Stefan Schneider

Parteinahme für Arme, Ausgegrenzte und Obdachlose

oder: Politik zu machen heißt, Probleme anzusprechen, deren Klärung notwendig ist

INTERVIEW MIT STEFAN SCHNEIDER, VORSITZENDER VON »MOB - OBDACHLOSE MACHEN MOBIL E.V.«

Stefan, glaubst Du, daß die Straßenzeitungen eine Zukunft haben?

Das kommt darauf an, wie das Projekt eingebunden ist. Auf jeden Fall ist die Zeitung eine Chance, daß Obdachlose sich selber helfen, zum Beispiel durch den Verkauf der Zeitung, aber auch durch ihre Mitarbeit in Redaktion und Vertrieb und den anderen Arbeiten, die damit verbunden sind. Im Unterschied zu Wärmestuben und Notunterkünften könnten Straßenzeitungen eine echte Form der Selbsthilfe sein.
Natürlich weiß ich, daß von den 300.000 bis 400.000 DM, die wir jährlich mit dem »strassenfeger« bewegen, etliche 1000 Mark durch die Kehle rinnen und sich ein Schuß gesetzt wird mit der verdienten Kohle. Aber es ist eine Alternative zur Beschaffungskriminalität und kann der Beginn eines Nachdenkens über die eigene Situation sein. Schließlich ist gerade der Zeitungsverkauf auf der Straße harte Arbeit - das ist nicht zu unterschätzen.

Fühlst Du Dich manchmal ohnmächtig?

Nö. Wenn Franz sich totsäuft oder Jürgen sich den goldenen Schuß setzt, ist das erstmal ihre Entscheidung. Ich will, ich kann ihre Entscheidungen nicht steuern. Ich kann die Leute nicht davor bewahren. Das gibt auch für das ganze Projekt. Es wäre verlogen, wenn wir so täten, als könnten wir es. Wir bieten erstmal an: Wenn etwas ist, dann meldet Euch. Aber die Leute helfen sich auch untereinander.
Wenn Obdachlose eine Weile lang Zeitungen verkauft haben und dann sagen können, mir geht es jetzt besser als vorher, dann ist das in Ordnung so. Die Vorstellung, Leute in die "sogenannte" Gesellschaft integrieren zu können, habe ich längst aufgegeben. Ist ja auch unrealistisch bei 8 Millionen Arbeitslosen. Es geht im Moment doch hauptsächlich um eine Verbesserung der aktuellen Lebenssituation. Wir können durch das pünktliche Erscheinen der Zeitung alle 14 Tage dafür sorgen, daß obdachlose und arme Menschen Zeitungen verkaufen können und so einen Ansatzpunkt dafür haben, durch diese Einkünfte ein Stück weit für sich voranzukommen. Das ist auch eine Art Sicherheit, die wir bieten können.

Du studiertest Sozialpädagogik. Was hattest Du für Motive, Dich beim »strassenfeger« zu engagieren?

Irgendwas treibt uns doch alle... Na, angefangen hat es damit, daß ich gerne Artikel schreibe. Zynisch gesagt: eine einfache Art, Anerkennung zu kriegen. So, und wenn ein Obdachloser sagt, ich will diese Zeitung verkaufen, damit ich aus meinem Schlamassel rauskomme (oder mir eben Fusel kaufen kann oder wie auch immer) können wir gucken, ob wir was zusammen machen können. Ich bin gar nicht so vermessen, zu glauben, wir müßten gemeinsame Interessen verfolgen. Ich glaube, es ist nicht mehr möglich, innerhalb eines Projektes gemeinsame Ziele zu verfolgen, im besten Fall ist entsteht ein erfolgreiches Projekt aus der Schnittmenge der jeweiligen persönlichen Interessen und Motive aller Beteiligter.
Wie gesagt, eine Reintegration in die Gesellschaft kann nicht mehr das Ziel sein. Wenn jemand eine Reifenpanne hat, und ich helfe ihm, kann ich auch nicht wissen: Kommt er gerade von einem Einbruch oder fährt er nach Hause, um seine Frau zu schlagen?

Projekte, die mit Feuereifer angeschoben werden, gehen nach und nach kaputt, Strukturen verhärten sich, es setzen sich Leute fest. Schließlich werden in Berlin drei Straßenzeitungen herausgegeben. Und von einer Zusammenarbeit ist nicht viel zu spüren...

Nur oberflächlich betrachtet verfolgen alle drei Berliner Obdachlosenzeitungen das gleiche Ziel: den Obdachlosen zu helfen. Praktisch ist es ein himmelweiter Unterschied, ob eine Zeitung lediglich von Obdachlosen transportiert wird oder aber ob Obdachlose in allen zentralen Bereichen des Projekts von Verkauf über Vertrieb und Redaktion bis hin zur Projektleitung gleichwertig mit integriert sind. Es ist auch ein Unterschied, ob ich aus durch das Zeitungsprojekt eine Notübernachtung finanziere und diese lediglich immer größer wird, oder aber ob ich daran arbeite, ergänzend zu einer selbstorganisierten Notübernachtung noch weitergehende Angebote, etwa eine selbstbestimmte Wohngemeinschaft anbieten zu können. Abgesehen davon ist eine solche Konkurrenz belebend, wir tragen sie aus. Hinzu kommen interne Krisen, sie gehören zur Dynamik eines Projektes. Außerdem machen wir immer wieder Vorschläge zum gemeinsamen Handeln, z.B. beim Aufbau von Projekten.

Du meinst die Aktion "Häuser gegen die Kälte"?

Ja. Das Projekt (ursprünglich aus dem Odenwald, konzipiert von unserem Kollegen von der Obdachlosenzeitung Looser) hat noch einige Schwachstellen. Es muß noch ein Zeitchen reifen. Aber wir werden darüber im »strassenfeger« weiter berichten.

Zurück zu eurem Verein. Wie erklärt sich die Fusion von »mob - obdachlose machen mobil e.V.« mit dem »strassenfeger«?

Eine Bündelung von Kräften sozusagen. Die Zeitung selbst ist ein soziales Projekt. Das Zeitungsprojekt »strassenfeger« wurde bislang als GbR (Gesellschaft bürgerlichen Rechts) geführt, das Bedürfnis nach Demokratie im Projekt erforderte irgendwann demokratische Strukturen, wie sie in einem Verein, der sich die Arbeit mit Obdachlosen zum Ziel gesetzt hat, gegeben waren. So kam es dazu, daß »mob e.V.« seit Februar 1997 Herausgeber vom »strassenfeger« wurde. »strassenfeger« ist also unser gemeinsames Projekt.
Mit dem Verein »mob e.V.« ist die Überzeugung verbunden, Obdachlose können sich selber helfen. Wir entscheiden gemeinsam über alle Frage und sind auch gemeinschaftlich zuständig und verantwortlich. Wir arbeiten fast alle ehrenamtlich oder gegen eine geringe Aufwandsentschädigung bzw. Honorarvertrag. Ich kann es mir deshalb auch leisten, mich als "Helfender" überflüssig zu machen, ich klebe nicht an einem Job. Ein gesundes Mißtrauen - vor allem in finanziellen Dingen - ist zwischen den Leuten trotzdem da. Wir hatten gerade in Berlin viele schlechte Erfahrungen gemacht - Leute, die mit Hilfe von Obdachlosenprojekten Geld in Ihre eigenen Taschen steckten und dann verschwanden.
Wir haben viele unterschiedlich Charaktere, es kommen neue Leute hinzu und andere verschwinden, weil sie neue Perspektiven haben. Das bringt immer wieder neue Ideen und bewahrt uns vor eingefahrenen Gleisen. Produktives Chaos, so könnte man unser Arbeitsprinzip nennen. Und auch auf den Verkäuferversammlungen geht es hoch her: Es wird provoziert, in Frage gestellt und es werden neue Ideen auf den Weg gebracht.

Die Redaktionsräume sehen im Moment eher nach einer Schlafstelle aus. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihr in diesem "Gewusel" Artikel schreiben könnt.

Naja, das Problem hat zwei Seiten. Einerseits müssen wir Miete für diese Räume bezahlen. Die zusätzliche Nutzung als Notübernachtung ist von daher effektiv, und jeder, der hier schläft, berappt einen geringen Beitrag für die zusätzlichen Kosten: Strom, Heizung usw. Andererseits hat der hier stehende Redaktionscomputer etwas Positives. Leute von der Straße setzen sich hier hin uns beginnen ganz einfach, sich etwas von der Seele zu schreiben: Frust, Wünsche, Erlebnisse, Erfahrungen von der Straße...

Inzwischen ist daraus eine Rubrik geworden - Autoren zum Anfassen.

Ja. Die Leute, sich selber per Artikel vorstellen, erleben dabei unterschiedliches. Ich kann was, ich habe bei der Ausgabe mitgeholfen, ich habe etwas zu sagen, ich habe das Recht, meine Meinung kundzutun. Ich habe mir etwas zugetraut. Na, das hebt doch ungemein das Selbstwertgefühl und das ist die Voraussetzung, aktiv seine Angelegenheiten anzugehen. In den meisten Obdachloseneinrichtungen werden die Leute doch nur versorgt. Bei uns in der Zeitung hat der frischgebackene Autor die Gelegenheit, per Anzeige um Mithilfe bei der Wohnungssuche oder um 'ne gebrauchsfähige Waschmaschine zu bitten oder ein Jobinserat zu veröffentlichen. Und es gibt durchaus Resonanz, wenn auch nicht in dem Umfang, wie wir uns das erhoffen.
Auf jeden Fall wollen wir, daß der Verkäufer kein anonymes Wesen bleibt.

Das, was Du bisher genannt hast, sind soziale Gewichtungen Eures Projektes. Aber jedes Projekt braucht Geld. Soziale Idee contra Kommerz? Wie siehst Du das?

Entscheidend ist, wie wirtschaftlich wir arbeiten. Die Zeitung ist ein Zweckbetrieb des Vereins, also, wenn man so will, ein soziales Unternehmen. Das Zeitungsprojekt trägt sich selbst, wir sind also nicht auf finanzielle Zuschüsse von staatlicher oder öffentlicher Seite angewiesen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb leisten wir effiziente soziale Arbeit. Alles in allem kann ich sagen, daß wir als Selbsthilfeprojekt kostensparender arbeiten als subventionierte Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, wo die Arbeit der gutbezahlten Sozialarbeiter häufig genug nur darin besteht, "Süppchen & Söckchen" an die Armen zu verteilen. Ein soziales Unternehmen zu sein, ist für uns solange kein Widerspruch, solange die Obdachlosen unmittelbar dadurch profitieren und in ihren Zielsetzungen vorankommen. Der Verein »mob - obdachlose machen mobil e.V.« und sein Zeitungsprojekt »strassenfeger« bieten die strukturellen Voraussetzungen dafür. Im übrigen ist der Verein »mob e.V.« inzwischen als Gemeinnützig anerkannt worden. Überhaupt ist es ein Prinzip unserer Arbeit, daß wir unsere finanziellen Angelegenheiten offenlegen.

Mit solch einer Zeitung piekt man ja immer auch die große Politik an. Was wollt ihr, was könnt ihr erreichen?

Politik zu machen heißt für mich, Probleme anzusprechen, deren Klärung notwendig ist: Wohnraum, Arbeit, Einkommen. Vor allem ist konkrete Hilfe möglich, aber man stößt schnell an Grenzen. Ich habe da selber eine Schere im Kopf. Auf der anderen Seite bedeutet die Zeitung eine entschiedene Parteinahme für Arme, Ausgegrenzte und Obdachlose in Verbindung mit dem Gefühl der Ohnmacht, daß wir eigentlich nur im Kleinen etwas bewirken. Dieses Gefühl, daß wir immer nur am kürzeren Hebel sitzen... Die Visionen, die wir verfolgen, sind randständig. Wir haben noch eine gewisse Narrenfreiheit - und das hat auch etwas für sich...

Solange Ihr den Oberen nicht allzu sehr auf den Füßen rumtrampelt?!

Hm. Möglich. Immer wenn es politische Aktionen gibt, erklären die Damen und Herren Politiker: Wir werden uns nicht dem Druck der Straße beugen. Die letzte Konsequenz unseres Selbsthilfeansatzes ist: Wir selber setzen unsere politischen Forderungen nach Arbeit und Wohnraum und Einkommen für alle in konkrete Politik um. Wir machen selbst Politik. Eines Tages werden sich die Politiker dem Druck der Straße, unserem Druck beugen (müssen). Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Ich bezweifele, ob wir das noch erleben werden. Aber wir werden das mit vorbereiten.

Was meinst Du, was sind die vorrangigsten Motive der Käufer, den »strassenfeger« zu kaufen und zu lesen?

Vordergründig wollen die meisten sicher dem obdachlosen Verkäufer etwas gutes tun durch den Kauf einer Zeitung. Mitleid spielt auch eine große Rolle. Im Unterbewußtsein ahnen wohl viele, daß sie selbst nur einen Schritt weit von der Obdachlosigkeit, von der Arbeitslosigkeit, von der Armut entfernt sind. Wenn es uns gelingt, in der Köpfen klar zu machen, daß wir - Käufer und Leser auf der einen Seite, Obdachlose und Verkäufer auf der anderen Seite, letztlich ein gemeinsames Interesse haben, nämlich aufrecht und in Würde mit unserer Arbeit und in gerechter Verteilung der Güter und Ressourcen hier auf dieser Welt überleben zu wollen, dann haben wir viel erreicht.

Vielen Dank für dieses Gespräch!


Das Interview führte Heike Kopiske von der Rostocker Obdachlosenstraßenzeitung »STROHhalm«. Rostock, April 1997

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