Stefan Schneider

»Schon am frühen Morgen Bier trinken oder billigen Fusel und am Mittag irgendwo abpennen«

Obdachlosigkeit, Presse und der alltägliche Rassismus


Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch. Menschen sind Menschen und jeder ist einzigartig und einmalig. Rassismus beginnt dort, wo willkürlich Unterschiede gesetzt werden, etwa in Bezug auf Hautfarbe, Religion, Staatszugehörigkeit oder sozialem Status. Wer rassistisch denkt, schreibt, fühlt und handelt, setzt andere zurück zu seinem eigenen Vorteil. Rassismus ist eine Realität, auch unter Obdachlosen(zeitungen). Davon handelt dieser Beitrag.

Seit 1993 gibt es in Deutschland (wieder) Obdachlosenstraßenzeitungen, bundesweit über 30 regionale Projekte, allein in Berlin gegenwärtig (Stand Oktober 1996) derer drei: "motz & Co", "strassenfeger", "platte". Ihnen gemeinsam ist, daß sie von obdachlosen und armen Menschen auf der Straße verkauft werden nach dem Prinzip, ein Teil des Geldes für das Projekt, ein anderer Teil für den Verkäufer und daß die Zeitungen Obdachlosigkeit überwiegend zum Thema haben. Dieses ist dann aber auch schon fast alles, was die einzelnen Zeitungen miteinander verbindet. 

Berichterstatten und Mitdiskutieren - von der Chronistenpflicht

Nun berichtet in der Ausgabe Nr. 21/96 vom 07.10.1996 der "motz & Co" ein gewisser Christian Linde auf Seite 3 im Editorial über den Kongreß "Frauen Leben - Frauen Wohnen" und beklagt die mangelnde Medienpräsenz dieser Veranstaltung. Er beendet seinen "Beitrag" mit dem Satz:

"Um so bezeichnender, daß nicht einmal eine der beiden Penner-Zeitungen »platte« und »strassenfeger« berichterstattend oder wenigstens mitdiskutierend vor Ort waren."
(Hervorhebung durch den Autor, St.Schn.)

Diese Aussage ist erhellend und vielsagend zugleich. Zunächst ist sie unsinnig: Mitdiskutieren ist weitaus mehr als nur berichterstatten. Insofern hätte Herr Linde, würde er logisch argumentieren, fordern müssen, daß die Zeitungen "mitdiskutierend oder wenigstens berichterstattend vor Ort" zu sein hätten. Erst denken, dann schreiben!, kann ich hier nur zurufen.

Zum zweiten ist zu fragen, ob die Veranstaltung es überhaupt wert war, darüber zu schreiben, geschweige denn, daran diskutierend mitzuwirken. Christian Linde selbst bilanziert wenige Sätze vorher den Gehalt dieser Veranstaltung wie folgt: "Keine interdisziplinäre Analyse der eigenen Arbeit und Entwicklung neuer Perspektiven, keine kritische Reflexion der Armutsentwicklung (...) und deren Wirkungen nach 1989, kaum Kritik an die politisch Verantwortlichen. Unabhängig von der jeweiligen Interessenlage tauschten die Diskutantinnen vornehmlich "Betroffenheiten" aus." Ein solches Ergebnis war schon aufgrund der Ankündigung der Veranstaltung zu erwarten. Die Frage drängt sich auf: Spricht hier nicht vielleicht Christian Linde vielmehr über sich selbst?

Einen Irrsinn nenne ich, andere Projekte auf eine Berichterstattung über eine solche Nullnummer verpflichten zu wollen!

Ich sage: Ein solches Ergebnis dieser Veranstaltung war zu erwarten, insofern ist das Nichterscheinen potentieller Mitdiskutanten und Berichterstatter sehr viel mehr eine realistische Einschätzung der Aktion und effektiver als eine unbefriedigend bleibende Teilnahme. Anders gefragt: Was haben Linde und (motz &) Co. auf dieser Veranstaltung eigentlich gemacht? Vielleicht Zeitungen verkauft? 

Was ist ein Penner?

Nun aber zum eigentlichen Kern der Auseinandersetzung: "eine der beiden Penner-Zeitungen »platte« und »strassenfeger«" Wie oben dargelegt, existieren gegenwärtig in Berlin drei sogenannte "Obdachlosenstraßenzeitungen". Was also ist der Grund, daß zwei davon als "Penner-Zeitungen" tituliert werden? Anders gefragt: Was treibt einen Christian Linde dazu, zwei dieser Zeitungen - nicht die, für die er arbeitet -, so zu bezeichnen?

Was ist ein Penner?: Ein Penner ist ein Mensch, der Wohnung und Arbeit, Familie und Freunde und allen Besitz verloren hat, der keinen Sinn mehr sieht in seinem Leben und keine Zukunft, dem alles "wurscht" oder besser: "Scheiß-egal" ist und der deswegen schon am frühen Morgen Bier trinkt oder Chianti oder Korn bzw. billigen Fusel und der daraufhin schon am Mittag irgendwo abpennt auf einer Parkbank oder am Bahnhof Zoo und der es vielleicht gerade noch schafft, mit ein bißchen Energie sich zu einem Pennplatz in der S-Bahn, unter der Brücke oder in einem Abbruchhaus oder im Park zu schleppen. - "Penner" zu sein, ist keine Auszeichnung, vielmehr ein Schande, könnte man meinen.

Obdachlose hingegen haben auch ihre Wohnung verloren und in der Regel Arbeit, Familie und Freunde und allen Besitz dazu, sehen oftmals genug auch keinen Sinn mehr im Leben und keine Zukunft, auch ihnen ist häufig alles "wurscht" oder besser: "Scheiß-egal" und trinken deswegen schon am frühen Morgen Bier oder Chianti oder Korn bzw. billigen Fusel und schaffen es oftmals genug gerade noch, sich mit ein bißchen Energie zu einem Pennplatz in der S-Bahn, unter der Brücke oder in einem Abbruchhaus oder im Park zu schleppen. Okay, nicht alle Obdachlosen saufen, einige haben Gelegenheitsjobs, wohnen und leben in Obdachlosenunterkünften, waschen sich regelmäßig und stinken nicht wie die "Penner", machen sich nicht im Rausch in die Hosen, die sie wochenlang nicht wechseln. 

Penner und Obdachlose - ein himmelweiter Unterschied?

Was bezweckt Christian Linde nun mit dieser Unterscheidung? Sie ist eine graduelle. Vom Obdachlosen zum Penner ist es nur ein kleiner Schritt und umgekehrt. Die Unterscheidung beinhaltet eine moralische, eine rassistische Bewertung. Die einen: Penner; die anderen: Obdachlose? Die einen verkommene Subjekte, abzuschreiben, bei den anderen eine nüchterne Faktenbeschreibung: ohne Obdach! Die einen sind schlecht, die anderen besser. Was steckt dahinter?


Zunächst einmal ein Urteil: Die einen, Christian Linde und seine Konsorten, arbeiten für eine Obdachlosenzeitung, die anderen sind Penner bzw. arbeiten für eine "Penner-Zeitung".

Zum zweiten steckt dahinter eine Bankrotterklärung: Mit ordentlichen Obdachlosen kann ich etwas anfangen, von diesen "Pennern" bzw. "Penner-Zeitungen" distanziere ich mich!; mit denen habe ich nichts zu tun, mit denen kann und will ich nichts zu tun haben.

Das Resultat ist klar: Gerade diejenigen, die der Hilfe, Unterstützung, medizinischer und sozialer Versorgung, gesellschaftlicher Veränderung (und weiteres mehr) am meisten bedürfen, die werden als erstes ausgegrenzt. Christian Linde, löst den gordischen Knoten schwierigster gesellschaftlicher, sozialer und psychischer Verhältnisse mit einem Schwertstreich. Abspalten! Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Wer Arbeit und Wohnung sucht, findet auch welche! Wohin mit den anderen: Ignorieren? Diskriminieren? Ausweisen? Vertreiben? Vernichten?

Nein, so gründlich will Herr Linde nun wieder auch nicht sein. Er beläßt es bei dem Urteil: "Penner-Zeitungen". Erfüllungsgehilfen gibt es in der Stadt ja genug. Von Schönbohm bis "motz & Co" und zurück ist es nur ein kleiner Schritt.

Neben all dieser Polemik bleibt die Frage stehen: Wie wird jemand obdachlos bzw. zu einem Penner? Wenn Herr Linde dazu eine Antwort hätte, würde er sich ja wohl kaum in eine derartig menschenverachtende rassistische Rhetorik retten! 

Verrat statt Solidarität

Daß es sich hierbei nicht um eine einfache Entgleisung des Herrn Linde handelt, machen die Umstände klar. Christian Linde ist laut Impressum der motz & Co nicht einmal Mitglied der Redaktion, zeichnet aber sehr wohl - im Auftrag der Redaktion - "Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes" (V.i.S.d.P.). Die Redaktion aber setzt sich auch zusammen aus Redakteuren, die selbst von sich sagen, daß sie obdachlos sind bzw. waren, verfolgt man die bisherigen Ausgaben der motz & Co genau. Den Herren Kreitzen, Keil, Adolphi und anderen sind die Redaktionssessel wohl schon so bequem geworden, daß sie es nicht mehr nötig haben, sich mit dem gemeinen "Penner" zu befassen! Das nenne ich: Verrat an der Sache! Wer für "motz & Co" immer noch Geld ausgibt, unterstützt also nicht einfach nur den obdachlosen Verkäufer, sondern finanziert auch eine solche politische Auffassung.

Es ist eine menschenverachtende Arroganz der Redaktion, eine solche Diskriminierung zuzulassen, statt sich ernsthaft der Herausforderung zu stellen, wie man gerade diesen "Pennern" eine Perspektive, eine Hoffnung, einen Sinn eröffnen kann. Niemand verlangt von der Redaktion, daß sie sich in den Abgründen der eigenen Vergangenheit selbst zu outen hat und niemand erwartet von einer Redaktion, daß sie umstandslos jedem "Penner" aus der Gosse helfen kann. Nur, wer sich als Redaktion einer Obdachlosenzeitung in dieser Form von den "Pennern" distanziert, macht sich mit schuldig an der gesellschaftlichen Ausgrenzung derer, die am ärmsten dran sind, die sich selbst oft schon aufgegeben haben und die von anderen aufgegeben wurden. Anders herum kann ich sagen: Es ist ein Kompliment, eine Frage der Ehre, in einer Penner-Zeitung mitzuarbeiten, sich dieser Herausforderung offen zu stellen! 

Rassismus statt Analyse! oder: moralischer Verschleiß

Die Auseinandersetzung zu Obdachlosigkeit in all seinen Facetten ist inhaltlich und argumentativ zu führen. Obdachlosigkeit ist keine Frage der Empörung oder der Skandalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern eine Frage der rationalen Analyse. Wer sich in rassistische Propaganda flüchtet, hat offenbar sachlich nichts zum Thema beizutragen. Was das Thema "Penner" betrifft, bleibt Christian Linde und mit ihm die Redaktion der "motz & Co" hinter einer Erkenntnis zurück, die bereits vor mehr als 80 Jahren zutreffend so formuliert worden ist:

"Wenn sich so viele auf der Landstraße herumtreiben, die keine Lust zur Arbeit mehr haben, so ist diesen durch die bestehenden Verhältnisse erst diese Unlust beigebracht worden. Stückweise wurde ihnen der Glaube zertrümmert, daß sie jemals noch eine Rolle in der menschlichen Gesellschaft spielen könnten. Die Entbehrungen, die ihnen das Landstraßenleben brachte, haben den Körper sowohl als auch den Geist zermürbt." (Die Neue Zeit 1912; zit. nach JOHN 1988, 304).

Wer dagegen meint, Menschen ohne Wohnung in Obdachlose und Penner unterteilen zu müssen, verkennt bewußt den strukturellen Zusammenhang des Problems, wie er im oben genannten Zitat mit einfachen Worten beschrieben wird. Die Vermutung drängt sich auf: Obdachlosigkeit ist bei "motz & Co" offenbar nur das Mittel, mit dem Profite erzielt werden sollen. Mit den Obdachlosen selbst und ihrer Lage hat dies immer weniger zu tun. Daß diese Masche einem moralischen Verschleiß unterliegt, wird daran deutlich, daß die Redaktion resp. Christian Linde sich genötigt sehen, zu immer drastischeren Formulierungen zu greifen, um den Etikettenschwindel aufrecht zu erhalten (Stichwort: Penner!). 

Notwendige Kritik und Selbstkritik

Der Vorwurf des heuchlerischen Etikettenschwindels allein ist kein Argument dafür, daß die anderen "Penner-Zeitungen" »platte« oder »strassenfeger« deshalb auch nur ein Deut besser sein müssen. Ganz im Gegenteil: Daß gerade die »platte« die Obdachlosenproblematik auf Stammtischniveau bringt und etwa meint, die hohen Diäten der Parlamentarier als zentralen Kern des Problems ausmachen zu müssen, ist nicht gerade ein Kompliment, sondern vielmehr eine Verarschung der Obdachlosen und der Zeitungsleser. Ernsthafte Kritik in eigener Sache habe ich bislang nur beim »strassenfeger« gelesen, im Editorial der Ausgabe 13 von September/ Oktober 1996 auf Seite 2:

"Abgesehen von ein paar netten Ausgaben bleibt unterm Strich nicht viel übrig. Genau genommen ist das Projekt Strassenfeger nichts weiter als eine Zirkulation von Geld und Papier. Nichts, aber auch gar nichts hat sich geändert, geschweige denn verbessert! Gäbe es auch nur einen Unbehausten, dem es durch uns gelungen wäre, seinen Weg zu finden - das Jahr (der Existenz des strassenfegers, St.Schn.) hätte sich gelohnt. ... Und bei näherem Hinsehen entpuppt sich der angeblich soziale Anspruch schlichtweg als miese Sterbebegleitung. Aber vielleicht hat ja der eine oder andere Verkäufer in diesem Projekt (Tschuldigung: Unternehmen!) sich seinen Lebensabend etwas anders vorgestellt."

Diese Bilanz ist ebenso schäbig wie - im Vergleich zu anderen Obdachlosenzeitungsprojekten - ehrlich. Der Volksmund sagt: Einsicht ist der erste Schritt zur Erkenntnis! Hinzuzufügen ist: Und zu richtigem Handeln. 

Noch einmal von vorn anfangen!

Persönlicher Nachtrag: Ich selbst habe seit Gründung im Mai 1995 bis Februar 1996 bei "motz & Co" mitgearbeitet und dieses Projekt mit aufgebaut. Ohne im Einzelnen die Anlässe benennen zu wollen, macht doch dieses Beispiel unvereinbare Positionen deutlich, die schon damals zu einer Trennung führten. Und dennoch ist es denkbar ungünstig, aufgebaute und entstandene Strukturen nicht nutzen zu können, sondern vielmehr beobachten zu müssen, wie vermitteltes Know-how verkommt oder bestenfalls (Stichwort: Penner-Zeitung) mißbraucht wird. Und doch zugleich: Das oft genannte Argument: "Ihr zieht doch alle an einem Strang, warum gibt es überhaupt mehrere Obdachlosenzeitungen in Berlin?" ist in der letzten Zeit nur noch selten zu hören. Ein untrügliches Anzeichen dafür, daß nun auch in der (Medien-)Öffentlichkeit genauer hingesehen und recherchiert wird. Engagement für Obdachlose allein ist kein Argument mehr. Mein Engagement, nun für den »strassenfeger« zu arbeiten, bedeutet gewissermaßen auch, noch einmal von vorn anzufangen. Es ist richtig, wenn Menschen in meiner Umgebung beobachten: Ich trauere vertanen Chancen nach. Und ich sehe: Auch beim »strassenfeger« ist niemand davor gefeit, die begangenen Fehler zu wiederholen. Und "trotz alledem" muß ich sagen: Auf ein neues!

Ich kenne die Abgründe, die sich mit dem Begriff "Penner" verbinden. Ich bin stolz darauf, in und für eine "Penner-Zeitung" zu arbeiten. Ich weiß, wie das ist, keinen Sinn mehr zu sehen im Leben und keine Zukunft, und wie es ist, wenn einem alles "wurscht" oder besser: "Scheiß-egal" ist und wie es ist, deswegen schon am frühen Morgen Bier zu trinken und daraufhin schon am Mittag irgendwo abzupennen auf einer Parkbank oder am Bahnhof Zoo und es vielleicht gerade noch zu schaffen, sich mit ein bißchen Energie zu seinem Pennplatz zu schleppen. Die Frage, noch eine Wohnung und eine Arbeit zu besitzen, ist wirklich unerheblich. Erst "durch die bestehenden Verhältnisse" ist mir "diese Unlust beigebracht worden." Daß diese Verhältnisse nicht so bleiben müssen, steht auf einem anderen Blatt.

Berlin, im Oktober 1996
Stefan Schneider


In: *** (Nachtragen)

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