7. Konzeptionelle Überlegungen/Handlungsstrategien

7.1. Lebenslagebezogene Hilfeangebote

Das Angebot der ambulanten, lebenslagebezogenen Hilfe ist in den letzten Jahren auch in bezug auf obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene in erheblichem Maße weiter ausgebaut und zugleich weiter dezentralisiert worden. Darüber hinaus sind gerade in Jahren seit der Einheit im Raum Berlin für Wohnungslose überhaupt eine Fülle weiterer ambulanter Einrichtungen, wie Wärme- und Teestuben, Suppenküchen, aber auch sonstige Projekte entstanden, auch das ist ein Hinweis dafür, daß die Hilfe immer stärker dort angesiedelt wird, wo das Problem präsent ist. Mit dem Ausbau des ambulanten Teils der Hilfe für obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene werden auch "niedrigschwellige" oder sogar "niedrigstschwellige" Angebote eingerichtet mit dem Ziel, so Jugendliche ansprechen zu können, die andere Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe - Beratungsstellen, Unterkunftseinrichtungen, kommunale Behörden - nicht/noch nicht/nicht mehr in Anspruch nehmen. Damit wird institutionell auf den Tatbestand reagiert, daß ein zunehmender Teil der obdachlosen Jugendlichen mehr oder weniger dauerhaft auf der Straße lebt und wohnungslos bleibt - einmal unabhängig von der Frage, ob die Betreffenden es so wollen oder, in Ermangelung geeigneter Unterbringungsangebote durch die Wohnungslosen- bzw. Jugendhilfe, so müssen.


Ein weiteres wichtiges Strukturprinzip der ambulanten, also lebenslagebezogenen Hilfe ist "Streetwork": Hier werden Wohnungslose bzw. Jugendliche gezielt auf der Straße aufgesucht. Mit diesen Maßnahmen werden die Grenzen der Hilfeangebote verschoben, die Wohnungslosen- bzw. Jugendhilfe wendet sich - aus einer eigenen Bewegung heraus - verstärkt den obdachlosen Jugendlichen/jungen Erwachsenen zu. Damit wird die Grenze zwischen obdachlosen Jugendlichen, die Kontakt zu Hilfeangeboten haben, und obdachlosen Jugendlichen, die diesen Kontakt nicht haben oder nicht haben wollen, ständig weiter in Richtung auf die potentiellen Adressaten der Hilfe hin verschoben. So beschreibt dann auch Friedrich GERSTENBERGER in einer lexikalischen Definition das "Hilfesystem" als "Gesamtheit von Organisationen, Einrichtungen, gesetzlichen und sonstigen Regelungen, Maßnahmen und Leistungen sowie formellen und informellen Beziehungen, welche unter die Zielvorgabe, Hilfe zu leisten bzw. im Sinne von Hilfeangeboten soziale Dienstleistungen gewähren, einen bestimmten, durch systematische Zuordnung relativ homogenen Personenkreis 'einschließen' (und zwar durchaus auch im übertragenen Sinn von 'fürsorglicher Belagerung'). Hilfesysteme sind zwar nicht eindeutig abgrenzbar und weisen (bspw. örtliche) Besonderheiten auf, sie sind jedoch relativ geschlossen, was zur Folge hat, daß die Adressaten/Klienten eines Hilfesystems aus diesem i.d.R. nicht zu 'entweichen' vermögen. Zugleich kommt dem Hilfesystem die Bedeutung zu, Klienten von dem einen auf ein anderes 'abzuschieben' oder sie im "Labyrinth" verschiedener Hilfesysteme leerlaufen zu lassen." (GERSTENBERGER 1992, S. 943). Ein solcher Definitionsversuch ließe sich im Sinne unserer Fragestellung auch so interpretieren: Zunehmend umstellt von den Hilfeangeboten werden die obdachlosen Jugendlichen - die diese Hilfe eigentlich gar nicht (oder zumindest nicht in jedem Fall) wollen - weiter in die Defensive gedrängt und gezwungen, Strategien zu entwickeln, dieser "fürsorglichen Belagerung" zu entgehen.


Zudem kann auch nicht das Anliegen der Hilfe sein, permanente Provisorien einzurichten. Die Unterbringung in einer Einrichtung der Wohnungslosen- bzw. Jugendhilfe würde dann eine reale Alternative zur Miete einer Wohnung darstellen. ROHRMANN 1987 und PREUSSER 1989 arbeiten dieses Problem analog bezogen auf des System der Sozialen Sicherung heraus. Insbesondere dann, wenn die Wohnungslosen- bzw. Jugendhilfe in dem Sinne perfektioniert wäre, daß für alle obdachlosen Jugendlichen eine ausreichende dauerhafte Unterbringung zur Verfügung gestellt würde, stellt es eine Einladung dar, wohnungslos zu bleiben.


Es ist nicht die Intention dieser Arbeit und würde auch ihren Rahmen sprengen, die Wohnungslosen- bzw. Jugendhilfe an sich einer kritischen Analyse zu unterziehen. Mit Bezug auf die bundesweit geführte Fachdiskussion um die Wohnungslosenhilfe bleibt dennoch festzuhalten: Die Absicht der Wohnungslosenhilfe, die Wohnungslosen in eine Normalität des Wohnens zu integrieren, wird, wie oben angedeutet, von einer Reihe quantitativer und qualitativer Mängel der Hilfeinstitutionen selbst konterkariert. Ähnliches dürfte für die Einrichtungen und Angebote der Jugendhilfe gelten. Hinzu kommen die Probleme, die außerhalb der Wohnungslosen- bzw. Jugendhilfe angesiedelt sind, beispielsweise die zunehmende Verschlechterung der Situation auf dem Wohnungsmarkt. Dennoch ist der Anteil derer, die trotz dieser wenig aussichtsreichen Perspektiven und obwohl sie von den Hilfeeinrichtungen nicht dauerhaft untergebracht sind, nach wie vor im Kontakt zu Angeboten der Hilfe stehen, relativ hoch. Ein bedeutender Teil der obdachlosen Jugendlichen sieht sich daher gezwungen, weiterhin auf der Straße zu überleben, begibt sich aber trotzdem in den Kontakt zu Hilfsangeboten.

7.2. Subjektorientierter Ansatz

Wie bereits in den obigen Abschnitten ausgeführt, werden innerhalb der Fachöffentlichkeit zunehmend subjektorientierte Ansätze favorisiert, weil gerade diese, soweit sie schon entwickelt sind, sich als besonders effektiv und angemessen erweisen. Das bedeutet:


Der Zugriff auf die Realität erfolgt damit über subjektive Perspektiven der "Betroffenen" selbst. Die wirklichen Lebensverhältnisse der vorgestellten Personen in ihrer jeweils besonderen Ausprägung subjektiver Wahrnehmungen, Deutungsmuster und Handlungsbeiträge sind allein über die gängigen verallgemeinernden Abstraktionen zur Kennzeichnung sozialer Lagen adäquat nicht zu fassen. Die knappen fragmentarischen Aussagen sind von Fallbeschreibungen oder Zusammenfassungen weit entfernt und lassen nicht zu, wohnungslose Jugendliche/junge Erwachsene auf Schicksale, Probleme, Störer, Aussteiger oder defizitäre Persönlichkeitsmuster zu reduzieren, sondern erfordern vielmehr ein Erfassen und Ernstnehmen der darin anklingenden Persönlichkeit in der Komplexität der gebrochenen Ganzheitlichkeit ihrer tätigen Lebensbeziehungen. Gegen ein Verständnis wohnungsloser Jugendlicher/junger Erwachsener als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse und Objekte pädagogisch-therapeutischen Hilfehandelns sind sie - trotz der Würdelosigkeit ihrer Situation - dennoch Subjekte ihrer Tätigkeit und Biografie. Das subjektorientierte Konzept erhält die Chance, sich den Standpunkten und Sichtweisen der wohnungslosen Jugendlichen anzunähern und darüber zu einer Wahrnehmung der individuellen Besonderheiten in den Lebensverhältnissen, der Beteiligung an ihrer Gestaltung, der persönlichen Sinnstrukturen und dem je individuell-biografischen Bezug auf 'Sinn' überhaupt der handelnden Subjekte zu gelangen und so nachzuvollziehen, wie die Welt, in der sie leben, ausgehend von der eigenen Person, tätig angeeignet wird, werden muß. Wir lesen in den Biografien vielfach das Resultat jener bitteren Konsequenz, die Lutz NIETHAMMER so formuliert: "Wenn die Bezugnahme auf die Gesellschaft keinen Sinn verspricht, ist der einzelne zu ihrer Benutzung befreit und auf seine Bestände verwiesen."


Obdachlosigkeit bzw. Wohnungslosigkeit ist nicht reduzierbar auf die Problematik fehlenden Wohnraums, sondern ein darüberhinausgehendes Problem der Möglichkeit sinnvoll-tätiger gesellschaftlicher Lebensbeziehungen, eine Frage, die nicht allein von den Wohnungslosen aus beantwortet werden kann. Gleichwohl werden durch den Einbezug der Subjektivität obdachloser Jugendlicher vermittels ihrer Aussagen auch Kriterien gegenüber den Hilfeangeboten konkretisiert: Statt externer Problemzuschreibung und normativ-normalitätsorientiertem Hilfeverständnis (Wohnung gegen Therapie, Hilfe gegen Wohlverhalten usw.) und den daraus resultierenden Mechanismen ("Drehtüreffekt", Wohnungslosigkeit trotz Hilfesystem), die im wesentlichen gegen die Interessen der Wohnungslosen stehen, geht es, ausgehend vom subjektiven Verständnis Wohnungsloser, was für sie Hilfe ist und sein kann, um erweiterte Formen kooperativen Handelns, das orientiert an der Eigendefinition ihrer Bedürfnisse und Bedürftigkeiten dem Niveau ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten Rechnung trägt und Möglichkeiten und Räume zu einer Tätigkeit in der Zone der nächsten Entwicklung (VYGOTSKIJ) erschließen kann. Die konkret zu verwirklichende Aussicht auf Wohnraum gehört dabei mit Sicherheit zu den sinnvollsten und innovativsten Perspektiven.

7.3. Kriterien/Anforderungen/Fragestellungen an die Jugendhilfe sowie an eine Konzeption

In der Auseinandersetzung um das Problem obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene werden auf verschiedensten Ebenen Fragestellungen eingebracht. Zweck dieser Fragestellung besteht in allererster Linie darin, zunächst einmal eine grundsätzliche Verständigung über das Problem herbeizuführen und in prinzipieller Hinsicht konzeptionelle Fragen vorab zu klären, um so zu brauchbaren Kriterien für eine Konzeption zu gelangen.


Die allgemeinste Frageebene betrifft das Verhältnis von Kindern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen überhaupt. Zu klären wäre hier:

  • "Welche Möglichkeiten der Teilhabe bieten Erwachsene Kindern und Jugendlichen mit Lebensgeschichten und Erfahrungen, vor deren Hintergrund es oft unbegreiflich erscheint, wie sie die Zeit bis zum Erstkontakt zu den Einrichtungen überhaupt überlebt haben?
  • Wie begegnen Erwachsene der Bedeutungslosigkeit, zu der sie sich degradiert fühlen?
  • Welche Fragen führen nicht zur Ausgrenzung Jugendlicher?
  • Ist es möglich, das Risikomanagement der Jugendhilfe und nicht das Risikoverhalten von Jugendlichen zum Inhalt des Diskurses zu machen?" (LEMBECK 1995, 206, Hervorhebungen durch die Verfasser)


Eine weitere Ebene der Fragestellung richtet sich an die Jugendhilfe und versucht, deren Grenzen und Möglichkeiten realistisch einzuschätzen:

  • "Welchen Phantasien kann Jugendhilfe entwickeln, um für die Gruppe der deklassierten Kinder die beschriebenen Abseitsfallen zu öffnen?
  • Wie kann Soziale Arbeit (...) öffentliche soziale Räume erstellen, die gestaltbar, verschiebbar sind und zur "Ich-Bekundung" taugen? (...)
  • Ist es vorstellbar, daß sie in die Stadtkultur derart eingreift, daß sie hilft, Räume der Öffnung zwischen Intimität und Öffentlichkeit entstehen zu lassen?
  • Kann sie darauf hinwirken, daß es Kindern und Jugendlichen in der Abseitsfalle möglich wird, sich auf der Straße, draußen in der Öffentlichkeit, inmitten einer vielköpfigen Gemeinschaft" (vgl. Aries 1992) darzustellen?
  • Kann sich Jugendhilfe (...) auf die Tradition des "Organizing" von Räumen der Sozialität in der Öffentlichkeit besinnen?
  • Ist es vorstellbar, daß Sozialarbeiter beispielsweise das Management von Wochenmärkten, Kiosken, Cafés übernehmen, sich in die Stadtplanung eines Quartiers einmischen, Stadtteilkarten der Nischen und Abseitsräume zu erstellen, um sie (...) zu verteidigen?" (LANGHANKY 1995, 209)


Und schließlich muß auf einer noch konkreteren Ebene gefragt werden, was innerhalb der Einrichtung konzeptionell an sozialer Tätigkeit/Interaktion geschehen soll.

  • Jede neue Einrichtung der Hilfe für obdachlose Jugendliche/ junge Erwachsene bedeutet zugleich auch eine Zementierung des Problems der Wohnungslosigkeit. Ausgehend vom Konzept intersubjektiver Tätigkeit wäre in grundsätzlicher Perspektive zu entscheiden, welches denn das zentrale Paradigma eines Angebots wäre: Helfen, Einrichten, Anbieten, Wärmen, Bekleiden, Ernähren, Asyl bieten, (zur Not) Unterbringen, Obdach bieten, Beraten, Bevormunden, Entmündigen, Entsorgen, Entrechten, Verwahren, Einsperren, Verhaften, Vernichten, Einbinden, Leisten, Betreuen, Entgiften, Heilen, Beherbergen, Kolonisieren, Treffen, Therapieren, Lernen, Lehren, Vermitteln, Versorgen, Ort sein, Anlaufstelle sein, Aneignen, Befähigen...
  • D.h., zu fragen wäre, welches begriffliche Paradigma beschreibt denn zutreffend das, wofür der zu schaffende Ort gut bzw. schlecht sein soll, was da an Tätigkeit und/oder Interaktion geschehen soll? Was soll denn da passieren?
  • Ausgehend von einem subjektorientierten Ansatz wäre mit gleicher Berechtigung zu klären, mit welchen Begrifflichkeiten ein wohnungsloser Jugendlicher/junger Erwachsener beschreiben würde, was er tun will, was er gerne hätte, was ihm fehlt, was er braucht?
  • Aus beiden Fragen resultiert: Wie kann das strukturelle Gefälle zwischen professioneller Hilfe (Sozialarbeiter, -pädagogen, Therapeuten etc.) und Klienten aufgehoben werden (Stichwort: gläsernes Büro, Transparenz, Partizipation, Mündigkeit). Können architektonische Mittel/eine geeignete Wahl des Ortes dies relativieren?
  • Wie kann dem Status wohnungsloser Jugendlicher/junger Erwachsener als Subjekten möglichst adäquat entsprochen werden? Der Singularität jeder einzelnen Persönlichkeit (Handlungsstrategien, Kompetenzen, Wohn- und Lebensstile) sollte Geltung verschafft werden.
  • Ist per se kollektiven, partnerschaftlichen, gemeinwesen- und stadtteilorientierten Selbstorganisationsansätzen ein Vorrang gegenüber einer einzelfallorientierten Intervention einzuräumen (Stichworte: Synergieeffekte, eine Gemeinschaft ist mehr als die Summe ihrer Teile)? Können architektonische Mittel/eine geeignete Wahl des Ortes dieses befördern?

7.4. Bedarf an Jugendhilfeeinrichtungen in Prenzlauer Berg

Im Zusammenhang mit der Betrachtung der Problematik obdachloser Jugendlicher/junger Erwachsener entsteht immer wieder die Frage nach dem Bedarf.

  • Wieviele obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene bzw. Straßenkinder leben in Prenzlauer Berg?
  • Wieviel Plätze der verschiedenen Angebotsformen sind bereitzustellen?
  • Ist Jugendhilfe in dem dargestellten Rahmen planbar?


Um es gleich vorwegzunehmen: Es gibt keine allgemeinen Richtwerte, bei deren Erfüllung von einer Bedarfsdeckung gesprochen werden kann. Die Statistik der als vermißt gemeldeten Kinder ist keine zuverlässige Grundlage, da nicht alle "AusreißerInnen/TreberInnen" (TRAUERNICHT) gemeldet werden und Mehrfachnennungen in der Statistik möglich sind. Darüber hinaus sind auch junge Volljährige leistungsberechtigt, die in einer solchen Statistik nicht erscheinen. Eine Interpretation des vorliegenden Zahlenmaterials wird unter Abschnitt 3.3. versucht.


Im III. Quartal 96 ist mit einer Auswertung aller 1995 durchgeführten Kinder- und Jugendschutzmaßnahmen nach [[section]] 42 (Inobhutnahme) durch das Statistische Landesamt zu rechnen. Damit könnten eventuell Grundlagen für Bedarfsermittlungen dieser Jugendhilfemaßnahme gegeben sein.


In der Fachliteratur z. Bsp. wird auf die "sozialräumliche Analyse" als methodischer Ansatz zur Ermittlung des Bedarfes verwiesen (KREFT/MIELENZ 1988). Danach fließen soziale Kriterien in entsprechender Gewichtung über die allgemeine Bestandsaufnahme eines Gebietes hinaus in die Bedarfsermittlung ein.


Die Senatsverwaltung für Jugend und Familie orientiert sich in ihrem "Bericht über die bedarfsgerechte Ausgestaltung der Hilfen zur Erziehung in Berlin" "quantitativ... an Erfahrungswerten aus der Vergangenheit und an Vergleichsdaten strukturell vergleichbarer Ballungsräume" (Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen).


Zur Zeit liegen keine quantitativen Bedarfsnennungen für den Bezirk Prenzlauer Berg vor. Zu hoffen ist, daß eine Annäherung an den Bedarf im Rahmen der Erarbeitung des Jugendhilfeplans erfolgt. Im Gespräch zur gegenwärtigen Situation in Prenzlauer Berg mit dem Leiter des Amtes III, Sozialpädagogischer Dienst, Abteilung. Jugend/Familie, Herrn Rabatsch, ist die Zahl der obdachlosen Jugendlichen/jungen Erwachsenen im Gebiet um den Helmholtzplatz mit ca. 30 beziffert worden, wobei davon ausgegangen werden kann, daß diese Zahl durchaus höher ist, da besetzte und leerstehende Häuser gegenwärtig noch Obdach bieten. Aufmerksam gemacht wurde in diesem Gespräch wie auch im Gespräch mit der Jugendhilfeplanerin, Frau Pfennig, auf das Problem vagabundierender Kinder in Prenzlauer Berg, die zwar noch ihren Schlafplatz zu Hause aufsuchen, sich jedoch größtenteils auf der Straße aufhalten, diesen zu ihrem räumlichen Lebensmittelpunkt gemacht haben.


Einig sind sich alle Beteiligten, daß das derzeitige Angebot nicht ausreichend ist. Neben der quantitativen Bedarfsdeckung einerseits ist ein qualitatives Angebot zu schaffen, das sich durch Vielfalt und Flexibilität auszeichnet, um so individuelle Hilfeleistungen zu ermöglichen.

7.5. Stadträumliche Ansätze

Als ein wichtiges Kriterium bei der Entwicklung bedarfsgerechter Angebote ist ein lokales, kleinteiliges Angebot hervorzuheben.


Das soziale Umfeld spielt für die Jugendlichen/jungen Erwachsenen eine wichtige Rolle. Entweder wohnten sie in Prenzlauer Berg und haben hier ihre sozialen Bezüge, oder sie haben den Bezirk bewußt als Ort gewählt, sich hier ungefragt niedergelassen und sich Lebensräume angeeignet. Diese sozialen Bindungen zu erhalten ist einerseits Bedürfnis vieler Jugendlicher/junger Erwachsener und wird in seiner sozialpädagogischen Bedeutung durch Fachleute auch betont. Ein Beratungsangebot oder Angebot zum Wohnen wird zum Teil bereitwilliger angenommen und kann langfristig erfolgreicher sein, wenn es auch im räumlichen Zusammenhang mit existierenden sozialen Bezügen steht. Vor diesem Hintergrund wäre eine möglichst dezentrale Ansiedlung von Projekten zu unterstützen, jedoch mit lokalem Bezug zu den Lebensbereichen der Jugendlichen/jungen Erwachsenen.


Andererseits kann eine gewisse räumliche Distanz jedoch auch den sozialpädagogischen Zielen dienlich sein, und es ist nicht generell wünschenswert, daß ein Jugendlicher in der Phase der Orientierung die Bindungen zu seiner Peergroup aufrecht erhält. Ebenso gibt es Jugendliche, die das Bedürfnis nach Trennung von ihrem Umfeld haben.


Plädiert wird von Betreuern, die Einrichtungen eher klein und damit überschaubar zu konzipieren, dafür jedoch eher mehrere anzusiedeln. Das deckt sich mit dem Gedanken eines lokalen Lösungsansatzes. Im Falle Prenzlauer Berg wäre zu überlegen, wo, vom Helmholtzplatz unabhängig, weitere geeignete Standorte wären.


Es erscheint nicht sinnvoll, alle im Rahmen einer eventuellen Bedarfsformulierung benannten Einrichtungen in diesem Gebiet zu konzentrieren, sondern, für die Gegend entlastend, Einrichtungen in fußläufiger Entfernung auch außerhalb des Gebietes um den Helmhotzplatz einzurichten.


Die von der BVV in einem Beschluß vom 24.1.96 formulierte Aufforderung an das Bezirksamt, "mittelfristig nach einem Objekt im Bezirk zu suchen, das für die Unterbringung von Obdachlosen, die in Gruppen leben wollen, hergerichtet und betrieben werden kann" , ist ein erster Schritt zur Lösung dieses Problems, wobei es darum geht, ein vielfältiges und damit individuelles Angebot zu schaffen.


Der Bezirk verfügt kaum über eigene Gebäude in den Sanierungsgebieten. Die Wirksamkeit und Akzeptanz eines solchen Angebotes außerhalb der Brennpunkte, zum Beispiel nördlich des S-Bahn-Rings im Neubaugebiet, sind etwas zweifelhaft.


Um Standorte zu sichern und Angebote in den Sanierungsgebieten zu entwickeln, wird der Bezirk also auch auf private Flächen zurückgreifen müssen.

7.6. Möglichkeiten zur Bereitstellung gewerblicher Räume

Das Gebiet Helmholtzplatz, bedingt durch seine soziale und bauliche Struktur als Schwerpunkt der "Szene" in Prenzlauer Berg, rückte schon vor den tragischen Ereignissen in der Schliemannstraße 10 und der anschließenden Besetzung des Platzes ins Blickfeld der politisch und fachlich Verantwortlichen. Aus diesem Grunde hat das Bezirksamt Wunsch und Notwendigkeit, einen Kontaktladen (ähnlich ehemals BLEIBE in Friedrichshain, Rigaer Str. 103) aufzubauen, an KARUNA e. V. in Abstimmung mit dem Berliner Drogenreferat herangetragen. Schwierig gestaltet sich in diesem Zusammenhang die Anmietung geeigneter Räume; das Bezirksamt hat zwar Unterstützung zugesichert, doch kann sich diese nur im Rahmen der in der Verfügungsgewalt des Bezirkes befindlichen Gebäude bewegen.


Hier - wie auch in ähnlichen Fällen, in denen eine kurzfristige Lösung erforderlich ist und keine bezirkseigenen Grundstücke zur Verfügung stehen - ist zu prüfen, inwieweit zur "systematischen" Raumsuche die Wohnungsbaugesellschaft Prenzlauer Berg - WiP - in gemeinsame Gesprächsrunden mit einbezogen werden kann, mit dem Ziel, freie Träger, für deren Angebot dringender Bedarf in Prenzlauer Berg besteht, zu unterstützen, geeignete Räumlichkeiten zu finden und eventuelle Konflikte mit anderen Mietern/Nutzern durch frühzeitige Koordination zu minimieren. Der Bezirk, der durch seinen Stadtrat/seine Stadträtin für Bauen und Wohnen im Aufsichtsrat der Wohnungsbaugesellschaft vertreten ist, könnte entsprechenden Bedarf an dieses Gremium herantragen.


Im Rahmen des Programms "Soziale Stadterneuerung" ModInst RL 95 ist die Förderung von gewerblich, und in diesem Fall zählen zu gewerblich auch soziale Nutzungen im Sinne von "nicht für Wohnzwecke vorgesehen", genutzten Flächen möglich. Damit verbunden ist, daß "im Bindungszeitraum der Förderung diese Flächen...nur mit Zustimmung des zuständigen Bezirksamtes überlassen werden" (6.2.2. ModInst RL 95) dürfen.


Somit ist im Interesse der Verfügbarkeit eines Flächenpotentials für die Ansiedlung sozialer Infrastruktur die Förderung von gewerblich genutzten Flächen zu unterstützen und durch den Bezirk in Abstimmung mit den entsprechenden Fachabteilungen das vertraglich vereinbarte Belegungsrecht für öffentlich geförderten Gewerberaum auszuüben.


Zu prüfen ist in diesem Zusammenhang, ob auf der Grundlage eines bezirklichen Konzeptes zur Entwicklung der Jugendhilfe, die Sanierungsziele in den Sanierungsgebieten konkretisiert und fortgeschrieben werden können.

7.7. Sicherung von Wohnraum

Geschütztes Marktsegment


Um jungen Menschen aus betreuten Wohnformen ein selbständiges -und selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen, ist die Versorgung mit "eigenem" Wohnraum unerläßlich.


Der zunehmenden Nachfrage nach preiswertem Wohnraum auf dem Berliner Wohnungsmarkt stehen die Entlassung zahlreicher Wohnungen aus der Belegungsbindung und die beabsichtigte Überleitung des preisgebundenen Wohnraumes in das allgemeine Miethöherecht im Ostteil Berlins gegenüber. Wenn es nicht gelingt, Jugendliche/junge Erwachsene weiterführend mit eigenem Wohnraum zu versorgen, dann kommt es in den Kriseneinrichtungen und Wohngruppen zum "Rückstau", der die Einrichtungen ihrer eigentlichen Zweckbestimmung entzieht.


Eine Möglichkeit zur Versorgung mit Wohnraum ist über den Fonds des "Geschützten Marktsegmentes" entstanden. Dieses sieht seit 1994 vor, daß jährlich berlinweit 2000 Wohnungen durch 19 städtische Wohnungsunternehmen bereitgestellt werden, die primär der Wohnraumversorgung Obdachloser bzw. von Odachlosigkeit bedrohter Menschen vorbehalten sind.


Zu diesem Personenkreis gehören explizit auch "junge Menschen, bei denen die Jugendhilfe im Rahmen der Fremdunterbringung unabweisbar beendet werden muß oder für die zur erfolgreichen Durchführung von Hilfe zur Erziehung Wohnraum bereitgestellt werden muß". (Geschütztes Marktsegment, Betrachtung und Dokumentation auf der Grundlage der statistischen Auswertung für das 1. Laufjahr 1994, Senatsverwaltung für Soziales)


Das vorgesehene Kontingent der WiP betrug in dem ersten Jahr 80 Wohnungen, 67 Wohnungen sind im Rahmen des "Geschützten Marktsegmentes" angeboten worden und für 65 wurde ein Mietvertrag abgeschlossen. Die Aufschlüsselung der personenbezogenen Verwendung der Wohnungen trifft keine Aussagen darüber, inwieweit der im Rahmen der Studie betrachtete Personenkreis durch das "Geschützte Marktsegment" versorgt worden ist.


Die freien Träger der Jugendhilfe haben, ebenso wie alle anderen freien Träger, keinen direkten Zugang zu dem Wohnungskontingent des "Geschützten Marktsegmentes" sondern die Jugendlichen/jungen Erwachsenen werden über die zentralen Vergabestellen in den Bezirksämtern versorgt. Im allgemeinen ist es so, daß der Wohnungsbaugesellschaft für eine Wohnung drei Bewerber vorgeschlagen werden und der Vermieter damit eine Auswahlmöglichkeit hat. Wie dadurch überhaupt die Versorgung auch dieser Gruppe sichergestellt wird, ist nicht ganz nachzuvollziehen.


In Prenzlauer Berg ist im Rahmen des Kontingentes "Geschütztes Marktsegment" ein Bewohner aus der Jugendwohngruppe Lychener Str. 46 im letzten Jahr versorgt worden, ein weiterer Bewohner wird in absehbarer Zeit über diesen Fonds mit Wohraum versorgt werden.


Welches Problem sich für freie Träger daraus ergibt, daß nicht der Träger stellvertretend für eine begrenzte Zeit den Hauptmietvertrag für den betreuten Bewohner abschließen kann, umreißt die folgende Darstellung: "...bedeutet das "Geschützte Marktsegment" für die Anmietung durch die Wohnprojekte ein zusätzliches Erschwernis. Es war zwar im Einzelfall möglich, WP-Betreute (Wohnprojekt-Betreute) über das "Geschützte Marktsegment" mit Wohnraum zu versorgen, da aber die Treberhilfe Berlin e.V. in diesem Fall nicht Hauptmieterin sein kann, hat sie auch nur sehr geringe Interventionsmöglichkeiten bei Konflikten, die ggf. das Mietverhältnis gefährden. Mit dem "Geschützten Marktsegment" ist das Konzept des betreuten Einzelwohnens somit nicht zu realisieren." Im Bezirk Mitte ist es der Treberhilfe gelungen, seit "Bestehen des " Geschützten Marksegmentes"...in Zusammenarbeit mit der sozialen Wohnhilfe ...immer mehr Bedürftige mit eigenem Wohnraum zu versorgen. Träger haben jedoch keine Möglichkeit der Anmietung von Wohnraum aus diesem Bereich. Daraus ergibt sich jedoch für die Arbeit im WP-Bereich die Schwierigkeit des erheblichen Aufwandes von komplexer Vermittlungsarbeit zwischen Vermieter, Mietern, ZEKO, Sozialämtern usw." (Treberhilfe Berlin e.V., Jahresbericht 1994)

Stadterneuerungspolitik/ Soziale Stadterneuerung


Für die Instandsetzung und Modernisierung von Wohngebäuden in den Sanierungs- und Untersuchungsgebieten des Prenzlauer Berges sind 1995 im Rahmen des Programms "Soziale Stadterneuerung" ca. 70 Mio DM vertraglich gebunden worden. Neben dem hohen Instandsetzungs- und Modernisierungsaufwand ist der Leerstand von Wohnraum und dessen Wiedervermietbarmachung durch die Baumaßnahmen ein Kriterium für die Aufnahme ins Förderprogramm. D.h., es wird jährlich auch ein gewisser Anteil vorher nicht bewohnter Wohnungen dem Wohnungsmarkt wieder zugeführt, zahlenmäßig reduziert durch teilweise notwendige Zusammenlegungen. Entsprechend den Förderrichtlinien sind die im Rahmen des Programms hergerichteten Wohnungen nur an Sanierungsbetroffene und sonstige Wohnungssuchende mit Wohnberechtigungsschein mit Zustimmung des Bezirksamtes zu überlassen. "Auf Verlangen des Bezirksamtes sind einzelne Wohnungen auch Benutzergruppen (Wohngemeinschaften und betreutes Wohnen) mit besonderen sozialen, psychischen oder gesundheitlichen Problemen zu überlassen." (ModInst RL 95, 6.2) Auf Grundlage dieser Richtlinie wäre also auch die Versorgung von Jugendlichen/jungen Erwachsenen, die von Obdachlosigkeit akut betroffen sind, und die Schaffung entsprechender Wohneinheiten für Jugendwohngruppen möglich. Als Ziel der Sanierung ist die Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse "spezifischer Gruppen" in Form von Sonderwohnformen formuliert. (Begründung zur 10. VO über die förmliche Festlegung von Sanierungsgebieten)


Um diesem Sanierungsziel gerecht zu werden, ist die beschriebene Bewohnergruppe verstärkt bei der Versorgung mit entsprechendem Wohnraum einzubeziehen und eine qualifizierte Form zu entwickeln, über die die Bedarfs- und Realisierungsmöglichkeiten koordiniert werden. In diesen Prozeß sind sowohl die Träger der freien Jugendhilfe als auch die Mieterberatung Prenzlauer Berg mit einzubeziehen.

7.8. Öffentlichkeit/Öffentlichkeitsarbeit/Lobbyarbeit

In der öffentlichen Darstellung ihrer Not werden obdachlose Jugendliche/junge Erwachsene häufig reduziert auf Einzelschicksale, Störer und Randalierer, defizitäre Persönlichkeitsprofile. Solche fragmentarischen journalistischen Fallskizzen und Biografie-Stenogramme beinhalten die Gefahr, eher zur Bestätigung denn zum Abbau vorhandener Vorurteile und Klischees beizutragen. In einer weiteren Variante wird das Unbegriffene wohnungsloser (Über-)lebensweise schnell zum Gegenstand romantischer Projektionen, zum Abbild unerfüllter Bedürfnisse. Die soziale Realität eines Lebens ohne Wohnung, mit dem Übernachtungs-, Straßen- und Bahnhofselend, der Behördendiskriminierung und Polizeivertreibung, dem beschränkten Handlungsraum überhaupt wird mißinterpretiert als Subkultur, umgedeutet als Ausdruck eines selbstgewählten Lebensstils. Die Suche nach Zigarettenkippen auf den Bahnhöfen, das Umherstehen mit der Schnapspulle, das abgerissene Outfit, das Fischen nach Eßbarem aus Mülltonnen, das Schnorren um ein bißchen Kleingeld oder das Wohnen in leerstehenden Häusern wären demnach Merkmale für ein Leben in Freiheit und Sorglosigkeit, Unabhängigkeit und Ungebundenheit, einfach (!) so in den Tag hinein. Aber auch gängige verallgemeinernde Abstraktionen zur Kennzeichnung sozialer Lagen (arbeitslos - mittellos - wohnungslos - stigmatisiert - ausgegrenzt usw.) können die wirklichen Lebensverhältnisse und beschränkten Handlungsmöglichkeiten, subjektive Wahrnehmungen und Deutungsmuster oft nicht adäquat fassen. Und schließlich: eine Sichtweise, die Wohnungslose einzig als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse begreift, läuft Gefahr, sie zu Objekten des Hilfehandelns zu degradieren, ihnen Probleme extern zuzuschreiben und sie mit ihrer Not durch karitativ-sozialpädagogisch-normative Hilfestrukturen (z.B. Aufenthalt gegen Nüchternheit, Hilfe gegen Wohlverhalten, Wohnung gegen Therapie usw.) zu erpressen. Weil die meisten dieser Angebote zum Bleiben nicht einladen und meistens auch gar nicht so gemeint sind, resultieren daraus entsprechende Mechanismen der Ablehnung und Verweigerung ("Drehtüreffekt"). Wohnungslose haben damit kaum eine andere Chance, als ungewollt das Vorurteil zu bestätigen, sie seien letztendlich selbst schuld, ihnen sei nicht zu helfen und sie hätten es nicht besser verdient. Politisch schlägt sich das nieder in einer Senatsmitteilung zum Thema 'Wiedereingliederung von Obdachlosen': "Zu vielschichtig sind die Ursachen der Obdachlosigkeit und zu begrenzt die Einwirkungsmöglichkeiten der Sozialpolitik.(...) Auf der Straße lebende Menschen werden auch weiterhin für alle im Stadtbild sichtbar bleiben." (Drucksache 12/3162 vom 17.8.93). Indirekt entschuldigt die Politik sich damit schon im voraus für die Kältetoten des Winters und spricht sich selbst zugleich frei von jeder Schuld.


Im schlimmsten Fall ist das Interesse an obdachlosen Jugendlichen Inbegriff einer postmodernen gesellschaftlichen Situation von anything goes: "Straßenkinder" sind auch Menschen, durchaus sympathisch (eine Sichtweise, die den unvermeidlichen Umgang mit ihnen auf der Straße ungemein erleichtert), ein interessanter, exotischer Lebensstil (keineswegs problemlos, aber wer lebt schon problemfrei?) als Teil eines facettenreichen sozialen Big-bangs, in dem und mit dem wir leben. Die emotional aufgeladene Akzeptanz wird auf die persönliche Ebene von Verständnis beschränkt und mit dem Verweis auf zuständiges professionell-institutionalisiertes Hilfeengagement sowie den besten Wünschen für den weiteren Lebensweg entsorgt (In den heutigen harten Zeiten muß halt jeder zusehen, wo er bleibt!).


Eben weil konventionelle Solidarität mit den Zu-kurz-gekommenen nicht mehr funktioniert, aber gleichzeitig das Risiko Wohnungslosigkeit mittlerweile fast jede oder jeden treffen kann, müssen grundlegend neue Bündnisse gesucht und hergestellt werden: Die konkrete Auseinandersetzung um Wohnraum und ein Bleibe sowie Selbstbestimmungsrecht für Jugendliche gehören dabei mit Sicherheit zu den innovativsten und politisch brisantesten Perspektiven. Eine brauchbare Idee, wie diese Überlebenskultur von Jugendlichen und Wohnungslosen sinnvoll materialisiert werden könnte, stammt von der studentischen Projektgruppe "obdachlos in berlin" an der Hochschule der Künste: Ein Kulturhaus als Treffpunkt und Begegnungsstätte für Alltags- und Straßenkultur(arbeit), als Zentrum für Kunst und Bildung mit Restaurant, Galerie-, Proben- und Projekteraum und Bühne, als Redaktions- und Druckort einer Wohnungslosenstraßenzeitung, als Büro und Koordinationszentrum für sozialpolitische Aktivitäten. Um abgesichert zu sein, müßte es gleichzeitig Sitz und Aktionsort eines Vereins oder Bündnisses zur Lobbyarbeit für jugendliche Wohnungslose/obdachlose Jugendliche sein. Dauerhafter Wohnraum wäre damit zwar nicht erkämpft, aber vielleicht eine weitere Voraussetzung für diese notwendige gesellschaftliche Aufgabe geschaffen. Die innovative Chance bestände darin, völlig neue Kooperationsformen zwischen Wohnungslosen, Künstlern, engagierten Bürgern, Sozialarbeitern und einer Öffentlichkeit jenseits der üblichen Vorgaben der Sozialarbeit herzustellen. Außerdem bedarf Lobby- und Kulturarbeit einer sinnlich-konkreten Basis und Plattform - das gilt insbesondere für die Wohnungslosen selbst. In einem leerstehenden Gebäude ein Kulturhaus zu etablieren, wäre nicht einmal eine Besetzung, die nach den derzeitigen politischen Vorgaben sofort zu räumen wäre, es könnte die auf Dauer gestellte Generalprobe einer künstlerischen Inszenierung sein - im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, wenn sich denn die richtigen PartnerInnen dafür finden. So hochgestochen diese Idee vielleicht klingen mag, Elemente davon werden schon heute verwirklicht: In einigen bereits bestehenden Einrichtungen und (Theater-, Kultur-, Zeitungs-, Arbeits- und Wohn-) Projekten der Jugend- und Wohnungslosenhilfe, aber eben auch, und das darf nicht vergessen werden, in der Besetzung der Kastanienallee 71, im daraus entstandenen Wohnprojekt in der Lychener Straße und auch am Helmholtzplatz.


Das inhaltliche Programm einer solchen politisch-engagierten Kulturarbeit von und mit obdachlosen Jugendlichen ist längst geschrieben. Jonny G. RIEGER, der lange Jahre seines Lebens auf der Straße unterwegs war, hat es einst so formuliert: »Und wenn ich dann sagte: 'Seht, dieses Leben hier!' und jemand es sehen und wiedererkennen und etwas dabei fühlen und erleben konnte und wenn es den eingewurzelten Stumpfsinn nur ein wenig zu bewegen vermochte, dann hatte das alles hier einen Sinn gehabt.«


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