Aus aktuellem Anlaß veröffentliche ich hier gerne den Aufruf der Initiative gegen das Chipkartensystem .

Dr. Stefan Schneider, 25.05.2009

Seit Dienstagabend, 19.05.09, sind mehrere Romafamilien behelfsmäßig im Projekt NewYorck im Bethanien untergebracht. Der Anlass, den Familien schnell und unkompliziert die Hilfe zu leisten, war eine Polizeirazzia gegen sie im Görlitzerpark. Seit mehreren Tagen führte die Polizei dort Vertreibungs- und Einschüchterungsaktionen gegen sie durch. Dazu gehörten nach Angaben der Roma massive nächtliche Störungen, bei denen PolizistInnen mit Taschenlampen nachts fast stündlich in deren Schlafstätte  kamen um alle, einschließlich der vielen kleinen Kinder, aufzuwecken.

Am frühen Morgen des 19. Mai kam die Polizei mit einem größeren Aufgebot unter dem Vorwand, gegen die „Verwahrlosung“ der Kinder einschreiten zu müssen. Ein Mann wurde für mehrere Stunden festgenommen und ein Fahrzeug mit dem Großteil der wenigen Sachen der Gruppe wurde beschlagnahmt. Es wurde gedroht, den Eltern ihre Kinder wegzunehmen, wenn sie keine feste Unterkunft vorweisen könnten. Ein später eintreffender Vertreter des Jugendamtes bestand zunächst darauf die Familien zu trennen.

Aufmerksame PassantInnen und die Pfarrerin der nahe gelegenen Martha-Gemeinde griffen ein und alarmierten weitere Organisationen. Es kam zu mehrstündigen Verhandlungen mit der Polizei und einem Vertreter des Jugendamtes. Die ersten Stunden fanden diese an der Straße statt, während die Leute von der Polizei umstellt waren und keine Gelegenheit hatten, Essen für ihre Kinder zu holen oder Toiletten aufzusuchen. Erst auf Drängen der UnterstützerInnen war es schließlich möglich, auf das Gelände von Cabuwazi Kinderzirkus auszuweichen. Die New Yorck im Bethanien bot an, die Gruppe für zwei bis drei Tage aufzunehmen, worauf sich die Polizei und das Jugendamt nach langen Verhandlungen einließ. Die Regionalleitung des zuständigen Jugendamtes und ein Vertreter des Sozialamtes besuchten am Mittwoch die NewYorck und erklärten die Unterbringung für ausreichend, so dass kein Anlaß mehr gegeben sei, die Kinder aus ihren Familien zu nehmen. Allerdings seien sie ansonsten nicht für Roma mit EU-Bürgerschaft zuständig und könnten daher keine konkrete Hilfe bei der Versorgung leisten. Sie wollten jedoch am Montag einen Runden Tisch einberufen, um über eine längerfristige Unterbringungslösung zu beraten.

Die Abgeordneten der LINKEN Evrim Baba, frauenpolitischen Sprecherin, und  Giyasettin Sayan, flüchtlingspolitischer Sprecher, besuchten am Mittwoch unabhängig voneinander ebenfalls die Familien in der NewYork. Beiden wurde ausdrücklich vermittelt, dass die NewYorck mit einer Unterbringung für mehr als drei Tage überfordert sei und sagten zu, sich bei der Sozialsenatorin Knake-Werner für eine schnelle Lösung einzusetzen. Frau Baba erklärte, dass dem Land für solche Notlagen Wohnungen zur Verfügung stünden und sie sich dafür einsetzen würde, dass diese genutzt werden können.

Nach einem ersten Hilferuf der UnterstützerInnen brachten Menschen dankenswerter Weise Nahrungsmittel und Hilfsgüter vorbei. Allerdings zeigte sich schnell, dass die Räumlichkeiten für die Unterbringung von etwa 50 Menschen einschließlich vieler Kinder extrem beengt sind und die Kapazitäten des Projektes nicht ausreichen, das Angebot über den Freitag hinaus zu verlängern.

Am Freitag suchten daher VertreterInnen der Romafamilien und UnterstützerInnen die zuständige Sozialsenatorin, Heidi Knake-Werner, auf, um auf die akute Notsituation aufmerksam zu machen und eine bessere Unterbringung bis zur Findung einer permanenten Lösung zu fordern. Zunächst wurde vom Senat nur das „Ausreisezentrum“ / Lager in der Motardstraße als Alternative angeboten, dessen Schließung antirassistische Gruppen wegen der menschenunwürdigen Bedingungen dort seit Jahren fordert. Die Romafamilien lehnten dies ab. Das Kreuzberger Bezirksamt und Giyasettin Sayan wurden in Verhandlungen um eine Unterbringung in städtischen Räumen in Kreuzberg einbezogen. Nach der Information vom Bezirk, eine solche Lösung hinge von der Zustimmung des Senats ab, und der mündlichen Zusage von Herrn Sayan, der Senat würde eine solche Lösung befürworten und finanziell absichern, verließ die Delegation den Sozialsenat. Die konkrete Umsetzung scheiterte dann jedoch, weil die beteiligten Institutionen die Verantwortung zwischen einander bis zum späten Abend hin und her schoben. Angesichts dieser Notsituation wurde eine vorübergehende Lösung in leer stehenden Räumlichkeiten im Bethanien selbstbestimmt umgesetzt.

Am heutigen Samstag ruderten allerdings Bezirksbürgermeister Schulz und Herr Sayan wieder stark zurück und verlegten sich auf den Standpunkt, dass sich die Roma als EU Bürger und Touristen hier aufhielten und die Situation ein privates Problem der UnterstützerInnen sei, deren „Gäste“ sie ja nun mal seien.

Die Position der Familien:

Die Familien wollen als Familien zusammenbleiben. Sie möchten nicht, dass die Eltern von ihren Kindern getrennt  werden, was bei einer Verteilung auf mehrere Obdachlosenheime zwangsläufig der Fall wäre. Auch die Verschiebung in das „Ausreisezentrum/Lager Motardstraße“ in Berlin Spandau, bekannt für seine menschenunwürdige Unterbringung, wie sie seitens der Behörden bisher vorgeschlagen wurde, ist nicht akzeptabel. Bei diesem Ort handelt es sich um einen Containertrakt ohne Anbindung an Infrastruktur.

Nach dem bisherigem Vorgehen der Polizei bestehen die sehr verständlichen Befürchtungen, dass sie, sobald sie getrennt und aus dem Blick der Öffentlichkeit verdrängt sind, weiterhin Repressionsmaßnahmen unterliegen. Aufgrund ihrer persönlichen Geschichte in Rumänien, wo sie durch alltäglichen Rassismus verfolgt, von tätlichen Übergriffe faschistischer Garden bedroht und aus ihren Häusern vertrieben worden sind, kommen sie in ein Land, dass aufgrund  seiner Geschichte zur Verantwortung verpflichtet ist.

Wie kann geholfen werden?

Bis eine gute Lösung für die Gäste gefunden wird und auch darüber hinaus, braucht es dringend Unterstützung bei der Unterbringung der rund 50 Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche. Bitte meldet euch, wenn ihr eventuell Unterbringungsmöglichkeiten für einen Teil der Familien habt, Decken und Matratzen zur Verfügung stellen könnt, Nahrungsmittel, Kindernahrung!, Windeln für Kleinstkinder, Hygieneartikel sowie andere Artikel des täglichen Lebens. Ebenso, wenn ihr bei der Vermittlung erster Sprachkenntnisse helfen könnt.

Für eine echte und menschenwürdige Lösung braucht es aber auch politischen Druck!!! Wir bitten alle, per Email, Post oder telefonisch Kontakt mit den oben genannten politisch Verantwortlichen aufzunehmen und die Forderungen nach feste Wohnmöglichkeit und Meldeadresse, so dass eine Hilfe zum Lebensunterhalt beantragt werden kann sozialpädagogische und medizinische Versorgung und den damit verbundenen Schul- und Kitabesuch der Kinder und Jugendlichen zu unterstützen.

Wir bitten auch alle vernunftbegabten Menschen NICHT den diskriminierenden Schlagzeilen der Boulevardpresse anheim zu fallen, die die Roma per se als Diebe und Bettler abstempeln!

Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Meldet euch bei der NewYorck  (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) oder kommt persönlich vorbei (Mariannenplatz 2, Bethanien Südflügel), z.B. am Sonntag um 15 Uhr.


Pressemitteilung vom 24.05.2009:

Zur Situation der derzeit im Bethanien untergekommenen Roma-Familien

Berlin-Kreuzberg, 24.05.2009

In Berlin wird dieser Tage „60 Jahre Grundgesetz“ gefeiert – für Roma in Berlin gilt „Die Würde des Menschen ist unntastbar“ anscheinend aber noch immer nicht.

Seit Dienstag, dem 19. Mai 2009, leben über 50 Roma im politischen Projektezusammenhang NewYorck im Bethanien in Kreuzberg. Am frühem Dienstagmorgen gab es einen größeren Polizeieinsatz gegen die Familien, die seit einiger Zeit im Görlitzer Park campierten. Dies geschah unter dem Vorwand, gegen die „Verwahrlosung“ der Kinder einschreiten zu müssen. Anstatt jedoch Hilfsangebote zu machen, ging die Polizei rabiat vor und drohte, den Familien ihre Kinder wegzunehmen. Aufmerksame PassantInnen griffen ein und alarmierten weitere Menschen, Organisationen und umliegende Kirchengemeinden und organisierten ÜbersetzerInnen. Es kam zu mehrstündigen Verhandlungen mit der Polizei und einem Vertreter des Jugendamtes. Die ersten Stunden fanden diese an der Straße statt, während die Leute von der Polizei umstellt waren und keine Gelegenheit hatten, Essen für ihre Kinder zu holen, Toiletten aufzusuchen oder ähnliches. Erst auf Drängen der UnterstützerInnen war es schließlich möglich, auf das Gelände des Cabuwazi Kinderzirkus auszuweichen.

Aus Angst vor weiteren Repressionen wurden die städtischen Angebote für eine Unterbringung von den Familien zunächst abgelehnt. Um die Situation zu entschärfen bot die NewYorck im Bethanien an, die Familien für zwei bis drei Tage unterzubringen und so Zeit für die Suche nach einer guten Lösung zu schaffen. Der Vertreter des Jugendamtes kündigte an, die Unterbringung am nächsten Tag auf ihre Eignung für Kinder zu prüfen. Ein Runder Tisch für die Lösung der Probleme wurde abgesprochen.

Am Mittwoch bestätigten Vertreter des Sozial- und Jugendamtes die Eignung der Räume, erklärten sich jedoch für konkrete Hilfen bei der Versorgung der Familien für nicht zuständig.

Obwohl sich schnell Personen und Organisations zu einem übergreifenden Unterstützer_innenplenum zusammenschlossen und die NewYorck bei der Versorgung der Familien unterstützen, war die New Yorck mit der Unterbringung über einige Tage hinaus überfordert. Für die Familien waren die beengten Verhätnisse sehr stressig und nicht über längere Zeit zumutbar.
Bis Freitagmorgen entwickelten sich keine neuen Lösungsansätze von Seiten der Stadt und die Familien und die Unterstützerinnen besuchten die Sozialsenatorin Knake Werner, um mit Ihr über eine Lösung vor dem Wochenende zu reden.

Das Angebot der Senatorin, die Menschen im „Ausreiselager“ in der Motardtstrasse unterzubringen, lehnten die Roma aufgrund der menschenunwürdigen Umstände dort ab. Eine Lagerunterbringung  ist nicht geeignet, Menschen in der europäischen Gesellschaft ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Auch angesichts der deutschen Geschichte mit ihrer  Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma in Deutschland und Europa sollte sich eine Lagerunterbringung sebstverständlich verbieten. (Weitere Informationen zur Motardstraße unter www.chipkartenini.squat.net/Archiv/aktionen/berichte/Motardstra%dfe%20-%20Materialien/Motardstrasse-Materialien.html )

Im Laufe dieses Gespräches entwickelte sich erstmals eine temporäre Lösung in anderen Räumlichkeiten des Bethanien bis zum Montag. Seit Sonnabend jedoch rudern die Bezirks- und Senatsvertreterinnen von einer politischen Lösung zurück und konstruieren ein privates Problem der Unterstützerinnen. Das würde jedoch die Familien und ihre Kinder in die Situation, wie sie vor dem Polizeieinsatz bestand, zurückwerfen.

Wir hoffen, daß alle politischen Kräfte die Situation der Kinder und ihrer Eltern ernst nehmen und am Montag am Runden Tisch zu einer einvernehmlichen Lösung finden.

Wir fordern die politische Öffentlichkeit auf, nicht nur im Europawahlkampf markige Sprüche zu plakatieren, in denen ein gemeinsames Europa beschworen wird, sondern auch in diesem ganz konkreten Konflikt für die Roma-Familien angemessene Lebensbedingungen hier bei uns in Berlin zu schaffen. Dazu gehören zumindestens eine feste Wohnmöglichkeit, eine Meldeadresse, soziale und medizinische Versorgung und der Schul- und Kindergartenbesuch der Kinder sowie eine finanzielle Unterstützung im Rahmen der Hilfe für besondere Lebenslagen.

Abschließend möchten wir sie noch darauf hinweisen, dass uns in den letzten Tagen seitens einiger PressevertreterInnen eine reißerische rassistische und diskriminierende Berichterstattung aufgefallen ist, die an NS-Propaganda und die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen erinnert. Angesichts der sich häufenden Angriffe auf Roma in vielen europäischen Ländern halten wir diese Form der Berichterstattung für äußerst gefährlich.

Wir fordern deshalb die PressevertreterInnen auf, frei von rassistischen Stereotypen und Diskriminierungen über diese Situation zu berichten.Die Pressegruppe der UnterstützerInnen

Kontakt: 0179-851 7700

Wir bitten aufgrund der besonderen Situation, nicht unangemeldet zu kommen.

Solidarische Hinweise

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