber den Besuchern.

Die Kooperationsbereitschaft des Teams erleichtert mir die Kontaktaufnahme mit den Besuchern des Warmen Otto. Es sind zuerst die beiden Küchenmitarbeiter, Besucher der Wärmestube, die gegen geringes Entgeld sich die in der Küche anfallenden Arbeiten teilen, zu denen ich einen Zugang bekomme. Ich lerne dann bald den "inneren Kreis" der Besucher kennen, die recht regelmäßig die Wärmestube aufsuchen und beim "Schluß machen", dem täglichen Aufräumen und Saubermachen mithelfen.

Ich werde in kleine Arbeiten miteinbezogen, angesprochen, es ergeben sich Gespräche, Besucher fordern mich vereinzelt zum Mitspielen bei Skat, Doppelkopf, Schach auf. Einzelne fragen nach Tabak, ob ich auch "noch 'ne Tasse Kaffee" will oder "ne Stulle".

Recht schnell lerne ich die Namen, unterscheide Gesichter, ordne Begebenheiten, Geschichten und Erzählungen den Personen zu, erkenne Eigenarten wieder. Der Kreis meiner Beziehungen weitet sich rasch aus.

Ich nehme am wöchentlichen Kegeln, am freitaglichen 2. Frühstück für den "inneren Kreis" und anderen Angeboten häufig teil, erledige mit einzelnen Besuchern kleine Besorgungen für den Laden (Brot holen, Film wegbringen usw.) und begegne Besuchern der Wärmestube auch außerhalb des Ladens, vorwiegend auf dem Weg von der U-Bahn in die Wärmestube, vor der nahegelegenen Markthalle, offenbar ein Treffpunkt vieler der Besucher des Warmen Otto, und auf den Straßen Moabits.

Kein Tag gleicht dem anderen. An einigen Tagen ist es sehr ruhig im Warmen Otto, an anderen gibt es Gedränge, weil es sehr kalt ist draußen, weil es Suppe gibt oder aus anderen Gründen.

Ich erlebe mit, wie der Laden vorzeitig geschlossen wird, weil ein betrunkener Besucher den Laden nicht verlassen will, wie der Laden wegen der Mitarbeiter/innensituation nicht geöffnet werden kann, wie Weihnachten gefeiert wird, Skatturniere veranstaltet werden. Ich erlebe weinende Menschen, kranke, betrunkene, aber auch lachende, fröhliche, ausgelassene usw.

Ich schreibe das, um damit die Fülle der Ereignisse, die Faszination eines jeden Tages, den ich im Warmen Otto verbringe, anzudeuten.

Das Hauptinteresse meiner teilnehmenden Beobachtungen orientiert sich an drei Fragen:

  • Was tun die Besucher?
  • Was sagen sie?
  • Was ereignet sich im Laufe des Tages im Warmen Otto?

Die Ergebnisse meiner teilnehmenden Beobachtungen schreibe ich möglichst unmittelbar im Anschluß an meine Anwesenheit im Warmen Otto nieder. Ich erstelle ein Gedächtnisprotokoll.

Zunächst halte ich meine Beobachtungen chronologisch fest. Später, nachdem ich mehr und mehr Besucher persönlich kenne, kommen noch persönliche Zuordnungen dazu. Das Protokollieren nimmt, wie ich sehr schnell feststelle, etwa genausoviel Zeit in Anspruch wie meine Anwesenheit im Laden.

Während des von mir beobachteten Geschehens verzichte ich bewußt auf Aufzeichnungen, Notizen oder gar Fotos, noch arbeite ich mit Tonbandaufzeichnungen. Mit dieser Art des Eingreifens in eine soziale Situation würde ich sicherlich des Handeln und die Gespräche der Besucher des Warmen Otto wesentlich stärker als durch meine bloße Anwesenheit beeinflussen.

6.2. SUBJEKTIVE ERFAHRUNGEN UND PROBLEME IM FELD

Meine ersten Tage im Warmen Otto sind durch Unsicherheiten und Ängste gekennzeichnet: Ein neues und ungewohntes Feld, neue Personen, neue Situationen. Es gibt keine von vorneherein festgelegte Position, kein fest gelegtes "setting" wie in Tests und experimentellen Situationen, auch meine Kenntnisse des Feldes stammen weitgehend aus der Literatur, kaum aus dem eigenen Erfahrungsbereich. Mein Handlungsrepertoire ist für diese neue Situation nicht trainiert.

DEVEREUX vertritt in seinem Buch "Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften" (1976) die These, daß Felderfahrungen Ängste auslösen und diese die Beziehungen des Forschers zur Zielgruppe beeinflussen. Insofern erlebe ich mich auch zunächst angewiesen auf das Wohlwollen der Besucher des Warmen Otto, eine objektiv bestehende und von mir subjektiv empfundene Abhängigkeit von denen, über die ich etwas erfahren möchte.

In dem Maße, wie ich versuche, diese Ängste zur Kenntnis zu nehmen, zu akzeptieren und mich auf sie einzulassen, komme ich mehr und mehr mit Besuchern des Warmen Otto in Kontakt. Der Kontakt entwickelt sich im Laufe der Zeit. Bei mir entwickelt sich eine immer größer werdende Selbstverständlichkeit, mit der ich mich im Laden bewege, aus der heraus ich Kontakte herstelle und gelassener beobachte. Eine große Unterstützung in dieser Zeit ist das immer wieder signalisierte Interesse des Pädagogenteams an mir, meinen Beobachtungen, Erlebnissen und ersten Reflexionen.

Das hilft mir, gibt mir Mut und zwingt mich gleichzeitig, mich zu artikulieren, vorläufige Strukturierungen meiner Beobachtungen vorzunehmen. Widersprüche, Ungereimtheiten, offene Fragen bezüglich meiner teilnehmenden Beobachtungen werden so deutlicher, treten offener zutage.

Je weiter ich mich auf die Dynamik des Feldes, den Alltag im Warmen Otto einlasse, desto mehr erfaßt dies auch mich selbst, meine Position. In der einen Situation bin ich teilnehmender Beobachter, in der anderen Situation beobachtender Teilnehmer des sozialen Geschehens usw.

Im Laufe der Zeit knüpfe ich echte, freundschaftliche Beziehungen zu einigen Besuchern des Warmen Otto, freue mich schon vorher, sie zu sehen, mache mir Sorgen, wenn ich sie nicht treffe, erkundige mich nach ihnen.

Es fällt mir bisweilen schwer, das Ziel der Untersuchung und die eigene Untersucherposition nicht aus den Augen zu verlieren, mich immer wieder aus den praktischen, konkreten gelebten Beziehungen herauszulösen und weiterhin Teile meiner Anwesenheit zur Beobachtung zu verwenden.

Auf der anderen Seite erlebe ich trotz dieser Nähe ein Getrenntsein. Es ist nicht nur, daß ich am Leben der Besucher des Warmen Otto nur in Ausschnitten teilnehme, sondern noch etwas anderes: Ich versuche zu erfassen, zu re-konstruieren, wie es sein kann, wie es ist, ohne Wohnung, ohne eigene Wohnung - in welcher Form auch immer - zu leben, und es geht dabei immer um das Leben und Überleben dieser Menschen, die mir hier und jetzt so nahe sind.

Und ich weiß genau, die warme Wohnung, zu der ich fahren kann, wenn der Laden schließt, mein Zuhause, worauf ich mich durchaus freue in dieser kalten Jahreszeit, diese Tatsache trennt uns real voneinander. Angesichts dieser Tatsache ist alles Erleben ein Erleben aus zweiter Hand. Eben aufgrund dieses trennenden Umstands ist selbst in Anbetracht der Qualität der Selbstversuche von Forschern, etwa von HENKE/ ROHRMANN (1981) oder HOLZACH (1983), keine größere Annäherung möglich.

Ich bin der Überzeugung, daß dieser Einwand bezüglich der Möglichkeit der "Teilnahme" am Leben anderer Menschen - und sei es, um etwas über sie zu erfahren mehr ist als nur eine rein moralische Kategorie. Es ist ein realer, objektiver, erfaßbarer Umstand.

Es ist nicht so, daß ich gleichgültig nach Hause gehe und mich freue über das, was ich heute wieder erforschen konnte. Im Gegenteil: Einmal mehr beschäftigt mich die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten in der bestehenden gesellschaftlichen Realität, meine eigenen Handlungsmöglichkeiten wie auch die der Besucher des Warmen Otto, mit denen ich Tag für Tag konfrontiert bin.

Das ist ein Konflikt, mit dem ich leben muß. Ich kann das Forschungsinteresse nicht trennen von den Situationen und Fragen, die mich über den konkreten Zusammenhang hinaus noch berühren und bewegen.

Ich habe im Moment darauf keine fertige Antwort. Hier ist auch nicht der Ort darauf weiter einzugehen. Andererseits hoffe ich, daß diese Arbeit ein Beitrag dazu leistet, etwas von den Bedingungen, Mechanismen, Funktionen und Interessen offenzulegen, die die individuellen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen bestimmen. Daß diese Arbeit ein Schritt weiter voran ist...

(Ich komme beim Uberarbeiten immer wieder an dieser Stelle zum Stocken, weil das, was ich hier auszudrücken versuche, mich in der Tat bewegt. Ich werte das für mich als ein gutes Zeichen. Ich bin sicher, daß ich weiterkommen werde, um wieder anhalten zu müssen...)

Bevor ich meine teilnehmenden Beobachtungen darstelle, ist noch einiges über die Wärmestube Warmer Otto zu sagen, um zu verdeutlichen, auf welches Feld ich mich beziehe.

6.3. DIE WÄRMESTUBE WARMER OTTO IN BERLIN - MOABIT

6.3.1. DER STADTTEIL BERLIN - MOABIT

Berlin - Tiergarten ist mit einer Einwohnerzahl von 90.000 Menschen einer der kleinsten, aber der am dichtesten bewohnte Bezirk Westberlins. Der Bezirk ist durch den Großen Tiergarten, einer öffentlichen Parkanlage, getrennt in einen südlichen Teil, der von seiner Infrastruktur eng mit dem Bezirk Schöneberg verbunden ist und in einen nördlichen Teil - Moabit. Dort befindet sich auch die Bezirksverwaltung.

Moabit ist eine im Süden von der Spree, sonst von Schiffahrtskanälen umgrenzte, über 18 Brücken zu erreichende "Insel", ein Inselkiez. Es ist Westberlins größter innerstädtischer Industriestandort, ein Handelsumschlagplatz mit den Versorgungszentren Westhafen, dem Fleisch- und Gemüsegroßmarkt sowie zahlreicher "alteingesessener" Industriebetriebe. Daraus ergibt sich, mehr noch als in anderen Berliner "Arbeitervierteln", eine Tradition unfester Arbeitsverhältnisse: Tagelohn-, Saison- und Gelegenheitsarbeiten, Arbeit auf Abruf. In Moabit ist denn auch die Schnellvermittlung vom Arbeitsamt zu finden. Die Arbeitsplätze in Moabit sind nicht nur von konjunkturellen Schwankungen unterworfen, sondern auch zunehmend von den fortwährenden Prozessen der Rationalisierung und Automation betroffen.

In etwa 30 Straßen drängt sich eine große Zahl von öffentlichen Einrichtungen und Anstalten: Gefängnis, Gericht, Polizeistation, Krankenhaus, Kirchen, Parkanlagen usw.

Im Stadtteil überwiegen Altbauten, "wo unter anderem noch typische Wohnhäuser des Zille-Millieus, Stube und Küche mit Außentoilette, an den Bau-Boom der Gründerzeit erinnern" (BAEDELER 1984, 17), von denen ein großer Teil nicht saniert oder modernisiert ist.

Der Ausländeranteil Moabits ist vergleichsweise höher als in vielen anderen Berliner Bezirken (über 20 %), ebenso der Anteil alter Menschen. Hier leben die meisten Sozialhilfeempfänger Berlins (Vgl. SCHOLZ 1987).

Es ist nicht weit von der Berliner Innenstadt: Der Tiergarten und der Bahnhof Zoo sind auch zu Fuß in kurzer Zeit erreichbar.

6.3.2. ENTSTEHUNG DER WÄRMESTUBE

1978 wird aufgrund einer Vorlage des Senats von Berlin (Vgl. ABGEORDNETENHAUS 1977) eine Beratungsstelle für alleinstehende wohnungslose Menschen eingerichtet. Träger der Einrichtung, die sich seit 1980 in der Levetzowstraße 12a in Berlin - Moabit befindet, sind das Diakonische Werk Berlin e.V. und der Caritasverband für Berlin e.V.

Im Winter 1982/1983 richten die Mitarbeiter dieser Beratungsstelle einen Appell an die Diakoniepfarrer Berlins, einen Ort zu schaffen, an dem die alleinstehenden Obdachlosen die kalten Wintertage verbringen können. Vorherige Appelle an den Berliner Senat, eine solche Einrichtung zu errichten, werden nicht beachtet. Einer der Angesprochenen, der Pfarrer der evangelischen Heilandsgemeinde in Berlin - Moabit, reagiert.

In der Ausgabe vom 19.3.1983 berichtet die Berliner Morgenpost:

»Beim 'Warmen Otto' gibt's Tee und Stullen für Obdachlose.

Ottostraße 7 in Tiergarten. Das verwitterte, schwarze Schild an der verkommenen Fassade des Abbruchhauses weist noch auf ein "Sarg-Magazin" hin. Seit Februar geht es in dem Laden aber recht fröhlich zu. Hier ist jetzt das Lokal Zum Warmen Otto, Berlins erster "Kneipe" für Obdachlose.

Die Luft ist zum Schneiden. Tabakqualm weht über den Köpfen. Es wird Schach gespielt, Skat geklopft, diskutiert. Aber: Es gibt keinen Tropfen Alkohol!

Die benachbarte Heilandskirchengemeinde bietet den Gästen kostenlos Tee, Kaffee, Stullen mit Schmalz oder Leberwurst. Der "warme Otto" öffnet jeden Tag, außer Dienstag, um 13 Uhr. Wenige Minuten später ist der Raum mit den 40 wackligen Stühlen überfüllt. "Es hat sich im Stadtgebiet sehr schnell herumgesprochen, daß man hier Geborgenheit findet", freut sich Olaf Blum (28), einer der beiden hauptamtlichen Betreuer. Der ehemalige Lackierer: "Ich mache diesen Job aus tiefer Überzeugung. Ich will diesen Menschen helfen."

Das ist nicht leicht. Für die Beschaffung von Tee, Kaffee, Brot und Aufschnitt stehen dem Lokal wöchentlich 100 Mark zur Verfügung. "Es muß reichen!" sagt er. Seit einigen Tagen kommen schon Spenden aus der Nachbarschaft in das Armenlokal. Auch die benachbarte Kindertagesstätte hilft - schickt über die Straße, was vom Mittagstisch übriggeblieben ist.

Diese Idee von der Wärmestube hatte Pfarrer Michael Rannenberg in nur 14 Tagen in die Tat umgesetzt. "Ich sah das leere Haus gegenüber, fragte den Besitzer, der uns den Raum kostenlos überließ, und handelte sofort. Denn mit steigender Arbeitslosigkeit steigt auch die Zahl der Menschen ohne Obdach!«

(aus: PFAHLER/ BANISKE 1987, 13)

Schon Ende Mai 1983 muß der Laden geräumt werden, da das Haus abgerissen werden soll. Die Kirchengemeinde hat auch kein Geld mehr, die beiden Mitarbeiter zu bezahlen. Kurt Lindner, einer der beiden Mitarbeiter aus jener Zeit, reflektiert die damalige Erfahrung so:

"Unser Projekt war ja zunächst auch nur für die Wintermonate geplant gewesen; daß unsere Besucher nicht nur an einem Platz neben dem warmen Ofen und einer Tasse Kaffee während der Wintermonate interessiert waren, sondern daß ein ständiger Treffpunkt, mit allen sozialen Entwicklungsmöglichkeiten, die er bieten kann, dringend nötig war, stellte sich ja erst während der Arbeit heraus. Wir zogen also um, in einen Vorraum der Kirche, konnten aber nur mehr zwei Tage die Woche statt vorher sechs Tage öffnen. (...) Gleichzeitig stiegen unsere Besucherzahlen, da nun der Raum größer war, auf 50-60 pro Tag; ein weiterer Beweis für die Notwendigkeit unserer Arbeit." (LINDNER 1984, 44f.).

In dieser "Durststrecke" gelingt es jedoch dem Pfarrer Michael Rannenberg, über das ABM-Programm des Arbeitsamtes zwei 30-Stunden-Stellen für Sozialarbeiter/innen finanziert zu bekommen, das nötige Geld für den weiteren Betrieb zu beschaffen und einen neuen Ladenraum zu finden. Am 4. 11. 1983 wird die Wärmestube in der Waldenserstraße 33 wieder eröffnet, in den Ladenräumen eines Altbaus in unmittelbarer Nähe der Arminius Markthalle, also mittendrin im Moabiter "Kiez". Hier befindet sich der Warme Otto bis heute.

6.3.3. TRÄGER UND FINANZIERUNG

Träger der Wärmestube ist die evangelische Heilandsgemeinde in Berlin - Moabit. Seit 1987 existiert von der Gemeinde aus für die Wärmestube eigens ein Kuratorium, welches die Wärmestube nach außen hin vertritt (Vgl. PRESSEERKLÄRUNG 1988). Hauptverantwortlicher Vertreter der Einrichtung und Arbeitgeber ist Pfarrer Michael Rannenberg, derzeitiger Pfarrer der Heilandsgemeinde, der insbesondere für den finanziellen Teil und die Verwaltungsangelegenheiten zuständig ist. Er nimmt gegenüber den dort tätigen Sozialarbeitern die Dienstaufsicht wahr und ist selbst wiederum dem Gemeindekirchenrat gegenüber verantwortlich (vgl. KRISCH 1986).

Der laufende Betrieb der Wärmestube und die Kosten für die Nahrungsmittel werden vom Förderkreis e.V. der Heilandsgemeinde finanziert. Für die Küche stehen im Monat etwa 700,- DM zur Verfügung (vgl. KRISCH 1986). Der Förderkreis bezieht sein Geld aus Kollekten, Spenden von Privatpersonen, Firmen und Gruppen (vgl. PRESSEERKLÄRUNG 1988).

Das Kirchliche Verwaltungsamt bezahlt die Kosten für die Ladenmieten und den Strom. Der Senat von Berlin bewilligt auf Antrag Mittel für einmalige, zweckgebundene Kosten, etwa für Renovierung, Anschaffungen, Feste. Privatpersonen und Firmen, die regelmäßig angeschrieben werden, spenden häufig Sachgegenstände wie Kleidung oder Lebensmittel, insbesondere in der Zeit vor Weihnachten. Gelegentlich erhält der Laden auch direkt Geldspenden, meistens von Privatpersonen.

6.3.4. MITARBEITER/INNENSITUATION UND ARBEITSBEDINGUNGEN

Vom Senat von Berlin werden zwei halbe Stellen mit je 20 Stunden und zwei 30-Stunden-Stellen (Sozialarbeiter) aus ABM-Mitteln finanziert, eine weitere halbe Stelle finanziert der Kirchenkreis, sodaß fünf Mitarbeiter/ innen (z.Zt. meiner Anwesenheit zwei Männer und drei Frauen) mit insgesamt 120 wöchentlichen Arbeitsstunden tätig sind. Diese Stellen sind "hart umkämpft und immer nur zeitlich befristet. Die ganzen letzten Jahre waren von einem harten Nervenkrieg im Antrags-Dschungel beim Verhandeln mit Verwaltungen und Behörden durchzogen" (PRESSEERKLÄRUNG 1988, 2). Langfristig abgesichert sind nur zwei Stellen (vgl. KRISCH 1986 und PUTZE 1985).

Diese Arbeitssituation wirkt sich "ganz extrem in Fällen von Krankheit aus. Es kann bei Personalengpässen dann auch zur Streichung einzelner Öffnungstage kommen. (...) Angebote, die von uns als notwendig erachtet wer den, (können) nicht geleistet werden. (...) Supervision und Fortbildung (...) gehen ebenfalls von 'normaler Arbeitszeit' ab" (KONZEPTION 1988, 11). Aussagen, die ich aufgrund meiner Mitarbeit in der Wärmestube nur bestätigen kann.

Gefordert werden deshalb 3,5 Sozialarbeiterstellen (140 Wochenstunden) als garantierte Ausstattung der Wärmestube mit festen und kontinuierlichen Arbeitsverträgen, Supervision, Möglichkeiten der Fortbildung und der wöchentlichen Teambesprechung, bei Bedarf Team-Tage, aus reichende Mittel zum Betrieb der Wärmestube und Betrieb nur bei Anwesenheit zweier Sozialarbeiter/ innen (vgl. KONZEPTION 1988).

6.3.5. KONZEPTION

Für Moabit wird "ein ganz großer Bedarf eines Treffpunktes für Stadtstreicher, Obdachlose und einfach Menschen, die in Lebenskrisen stecken und mit Problemen beladen sind, und die wenig Geld haben" (PRESSEERKLÄRUNG 1988, 1) festgestellt.

Eine Wärmestube soll es "ihnen ermöglichen, für einige Stunden am Tag in einer ihnen wohlgesinnten Atmosphäre zur Ruhe zu kommen und sich wohlzufühlen", "einfachste Bedürfnisse des Alltags hier in einem Minimum zu befriedigen", "ihnen sozialer Anhaltspunkt zu sein, sie sollen hier soziale Kontakte knüpfen und pflegen können", soll "die Organisation gegenseitiger Hilfe und Unterstützung ermöglichen und fördern", "für ein paar Stunden am Tag ein vergleichsweise alkoholfreier Gegenpol zum restlichen Tagesverlauf sein" und überhaupt "langfristig Anknüpfungspunkte für eine Veränderung der eigenen Lebenssituation zeigen können" und nach Möglichkeiten suchen helfen, "das persönliche Selbstwertgefühl der Besucher zu fördern, ihr soziales und kulturelles Selbstbewußtsein zu stärken" (KONZEPTION 1988, 5f).

Es ist Ziel, "der immer weiter fortschreitenden sozialen Verelendung vieler Menschen im Bereich Tiergarten/ Innenstadt einen Ort der Solidarität, gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, der Befriedigung einfachster Bedürfnisse und Geselligkeit entgegenzusetzen", weil die "Kirche den Auftrag hat, sich für problembeladene und arme Menschen einzusetzen und denen die Gemeinde zu öffnen, die an den Rand gedrängt und ausgesperrt werden" (FALTBLATT 1989).

Der gesellschaftspolitische Zusammenhang des Engagements in der Wärmestube erfährt eine kritische Bewertung: "Trotz aller Bemühungen wird sich die Situation und Perspektive der Besucher nicht verbessern lassen, wenn sich nicht auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene etwas bewegt" (FALTBLATT 1989).

Die Grenzen des Engagements in der Wärmestube werden klar artikuliert: "In unserer Arbeit können wir entscheidende Ursachen für die Not der Besucher nicht beseitigen." (KONZEPTION 1988, 6).

6.3.6. DER LADEN

Der Eingang von der Waldenserstraße führt in den vor deren Aufenthaltsraum. Rechts an der Wand ist eine Garderobe, links vor dem großen Fenster stehen ein Fernseher, drei Pflanzen. Die weitere Einrichtung besteht aus Holztischen mit Plastiktischdecken darauf und Holzstühlen. An der Decke hängt eine Wohnzimmerlampe im Stil der 50er Jahre, an der Wand ein Berliner Stadtplan.

Geradezu über den Flur folgt der hintere, größere Aufenthaltsraum, der eingerichtet ist wie der vordere. Eine große Fototapete links zeigt eine Naturlandschaft, gegenüber hängen vorgrößerte Schwarzweisfotos von Fahrten mit einigen der Besucher nach Westdeutschland. In der Ecke steht ein Schränkchen mit alten Zeitungen, Zeitschriften, Romanheftchen. Die Tür hinten im Raum führt über einige Stufen zum Bad: Toilette, Badewanne, Handwaschbecken, fließend Warmwasser.

Vom Flur führt eine Tür zum Keller, hinter der sich Reinigungsmittel, Besen, Handfeger und Schaufeln befinden. Im Keller sind Anmachholz und Kohlen gelagert. Der Laden wird mit Öfen beheizt. Später soll im Keller auch noch eine kleine Werkstatt für Holzarbeiten eingerichtet werden.

Im Flur steht ein Anrichte und darauf zwei elektrisch beheizte Wärmebehälter, aus denen meistens Tee und Brühe, manchmal auch Kaffee abgefüllt werden kann. Auf dem Tisch ist meist ein Korb mit trockenen Brotscheiben. In einem Holzregal sind saubere Tassen und Untertassen, Teelöffel, Aschenbecher. In den unteren Fächern wird das benutzte Geschirr abgestellt.

An den Wänden im Flur hängen Informationen aller Art: Die Öffnungszeiten des Warmen Otto, wann es Frühstück gibt (freitags) und Suppe (mittwochs) gibt, Faltblätter von anderen Wärmestuben in Berlin, die Sprechstundenzeiten der Beratungsstelle in der Levetzowstraße, Anschriften der Kleidersammelstellen, Termine der Sozialhilfegruppen und Sozialhilfeberatungen in Tiergarten und vieles mehr: Drei oder vier Postkarten mit Grüßen von Besuchern des Warmen Otto, das Ergebnis des letzten Skatturniers (Angabe von Platz, Vorname und Punktzahl), Hinweise auf besondere Veranstaltungen.

Die Küche ist eingerichtet mit Kühlschrank, Brotmaschine, Herd, Waschmaschine, Geschirrspülmaschine, Spüle mit Wasserboiler, Küchenschränkchen mit Kaffeemaschine, auf der auch Tee gekocht wird, Küchenschrank; Tisch, zwei Stühle, Uhr und Radio.

Zur Küche, so steht es auch auf einem Zettel am Durch gang, hat nur das "Küchenpersonal" Zutritt.

Gegenüber, wieder zur Straße, ist das Büro mit Schreibtisch und Telefon. An der Wand stehen verschließbare, graue Metallschränke. In den vorderen beiden wird sortiert Kleidung aufbewahrt. Im hinteren sind Lebensmittelvorräte, Akten, die Kasse, Büromaterial und anderes weggeschlossen. Die restliche Wandfläche ist mit hohen Metallregalen zugebaut, die mit weiterer Kleidung in Tüten und Kartons, Büchern, Nähzeug, Schreibmaschine, weiteren Akten gefüllt sind.

Die Räume "entsprechen in ihrer einfachen Ausstattung dem Standard der Umgebung. Rein äußerlich erscheint der Laden, die Wärmestube, nicht als Fremdkörper. Die Hemmschwelle, die sich einem eventuellen Besucher stellt und von der Wirkung der Räumlichkeiten abhängt, ist gering." (KONZEPTION 1988, 2). Insgesamt hat der Laden eine Fläche von etwa 120 qm. Tische und Stühle in den Aufenthaltsräumen bieten Platz für sechzig bis siebzig Personen. Wände und Decken der Räume, vor Jahren einmal weiß gestrichen, haben mit der Zeit eine nikotingelbe Farbe angenommen. Im Sommer soll der Laden neu renoviert werden. 


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